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Jovana Reisinger
Selbstoptimierung als Kampfstrategie

Laura, Verena, Petra, Barbara, Emma, Jolie, Lisa, Tina und Brigitte: Jovana Reisinger benennt ihre Protagonistinnen nach deutschen Frauenzeitschriften – und rechnet mit deren Selbstoptimierungsmaximen, dem Diktat des neoliberalen Kapitalismus und dem Sexismus unserer Gesellschaft ab.

Von Helena Matschiner

Reisinger: Spitzenreiterinnen © Verbrecher Verlag Der Roman Spitzenreiterinnen folgt einer Chronologie von 33 Episoden, die im Zeitraum der Monate Februar bis Juni Einblicke in die Lebensrealitäten der Protagonistinnen gewähren. Wie auch das Frauenbild, das Frauenzeitschriften aller Art propagieren, gehören die Protagonistinnen der Wohlstandsgesellschaft an, trinken mit und ohne Anlass gerne mal ein Gläschen mit der besten Freundin und genießen scheinbar das leichte Leben. Der Blick hinter die Fassaden offenbart jedoch, welch „subtiler Terror“ (Marie Schmidt in der SZ) hinter dem Aufrechterhalten dieses Frauenbildes steckt. 

„Nobody‘s perfect“ war gestern

Wie Mantras ziehen sich die Selbstoptimierungsmaximen durch den Roman: Laura, die mit 37 Jahren „endlich“ heiratet, ist erleichtert, dass sie aufgrund des Wohlstands ihres Zukünftigen niemals auf Lohnarbeit angewiesen sein wird. So kann sie ihre Zeit mit Online-Shopping (Dessous und Beautydrinks), mit Selbstbefriedigung (für straffere Haut und gegen Vagina-Depression – schließlich hat der Gatte gewisse Ansprüche) und mit der Inszenierung ihrer makellosen Ehe für Instagram verbringen.
 
Lisa erlaubt sich an ihrem 44. Geburtstag einen Ausraster, nachdem ihr Partner sie verlassen hat. Der Grund: Sie kann keine Kinder bekommen. In der Annahme, als Frau gescheitert zu sein, betrinkt sie sich und wirft im Delikatessenrestaurant Schnecken durch die Gegend. Doch auf diese Katharsis folgt schnell eine Phase der Selbstoptimierung: „Eine gute Figur machen. Genügend trinken. Performen.“ Weil „jeder seines eigenen Glückes Schmied ist“ bringt sie sich auf Vorderfrau und investiert in sich und ihren Körper, bevor sie schließlich mit neuer Stählung ihre Chancen auf dem Markt des Online-Datings testet.
 
Petra und Jolie repräsentieren in diesem Frauenreigen die jüngere – woke – Generation. Während Jolie am Internationalen Frauenkampftag demonstriert, kündigt Petra ihren Job, für den sie überqualifiziert und unterbezahlt ist. Aber trotz der vorhandenen Selbstreflexion haben auch sie die Dogmen der Schönheitsindustrie verinnerlicht: „Wer nicht schön ist, hat sich nicht genug angestrengt“, sinniert Petra, als sie ihre Augenringe im Spiegel betrachtet. Und obwohl sich Jolie im Job immer streng an die Vorgaben „freundlich auftreten, schön strahlen, nicken“ hielt, kann sie eine betriebsbedingte Kündigung nicht vermeiden.

Männer – omnipräsent

Männern will der Roman keinen Raum geben und betont dies, indem er ihnen keine Namen, sondern nur Anfangsbuchstaben zugesteht. Dennoch sind sie allgegenwärtig und wirken teils subtil, teils offensichtlich aggressiv auf das Leben der Protagonistinnen ein. Als D., der Mann von Barbara, stirbt, nachdem sie sich jahrzehntelang um ihn gekümmert hat, verfolgt sie seine Stimme weiterhin. Die Erkenntnis, dass zwar ihr Mann tot ist, sie aber noch lebt, setzt nur langsam ein. „Frauen unseres Alters haben die meiste Zeit mit Männern verbracht. Kannst du dir vorstellen, wie anstrengend das ist?“, erklärt sie der Tochter ihrer besten Freundin ihr neues Freiheitsgefühl.
 
In Tinas Fall ist das Zusammenleben mit ihrem Mann A. nicht nur anstrengend, sondern lebensgefährlich. Beim Versuch, sich vor seinen Gewaltexzessen zu retten, erfährt sie von Mitmenschen nicht nur Unterstützung, sondern auch Verachtung für ihre Situation.
 
Die Erfahrung der älteren Frauen mag dazu geführt haben, dass für Jolie und Petra Männer als (langfristige) Partner keine Rolle spielen. Sie teilen die Erfahrung, aus ihrem männlichen Umfeld als „hysterisch“ und „frigide“ beschimpft zu werden und sie ahnen, dass „gekränkte Männer Zeitbomben“ sein können. Daher haben sie sich Strategien erarbeitet, um ungewollte Flirtversuche von vornherein zu unterbinden und sich dem männlichen Blick bestmöglich zu entziehen.
 
Jovana Reisinger zeichnet ein Gesellschaftsbild, das mal überspitzt satirisch, mal brutal nüchtern daherkommt. Nicht immer schneiden die Protagonistinnen dabei gut ab. Aber es gibt auch optimistisch stimmende Momente: Die Freundschaft von Barbara und Emma, bei der Solidarität alles ist und Konkurrenz keine Rolle spielt, und die Entwicklung von Petra: Sie hat endlich keine Angst mehr davor, nicht ins System zu passen, und bricht in eine ungewisse Zukunft auf.

Klar wird mit diesem Buch vor allem eines: Es braucht Mut, Kraft und Solidarität, um sich von den verinnerlichten frauenfeindlichen Dogmen der patriarchalischen Gesellschaft und dem Leistungsdruck des neoliberalen Systems zu verabschieden.
 
Jovana Reisinger: Spitzenreiterinnen
Berlin: Verbrecher Verlag, 2021. 270 S.
ISBN: 978-3-95732-472-6

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Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank

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