Margit Feischmidt | Ildikó Zakariás
Solidarität mit geflüchteten Menschen aus der Perspektive in Deutschland lebender ungarischer Frauen
In unserer aus zwei Teilen bestehenden Studie befassen wir uns mit der Beteiligung von Frauen an Aktivitäten in den Bereichen Wohltätigkeit und Solidarität. Wir stützen uns dabei durchgehend auf empirische soziologische Forschungen. Im ersten Teil der Studie haben wir untersucht, welche Rolle weibliche Eigenschaften bei von Mitgefühl gesteuertem Handeln spielen, und welche Bedeutung die Solidarität unter Frauen im Verhältnis zwischen geflüchteten Menschen und zivilen Helfern hat. Der erste Teil berichtete über Forschungsergebnisse bezüglich ziviler Flüchtlingshelfer in Ungarn. Mit unseren Auslegungen knüpften wir an einen Ansatz zur Betrachtung von Wohltätigkeit an, der davon ausgeht, dass die Helfer bestrebt sind, auch ihre Position in der Gesellschaft und ihre Identität anhand ihrer Philanthropie und Solidarität zu bestimmen.
Der hier vorliegende zweite Teil unserer Studie folgt insofern auf den ersten, dass wir auch hier – dem Thema des Dossiers entsprechend – über die Erfahrungen von Frauen schreiben. Wir bleiben beim Thema der transnationalen Solidarität bezüglich geflüchteter Menschen. Jedoch lotsen wir unsere Leser an einen anderen geografischen Ort. Diesmal untersuchen wir die Erfahrungen von Frauen, die auch selbst abgewandert sind bzw. ihr Zuhause verlassen haben. Unsere Interviewpartner leben seit längerem oder seit kurzem in Deutschland, stammen aber aus Ungarn.
Die Anzahl der geführten Interviews ist nicht allzu hoch, jedoch spiegeln die sich in ihnen abzeichnenden Lebenssituationen in mehrerer Hinsicht die Charakteristika einer gesellschaftlichen Gruppe von nicht geringer Größe wider. Untersucht man die transnationalen Beziehungen zwischen Ungarn und Deutschland, wird man auf die ständigen und intensiven Auswirkungen der Migration zwischen den beiden Ländern aufmerksam. Deutschland gehörte schon immer zu den wichtigsten Zielländern der Auswanderung aus Ungarn. 2010 wurden in der Ausländerstatistik der Bundesrepublik Deutschland knapp siebzigtausend ungarische Staatsbürger aufgeführt; die Zahl stieg bis 2017 auf über zweihunderttausend. Schätzungsweise 40 % davon sind Frauen.[1]
Quantitativ baute unsere Untersuchung auf einem Fragebogen auf, den wir zwischen Juni und August 2017 in den sozialen Medien geteilt haben. Die Fragen richteten sich an mindestens 18-jährige oder ältere Personen, die zum Zeitpunkt der Studie in Deutschland lebten oder mindestens die Hälfte ihrer Zeit in Deutschland verbrachten: Wir haben 639 gültige Antworten erhalten. 30,2 % der Personen hatten im Laufe ihres Lebens an Wohltätigkeits-Aktivitäten bezüglich Einwanderern teilgenommen (4 % der Befragten haben diese Frage nicht beantwortet). Die meisten (27,2 % des Gesamtmusters) hatten dies während der sog. „Migrationskrise“ oder danach getan, ein ebenfalls bedeutender Teil davon (26,3 % des Gesamtmusters) in Deutschland, während ein kleinerer Teil (15,2 % des Gesamtmusters) in Ungarn oder auch in Ungarn freiwillig Flüchtlinge unterstützt oder für sie wohltätige Aktivitäten ausgeführt hatte. Unter den an den Wohltätigkeits-Aktionen Beteiligten gab es 115 Personen (18 %), die freiwillig aktiv gearbeitet hatten (die anderen hatten Geld oder andere Güter gespendet). 55 Personen (8,6 % des Gesamtmusters) waren als bezahlte Arbeitskräfte bei der Unterstützung von geflüchteten Menschen in Deutschland aktiv gewesen. 62,8 % des Musters waren Frauen; das heißt, dass sie im Verhältnis zu ihrem Anteil an der gesamten Einwohnerzahl der in Deutschland lebenden Ungarn überrepräsentiert waren. Gleichzeitig aber konnte im Kreise der Befragten kein geschlechtsspezifischer Zusammenhang bezüglich der Hilfsbereitschaft festgestellt werden – wie sich aus den Antworten auf die Frage „Hätten Sie geholfen, wenn sich die Gelegenheit ergeben hätte?“ folgern lässt, waren Frauen und Männer gleichermaßen hilfsbereit.
Als Teil der Erhebung wurde in Berlin und München eine Feldforschung im Kreise der dort lebenden ungarischen Diaspora durchgeführt. Der vorliegende Beitrag basiert auf Interviews mit Menschen, die freiwillig oder in Form von bezahlter Arbeit mit nach Europa geflüchteten Menschen persönlich in Kontakt gekommen waren und ihre diesbezüglichen Erfahrungen mit uns teilten. Es sind 13 Frauen und drei Männer unter unseren Interviewpartnern aus Berlin, München und aus dem Umland von München. Die meisten sind junge Erwachsene oder mittleren Alters, einige von ihnen gehören aber zu den älteren Generationen. Sie haben einen hohen Bildungsgrad (meist einen akademischen Abschluss) und zeichnen sich durch eine hohe Aktivität auf dem Arbeitsmarkt aus (die überwiegende Mehrheit ist berufstätig, zu einem bedeutenden Teil ihrem Ausbildungsbereich entsprechend beschäftigt). In den meisten Fällen sind sie mit ihrer nach der Migration erreichten Situation zufrieden.
Lebensgeschichten ungarischer Wanderer
Drei Typen von Lebensgeschichten zeichnen sich anhand der sechzehn Interviews ab. Zum ersten Typus gehören diejenigen über fünfzig Jahre alten Personen, die während der Kádár-Ära oder Anfang der 90er-Jahre ausgewandert sind, also seit 30–40 Jahren in Deutschland leben. Sie erzählen ihr Leben aus der Perspektive der erfolgreichen Integration.Beim zweiten Typus ist es bereits so, dass die abstoßenden Kräfte eine stärkere Wirkung entfalten als die Anziehungskraft eines anderen Ortes. Hier geht es um Personen jungen oder mittleren Alters, die ihre berufliche Laufbahn in Ungarn begonnen und mehrheitlich in den Medien, in Kulturbetrieben oder im sozialen Sektor gearbeitet haben. Sie geben als Grund für ihre Auswanderung an, ihre Arbeit verloren zu haben, oder ihren Glauben daran, dass ihr Leben in Ungarn jeglichen Sinn haben könnte – und dies schreiben sie den Zuständen des öffentlichen Lebens zu, die in ihren Augen eine schlechte Richtung eingenommen haben.
Den dritten Typus bilden junge Leute zwischen 25 und 35 Jahren, die über gute deutsche Sprachkenntnisse, in vielen Fällen auch über einen Hochschulabschluss im Fach Deutsch verfügen. Sie sind infolge der Sogwirkung gewisser Segmente des deutschen Arbeitsmarktes ausgewandert und haben meist Anstellungen in Bereichen erhalten – in unseren Fällen vor allem in privaten oder öffentlichen Bildungseinrichtungen und in der Flüchtlingsversorgung –, in denen die Gehälter zwar niedriger sind als im deutschen öffentlichen Sektor, jedoch deutlich höher als in Ungarn. Darin besteht der Anreiz für Ungarn mit einschlägigem Abschluss und deutschen Sprachkenntnissen.
Die am längsten in Deutschland lebenden Interviewpartner haben sich gut integriert. Nichtsdestotrotz sprechen sie viel darüber, welch schwieriger und langer Prozess dies gewesen ist. Die Einwanderer der letzten Jahre sind meist jünger und haben hauptsächlich lokale Bindungen; sie fühlen sich besonders in den multikulturellen Bezirken der Großstädte wohl und sind – darüber hinaus – schwächer vernetzt. Gemeinsame Elemente in den Lebensgeschichten beider Altersgruppen sind die positiv bewerteten interkulturellen oder multikulturellen Erfahrungen, die sich während der frühen Sozialisation oder durch die studien- bzw. arbeitsbedingte transnationale Mobilität in das Weltbild unserer Interviewpartner eingraviert haben. Diese Erlebnisse und die Erfahrungen bei der Bewältigung der aus der Migrations-Situation resultierenden Schwierigkeiten werden eine bedeutende Rolle dabei spielen, wie unsere Interviewpartner die geflüchteten Menschen wahrnehmen, wie sie über sie denken.
Aktive Flüchtlingshilfe
Unsere Untersuchung konnte zwei gut unterscheidbare Typen der Arbeit mit geflüchteten Menschen bestimmen. Der erste besteht im wohltätigen Handeln und reicht vom einmaligen Spenden bis hin zum Mentorenverhältnis mit regelmäßiger Kontaktpflege. Diese Art von Tätigkeit kennzeichnet die länger in Deutschland lebenden und besser integrierten Personen; sie wird weniger von Einzelpersonen, sondern eher von zivilen Gruppen ausgeführt – zwei unserer Interviewpartner organisieren sogar selbst solche Gruppen. Die zum anderen Typus gehörenden Personen haben selbst als Freiwillige angefangen, tragen aber heute bereits als bezahlte Arbeitskräfte zur Flüchtlingsintegration bei – als Mitarbeiter von Sprachprogrammen, als Lehrer an Sprachschulen oder als Sozialarbeiter in Flüchtlingsheimen, Integrationsprogrammen.Einige unter unseren Interviewpartnern erzählten von ihrer Betroffenheit, und dass die weibliche Lesart der Flüchtlingskrise sie in besonderem Maße mobilisiert hat. Das Ausgeliefertsein und das Leiden der Frauen und Kinder hat sie tief erschüttert. Unser unten zitierter Interviewpartner ist eine in Deutschland unter mittelständischen Verhältnissen lebende Person, die selbst eine zivilgesellschaftliche Hilfsorganisation ins Leben gerufen hat, hauptsächlich zur Unterstützung der 2015 über die Balkanroute eingereisten Frauen und Kinder.
Und dann dachte ich mir: Okay, ich will als Erstes, dass zumindest die Kinder, die unterwegs sind, dass zumindest sie in Sicherheit sein sollen. Zumal ich anhand meiner eigenen Erlebnisse weiß, dass das ein ziemlich schlimmer Zustand ist. Besonders als Frau. Und dann fokussierte ich mich darauf, wie ich den Mädchen … die Reise leichter machen oder helfen kann. Und dann fingen wir an, solche Hilfspakete Richtung Serbien zu schicken. (…) Und so fingen dann die Leute an, sich zu organisieren. Und dann fand ich eine Truppe, die einmal nach Röszke fuhr, ich fand sie auf Facebook. Eine Person hat Spenden gesammelt. Eigentlich waren es zwei. Eine Deutsch-Niederländerin und eine Deutsch-Türkin. Und ich wollte eigentlich nur, dass sie auf die Mädchen und Frauen aufpassen, und dass sie wirklich versuchen für sie da zu sein, für sie zu handeln.
Ein Teil der in der deutschen Flüchtlingsversorgung arbeitenden Personen widmet den Ansprüchen und Reaktionen von Frauen und dem Kontakt mit ihnen besondere Aufmerksamkeit. Eine von ihnen spricht so darüber:
Das war dann auch zum Beispiel eine Super-Sache, als die Mütter reinkamen. Da haben sie sich hier untereinander unterhalten und mit meinen Mitarbeitern. Für viele war dies eine Stütze. Mit mir haben sie nicht gesprochen, weil die Frauen viel weniger gebildet sind und nicht Deutsch lernen. Gerade wegen der starken sozialen Unterschiede. Die Männer lernen Deutsch, weil sie sich sputen wollen, wenn es irgendwelche Weiterbildungen oder Arbeitsmöglichkeiten gibt. Aber die Frauen bleiben zu Hause, hier im Hangar mit den Kindern. Und so funktioniert ihre Integration in dieser Hinsicht natürlich viel schwieriger, denke ich. Aber die Männer müssen Deutsch lernen. Sie bewegen sich draußen.
Innerhalb der Gruppe gab es von vornherein mehr Jungs, das ist auch seitdem so. Es kommen sehr wenige alleinstehende Frauen. Es gibt eine Einrichtung in Charlottenburg wie die, wo auch Eszter arbeitet. Dort habe auch ich ein Frauenprojekt bekommen, und dann musste ich also die Frauen, die alleine kamen, aus den Heimen zusammensammeln, in denen sie wohnten. Da habe ich mit ihnen allerlei gemacht. Ein bisschen Ausflug, ein bisschen Museumsbesuch, ein bisschen Gespräch, ein bisschen Psychodrama, also: Wir haben alles ausprobiert. Es gab ein Projekt, es dauerte vier Monate. Unser Geld reichte für so lange. Und da wohnten Familienmütter mit 4–6 Kindern in den Heimen. Sie gebären ein Kind nach dem anderen, sie brauchen also praktisch keinen Kurs zu besuchen, weil sie entweder schwanger sind, oder einen Säugling auf dem Arm halten und stillen. Wenn sich das also nicht ändert, dann wird es schon eine gewisse Zeit dauern, bis wir sie integriert haben, weil sie wegen der sechs Kinder nicht einmal auf die Straße rauskommen.
Der Kontakt zu den Frauen weckt bei den Helferinnen oft weibliches Mitgefühl. Parallel dazu denken sie auch über die kulturellen Unterschiede und über die kulturspezifischen weiblichen Erfahrungen und sexuellen Verhältnisse nach; das alles wird reflektiert. Nicht beabsichtigte, jedoch wertvolle Details unserer Interviews zeigen die Spannungen der inneren Konflikte zwischen der Absicht einer Identifikation und der Erfahrung des Unterschieds. Auch die vertrauteren Verhältnisse sind mit dieser Erfahrung behaftet. Darüber berichtet die bereits zitierte Geschäftsfrau mittleren Alters, die seit Jahren einen Syrer unterstützt, damit er einen Aufenthaltsstatus bekommt und seine Familie ihm nach Deutschland folgen kann. Das nächste Zitat stammt aus dem Bericht über ihr erstes gemeinsames Abendessen:
Ich habe sie eingeladen – aus Rücksicht auf die Kinder diesmal nicht zum Abendessen, sondern zum Kaffee. Es war ein interessantes Erlebnis. Die Ehefrau hat ein ausgesprochen schönes Gesicht mit stolzem Blick; sie ist schlank, hoch und von guter Statur. Ihre Augen strahlen ein intellektuelles Selbstbewusstsein aus. Sie ist übrigens Architektin. Gekleidet war sie aber wie die ungelernteste Schicht der türkischen Gastarbeiter: ein Tuch, noch ein Tuch, ein kaftanartiger Mantel – also das war ein total traditionelles muslimisches Outfit. Meiner Meinung nach steht ihre ganze Körpersprache aber in Widerspruch zu ihrem Aussehen. In bin noch nicht so vertraut mit ihr, dass ich das hätte ansprechen können, aber das kommt sicher irgendwann. Und sie kamen mit den zwei Kindern, haben hier Kaffee getrunken. Die Tochter ist vier-fünf, der Sohn drei Jahre alt; weder die eine noch der andere spricht Deutsch, beide gehen in den Kindergarten bzw. zur Krippe. Und seit Januar ist die Frau mit den Kindern hier.
Vielleicht besteht das Dilemma nicht in erster Linie in den Kontakten zu den Frauen. Unsere Interviewpartner berichten oft von Missverständnissen und Kommunikationsschwierigkeiten, zu denen es während der Begegnungen mit Männern und Frauen gekommen ist. Die nächste Aussage stammt von einer Lehrerin. Sie hat sich besonders intensiv mit der Frage beschäftigt, wie man in einer Sphäre den Sprachunterricht effektiv gestalten soll, in der das Rollenverständnis und die Vorstellungen bezüglich des Lernens und des Lehrens, bezüglich der erlaubten und der erwarteten Methoden im Kreise der Teilnehmer sehr unterschiedlich ausfallen.
Ich unterrichte nur Frauen. Während meiner ganzen Laufbahn gab es insgesamt zwei Männer an der Zahl und diese haben sich sehr geschämt, mit so vielen Frauen in einer Gruppe zusammen sitzen zu müssen. Beide waren Pakistani, und der jüngere war sogar etwas verlegener als der andere. Er wurde sogar dann rot im Gesicht, als er mir Blumen mitbrachte, weil er seine Sprachprüfung bestanden hatte, und ich ihm dafür zwei Küsschen auf die Wangen gab. Ich war vollkommen achtlos, da er eben ein Muslim war. Meine draufgängerische Geste hat ihn konsterniert, dass er für eine Portion Blumen zwei Küsschen bekommen hat. Ja (sie lacht), das sind andere Gewohnheiten und Gewohnheitsrechte, also die sind unterschiedlich. (…) Also, es gibt auch welche, die sich nicht daran stören würden, wenn ich einen Stock hätte und damit um mich schlagen würde, wie das die Lehrer zu Hause machen. Ich musste des Öfteren erklären, dass die Lehrer in Deutschland keinen Stock haben, dass sie nicht herumschreien, dass sie nur um etwas bitten. Das sind Prägungen, die man nur sehr schwer verstehen kann. Eine Schülerin von mir, eine Kurdin, erzählte, dass sie eine arabische Schule besucht hatte. Damals, als sie jung war, hatte es noch keinen Unterricht auf Kurdisch gegeben. Wir reden also jetzt nicht von Kurdistan, sondern von **, wo die Lehrer Araber waren, und sie erzählt, dass sie dort mehrere hundert Schläge auf die Fingernägel bekommen hatte. Hatte man etwas nicht verstanden, wurde man vom Lehrer verprügelt.
Das sind die Situationen, in denen man die „kulturelle Karte“ ziehen könnte. Das heißt, es wäre naheliegend – insbesondere in einer mit kulturellen Fundamentalismen belasteten Sphäre –, dass der Interviewte die Unterschiede als absolut betrachten und im Hinblick auf die Möglichkeit einer Verständigung skeptisch werden könnte. Das aber passiert im Allgemeinen doch nicht.
Kulturelle Unterschiede
Die von uns befragten, in Deutschland lebenden Ungarn tragen unterschiedliche Argumente gegen eine Betrachtungsweise vor, bei der die bei den geflüchteten Menschen wahrnehmbaren kulturellen Unterschiede als absolut erscheinen könnten. Die erste Argumentation ist politisch bedingt: Unsere Interviewpartner halten sich bewusst von jenen politischen Diskursen (ungarischen wie deutschen gleichermaßen) fern, die sich der Behauptung der Unvereinbarkeit der Religionen bedienen, um Angst zu schüren und Flüchtlinge abzulehnen. Sie identifizieren sich mehrheitlich mit der Politik der sozialen Eingliederung und mit der öffentlichen Meinung in Deutschland. Anhand ihrer in den humanitären Projekten und Integrationsprogrammen gesammelten persönlichen Erfahrungen weisen sie dennoch auf die übertriebenen Simplifikationen der „Willkommenskultur“ und auf die Fehler des kulturellen Fundamentalismus gleichermaßen hin.Klar spürt man die Unterschiede. Auch wir nahmen an der Schulung teil, wo man uns erklärte, wie die Regeln in Afghanistan sind, ja, dass es verboten ist, einer Frau die Hand zu geben, mit einer Frau im selben Wagen zu fahren, was weiß ich, was noch. Diese Dinge gibt es offensichtlich. Ich meine aber, dass die Menschen auf der einen Seite vielfältiger sind. Würde ich jetzt auch in Ungarn vorlesen, was im Gesetz steht, da gibt es natürlich einen Unterschied, die Gesellschaft dort ist völlig anders, repressiv. Ich sage nur, dass die Menschen nicht unbedingt allem entsprechen. Andererseits befinden sich aber auch sie, wie alle Generationen, in ständiger Interaktion. Sie passen sich allen möglichen Sachen an. Das Beispiel des verbotenen Händedrucks habe ich jetzt nur deshalb gebracht, weil es bei uns afghanische Jungs gab, die sich an uns wandten. Jeder kam so, dass er mir zuerst die Hand schüttelte, und dann haben wir uns unterhalten. Gut möglich, dass ihm durch den Kopf ging, dass die Frauen blöd sind. Das ist sein gutes Recht, jedoch hat er sich absolut nicht unrichtig verhalten in der Situation am Arbeitsplatz; er war nicht aufdringlich, ganz im Gegenteil.
Eine andere Methode zur Auflösung der bei der Interaktion mit geflüchteten Menschen erfahrenen Widersprüche ist, während der Erzählung die Aufmerksamkeit von den Unterschieden auf die Ähnlichkeiten zu lenken. So gerät die eigene Migrationserfahrung des Erzählers in den Vordergrund und die zwangsweise erfolgte Migration geflüchteter Menschen wird dazu als Parallele herangezogen. Gemeinsames Element der Migranten-Schicksale ist die Fähigkeit, Schwierigkeiten zu bewältigen. Die harte Arbeit, die Ausdauer. Die aus der eigenen Leistung resultierenden Verdienste bilden den gleichen Rahmen, wie wir das schon bei unserer vorhin zitierten Interviewpartnerin erlebt haben: die neben ihrem Mann sitzende schweigsame Frau, in deren Gesicht wir die Züge eines studierten Menschen erkannt haben. Unsere nächste Gesprächspartnerin betont die Wichtigkeit der Leistung noch entschiedener, unter Vorbehalt der Möglichkeit einer Ausgrenzung.
Ja, schon vom Anfang an habe ich [ihr Schicksal mit meinem eigenen] verglichen. Angefangen damit, dass alle Frauen, die [mit mir] gleichaltrig sind, schon zwei-drei Kinder hatten. Ich weiß nicht, wie die anderen [Sozialarbeiter] das machen. Ich sage aber nur, mir fällt es immer ein, was ich machen würde, und genau deshalb kann ich vielen Menschen gegenüber auch Kritik üben. Wenn ich das geschafft habe, mein Vater das geschafft hat, dann komm mir nicht mit solchen kleinlichen Sachen.
Die ungarischen Helfer werden natürlich auch mit den Schwierigkeiten und Fehlschlägen konfrontiert, zu denen es während des alltäglichen „Kampfes“ kommt. Während der Interviews weichen sie auch dann nicht aus, wenn Erfahrungen mit Schwierigkeiten zur Sprache kommen. In deren „Einrahmung“ bekommt die Vergangenheit eine deutende Rolle – die Verfolgung, der Krieg, die Traumata, durch die die geflüchteten Menschen als Opfer charakterisiert werden. Durch das Opfer-Narrativ werden Einzelpersonen sowohl von der Last der persönlichen Verantwortung als auch von der der kulturellen Andersartigkeit befreit. Zugleich ermöglicht das Opfer-Narrativ den Helfern, ihre emotionalen Reaktionen zu formulieren. Anhand des nächsten Zitats zu einem Fall, bei dem sich die Möglichkeit einer kulturalistischen Argumentation anbietet, merkt man deutlich, wie sich die Zitierte trotzdem dafür entscheidet, die Erzählung in den Deutungsrahmen eines medikalisierenden Opfer-Narrativs zu verlagern.
Wir haben sehr viele Frauenprogramme organisiert. Manche sind gut gelungen, aber meist nur diejenigen, bei denen die Frauen mitsamt den Kindern einkalkuliert wurden. Ist ja auch egal, sie kamen oft nicht, oder nur ganz wenige. Klar gibt es auch kulturelle Gründe, auch die Männer gehen übrigens vielerorts nicht hin, aus Faulheit, oder weil sie depressiv sind. Jede Menge Menschen sind offensichtlich depressiv, ich meine das im medizinischen Sinne. Es würde schon ausreichen, wenn du nur deine Wohnmöglichkeit verlierst, aber sie haben ihr ganzes Hab und Gut verloren.
Die von den erwarteten Mustern abweichende Verhaltensweise, über die unsere Interviewpartner in den meisten Fällen in Bezug auf die Geschlechterrollen berichten, dient nicht als Rechtsgrundlage für die Rücknahme von Hilfeleistungen. Jedoch wird die Fürsorge mit dem Gedanken der Erziehung als Zivilisationsmaßnahme verknüpft. Der Staat überträgt nach dieser Vorstellung den wohltätigen Helfern die Aufgabe, die – oft muslimischen – Asylbewerber aus dem Nahen Osten und Afrika dazu zu bewegen, die Werte, das Normsystem und die Verhaltensmuster der „europäischen Kultur“ zu übernehmen. Die Interviews belegen, dass diese vermeintliche Aufgabe von unseren Interviewpartnern ungarischer Abstammung auf eine Weise erfüllt wird, dass sie dabei ihre auf säkularen und liberalen Normen beruhende europäische Identität, und auf dieser Grundlage ihre Verbundenheit mit der deutschen Gesellschaft bestärken. Eine Sozialarbeiterin berichtet darüber wie folgt:
Wir haben ihnen gesagt: Kommt nicht, um uns als Deutsche kennenzulernen. Oder eben mich als Nicht-Deutsche. Vielmehr möchten wir euch kennenlernen, wir möchten erfahren, was eure Bedürfnisse sind. Wo können wir helfen? Wo habt ihr Schwierigkeiten? Wir haben auch viele Frauen eingeladen, die tatsächlich schon etwas erreicht haben, damit die Neuankömmlinge sehen, wie sie leben. Wir sagen nicht, dass du auch so werden musst. Wir sagen nur, schau hin, das gibt es auch, so leben wir. Ihr Leben ist nicht so vielfältig. Klar, sie sind Familienmütter, haben fünf-sechs Kinder, müssen kochen, waschen, einkaufen. Wir versuchen ihnen verschiedene Modelle aufzuzeigen: Es geht auch ohne Kind, oder es geht auch mit drei Kindern, aber so, dass ich auch dann mein Berufsleben habe, und mein Mann trägt seinen Teil dazu bei. Man kann auch als Geschiedene leben, oder als Lesbe, man kann alles sein, es gibt also für alles eine Möglichkeit. Worin beispielsweise Berlin sehr gut ist, dass es hier wirklich alles gibt, alles hat eine Daseinsberechtigung und eine Legitimität. Jede Form der Andersartigkeit wird akzeptiert. Natürlich innerhalb der Grenzen der Vernunft. Wir wollen erreichen, dass sie diese Farbenvielfalt sehen.
Durch das Sprachenlernen wird eine Bindung zu einer Kultur aufgebaut, meint diese Lehrerin:
Man taucht damit praktisch in die deutsche und in die europäische Kultur hinein. Meine Aufgabe ist, mit ihnen die ersten Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Das ist eine schöne, noble Aufgabe, die man ernst nimmt. Und man macht sich Gedanken darüber, welche Rolle man in einer solchen Welt einnehmen kann. Wir unterrichten nicht nur die Sprache, sondern auch alles andere. Wenn also die Flüchtlinge irgendwelche Probleme haben, ob zum Beispiel gesundheitliche, oder welche Geschlechtskrankheiten es gibt, ich schaue nach und bin bemüht zu antworten. Die einfachsten, banalsten Dinge, wie man beispielsweise mit der Kreditkarte Geld abheben kann, all das sind sie nicht wirklich gewohnt, weil die Männer das Geld verwalten.
Obenstehend haben wir den Versuch unternommen, die Ansichten der in der deutschen Flüchtlingsversorgung bezahlt oder freiwillig arbeitenden Menschen – mehrheitlich Frauen – darzulegen: über die Geschlechterrollen in der Gesellschaft, über das Ausgeliefertsein, über die Abhängigkeit oder eben über Handlungsspielräume der Frauen – am Beispiel der Klientinnen oder Kursteilnehmerinnen, die von den Helfern betreut wurden. Wir haben festgestellt, dass die Helfer in ihren Berichten die strebsamen, fleißigen, lernwilligen, arbeitsamen und arbeitswilligen Asylbewerber in den Mittelpunkt stellen. Sie erzählen mit Empathie über den alltäglichen Kampf der Asylbewerber und erinnern sich dabei oft an ihre eigenen Migrationserfahrungen. Zugleich werden die Identifikationsmöglichkeiten durch die Erfahrungen oder Vorstellungen der Helfer bezüglich der kulturellen Unterschiede – insbesondere die mit der muslimischen Religion verbundene Ungleichheit der Geschlechter – eingeschränkt. Die Abhängigkeit der Frauen, das mit der Rolle der Frau verbundene Ausgeliefertsein, stellen für unsere Interviewpartner ein Verhaltens- und Wertesystem dar, das sie im Rahmen ihrer Arbeit als Lehrer oder Sozialarbeiter umgestalten wollen. In dieser Rolle der Disziplinierung bestärken die Sozialarbeiter und Lehrer aus Ungarn ihre europäische Identität und, damit verbunden, ihre Verankerung in der integrativen deutschen Gesellschaft. Diese Dualität – das Gefühl der Identifikation und der Empathie in Bezug auf die Bewältigung der Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, des Weiteren die Erkenntnisse über die kulturellen Unterschiede in den Geschlechterrollen und im hierarchischen Denken, woraus bei den Helfern eine erzieherisch-disziplinierende Einstellung resultiert – verleiht den aus Ungarn stammenden, in Deutschland in der Flüchtlingsversorgung freiwillig oder gegen Bezahlung arbeitenden Helfern eine Art Vermittlerrolle.
Quellen
Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus – Fachserie 1 Reihe 2.2 – 2017, Statistisches Bundesamt (Destatis), 2018, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund2010220177004.pdf?__blob=publicationFile, Letzter Abruf: 13.2.2019