Ein ungarisches Dorf
Was verdanken wir den Menschen in Szentlászló?
In seinem Buch Der erste Tastenanschlag schrieb Szabolcs Töhötöm Tóth, Journalist*innen würden von ihrer für jeden Menschen charakteristischen, leidenschaftlichen Neugier zur beruflichen Erfüllung getrieben. Die gleiche Neugier hat uns im September 2021 nach Szentlászló geführt.
Von dem kaum mehr als 800 Seelen zählenden Dorf wussten wir lediglich, dass es früher viele schwäbische Familien beherbergt hatte, und dass dort die Spuren der deutschen Kultur bis zum heutigen Tag zu spüren sind. Ironischerweise dauerte die Zugfahrt von Budapest nach Szentlászló genauso lang, als wären wir direkt nach Deutschland gefahren.
Nach unserer Ankunft sprachen wir durch, aus welchen Artikeln das Projekt Ein ungarisches Dorf bestehen sollte, und danach machten wir uns alle auf den Weg, um unsere Interviewpartner*innen und die Umgebung, in der sie leben, aufzusuchen. So haben wir die Familiengeschichte von Tante Marika kennengelernt, Einblicke in die Geheimnisse der Imkerei und der Chamäleon-Haltung erhalten und uns mit dem Alltag der Einheimischen vertraut gemacht, die – oft bei starkem Gegenwind – am Zusammenhalt der Gemeinschaft arbeiten.
Als Stadtmenschen war es für uns eine angenehme Überraschung, dass unsere ständige Fragerei bei niemandem auf Ablehnung stieß, ganz im Gegenteil: Unsere Interviewpartner*innen waren froh, endlich eine Zuhörerschaft gefunden zu haben. Obwohl wir von morgens bis abends Informationen über das Dorfleben gesammelt hatten, dauerte es Tage, bis wir begannen, bei den örtlichen Gegebenheiten durchzublicken. Beim Aufrollen des komplizierten dörflichen Netzwerks wurde unser kleines Team zusammengeschweißt; wir waren gegenseitig auf die neuen Entwicklungen unserer jeweiligen Reportagen genauso gespannt wie auf die für die zweite Wochenhälfte geplante Pferdekutschenfahrt ins Nachbardorf.
Trotz seiner kurzen Dauer hat uns das Abenteuer in Szentlászló zahlreiche Erfahrungen beschert, von denen wir unser ganzes Leben lang profitieren werden: Viele von uns haben zum ersten Mal als Mitglied einer Redaktion gearbeitet; zum ersten Mal haben wir gemeinsam an einem so verschiedenartigen Material parallel getüftelt; und dank Zsolt Bogár wurde uns zum ersten Mal ein professionelles Mentoring zuteil, aus dem uns mindestens so viele Lehren wie angenehme Erinnerungen erwachsen sind.
Die Projekt-Website Ein ungarisches Dorf konnte Ende Oktober komplettiert werden; hier wurden die von uns angefertigten Fotos, Videos, Interviews und unsere länger oder kürzer gefassten Artikel über das Dorf untergebracht. Jedoch endete unsere gemeinsame Geschichte mit Szentlászló nicht mit dem „Debüt“ der Website, da wir ja bald darauf erfuhren, dass die während der Feldstudie erstellten Materialien in einer Ausstellung gezeigt werden sollen. Die Eröffnung der Wanderausstellung fand am 27. Januar 2022 an deren erster Station, im „Tudásközpont“ (Wissenszentrum) von Pécs statt. Ich meine, ganz am Anfang des Projekts, als wir noch lediglich in unserer Fantasie den einen oder anderen Plan geschmiedet hatten, hätte keine*r von uns gedacht, dass die in Szentlászló entstandenen Artikel und Fotos einmal nicht nur online besucht werden können. An der Ausstellungseröffnung in Pécs nahmen drei Mitglieder unserer Journalist*innengruppe, der Projektleiter und Journalist Zsolt Bogár sowie zwei Mitarbeiterinnen des Goethe-Instituts – Evelin Hust, die Direktorin des Goethe-Instituts Budapest, und Judit Klein – teil. Dieses Ereignis rief in uns die Erinnerung an die in Szentlászló verbrachten Tage wach, und auch das Gefühl, was das alles für ein einzigartiges Erlebnis gewesen war. Wir hatten das Dorf als Journalismus-Studierende aufgesucht und konnten uns dank der Offenheit und Hilfsbereitschaft der dort lebenden Menschen ein Bild von Szentlászló verschaffen, den Dorfalltag und dessen Akteur*innen kennenlernen. Anlässlich der Eröffnung berichteten wir über den Hintergrund des Projekts, über die ideengebende deutsche Initiative Ein deutsches Dorf, über den Prozess, wie das Dorf ausgewählt worden war, schließlich auch über die Motivationen für das Projekt und über dessen Bedeutung. Angefangen von der Hinfahrt bis hin zur Publikation erforderte das Projekt eine äußerst umfangreiche Organisation, und dabei war uns das Goethe-Institut eine große Hilfe. Evelin Hust, die Direktorin des Instituts, ging bei der Eröffnung auch darauf ein, dass auch sie sich – wie viele von uns – völlig in das Projekt und in das Leben der Menschen in Szentlászló hineingezogen gefühlt hatte, und dass sie hoffe, dass in Zukunft weitere ähnliche Projekte verwirklicht werden. Zsolt Bogár, Leiter und Redakteur des Projekts, fügte hinzu, dass es nicht alltäglich sei, dass den Journalist*innen sogar mehrere Tage vor Ort zur Verfügung stünden, um einzelne Themen zu recherchieren – und erst recht nicht, um das Leben eines ganzen Dorfes abzubilden. Auch in dieser Hinsicht sei das Projekt Ein ungarisches Dorf etwas Besonderes. Der Bürgermeister von Szentlászló, Zoltán Pasztorek, war ebenfalls bei der Eröffnung anwesend und erzählte in seiner Rede, das Projekt habe einen Dialog unter den Dorfbewohner*innen in Gang gesetzt, und das sei auf jeden Fall positiv zu bewerten. Die Ausstellung kann bis zum 18. Februar im Wissenszentrum Pécs besucht werden, danach reist sie weiter zur nächsten Station in Szigetvár.