Zsófia Frazon
Schürze und Hauskleid
„Küche in Joláns Wohnung / JOLÁN (Sie ist weder schön noch hässlich. Eine mitgenommene, alterslose Frau um die vierzig. Oder zwanzig. Oder sechzig. Müde und abgeschlafft taumelt sie aus ihrem Zimmer hervor, im Nachthemd oder Häschen-Pyjama und gesteppten Hauskleid mit Blumenmuster. [...] Die Küche ist lediglich angedeutet, vielleicht durch einen Hocker, aus dem Sokol-Radio sind die Morgennachrichten zu hören, der Gaszähler rattert, es gluckert aus dem Kaffeekocher.)” – schreibt Lajos Parti Nagy in der zweiten Szene seiner musikalisch-tänzerischen „Huserette“ mit dem Titel Bahnstation Ibuschar. Ich habe die Instruktionen des Autors sogleich lebendig vor Augen, obwohl ich die Szene nicht sehe, sondern nur den Text lese. Ich denke an einen einem musealen Interieur ähnelnden Raum, in dem das alltäglich Erlebte verdichtet wird. Dafür werden individuell erscheinende, typische Gegenstände eingesetzt. Im Theater ist all das in Bewegung (Kostüme, Bühnenbild), das museale Interieur hingegen ist starr und panoptikumartig: Es erzeugt Steifheit und Stillstand, es „bewegt” die Gegenstände auf andere Weise, und zwar vor allem auf intellektueller Ebene. Häschen-Pyjama; gestepptes Hauskleid mit Blumenmuster; Hocker, Sokol-Radio, Gaszähler und Kaffeekocher. Das alles sind eins zu eins Schichten eines imaginären Haushalts. Mittendrin Jolán – Metapher für die Sehnsucht nach dem Ausbrechen. Sie trägt ein Hauskleid – wenn es gesteppt wäre, würde man es eher als Morgenrock bezeichnen.
Vergänglichkeit und Formlosigkeit
Bedeutungsvolle, komplexe Bestandteile der alltäglichen Gegenstandskultur werden als wichtige Gegenstände betrachtet, denn sie verfügen über eine charakteristische Form und einen starken Symbolcharakter. Selten jedoch denkt man in diesem Zusammenhang an vergängliche, ephemere oder formlose Gegenstände. Dinge mit Bedeutung und Bedeutsamkeit, so meint man, stechen aus dem alltäglichen Gegenstandsuniversum hervor. Ethnografie und ethnografische Museologie hingegen verknüpfen ganz offen den Symbolcharakter mit Alltäglichkeit, die Bedeutsamkeit mit Vergänglichkeit und den komplexen Charakter mit Formen und Materialien, die man auf Anhieb vielleicht nicht in die Kategorie „besonders wichtige Dinge” einordnen würde. Das Hauskleid als Begleitgegenstand der Hausfrau und der Hausarbeit gehört zu ebendiesen charakteristischen und dennoch „formlosen” Gegenständen.
HAUSKLEID – Das ungarische Wort für Hauskleid ist „otthonka”, die vielleicht sogar als geistreich anmutende Verniedlichungsform des Wortes „Heim“; zugleich ist „otthonka“ ein rätselhafter Begriff, denn nicht geklärt ist die Frage, ob entweder das Kleidungsstück oder die Hausfrau als seine Trägerin verniedlicht wird: das Heimchen. Die Lautgestalt dieses Wortes lässt beinahe automatisch eine vertraute Form samt vertrautem Muster erklingen: ein vorn zugeknöpftes, ärmelloses Überkleid mit zwei Taschen, das ungefähr bis zu den Knien reicht und von Blumen- oder Fleckenmustern geziert und meistens aus Nylon gefertigt ist. Leicht und durchsichtig, sichtbar und unsichtbar, greifbar und ungreifbar, alt und neu. Einen allgemeinen Typus hat praktisch jeder von uns vor dem geistigen Auge, ein konkretes Exemplar jedoch kaum jemand.
Wir kennen weder den Beginn noch die Dauer der Karriere des Hauskleides als Gebrauchsgegenstand. Sowohl der Entstehungszusammenhang als auch der Designer und Fabrikant des ersten Exemplars sind uns nicht bekannt – beziehungsweise erscheinen sie uns etwas rätselhaft. Als Trägerin stellt man sich im Allgemeinen eine ältere Dame vor – obwohl es das Hauskleid auch in Kindergrößen gibt. Lajos Parti Nagy bezeichnet es an einer Stelle als „szaladgálati asszony-ruha“ – ein Wortspiel aus „szolgálati ruha", zu Deutsch Dienstkleidung, und „szaladgál“, zu Deutsch herumrennen, gemeint ist also quasi eine Dienstkleidung für die (ältere) Frau, in der sie geschäftig herumwuseln kann – beziehungsweise als Attribut von „elnéniesedés“ – was auf Deutsch so viel bedeutet wie „zum alten Weiblein werden“ – („eine mitgenommene, alterslose Frau um die vierzig. Oder zwanzig. Oder sechzig.”); der Humorist Tibor Bödőcs nannte das Hauskleid „Folienzelt des menschlichen Körpers”. Das Bild der ein Hauskleid tragenden älteren Dame beziehungsweise das Ausgangsmaterial Nylon sind Bestandteil unseres Alltagswissens, ansonsten würden weder Witz noch Ironie funktionieren. Bewegt man sich nicht aus diesem Bereich heraus, dann bleibt die zähe Nostalgie: Wir tunken das Hauskleid-Phänomen in eine bittersüße Glasur und hängen ihm das Etikett „Retro” um, dann wird es in ein Regal mit der Aufschrift „Ü-60” gelegt, wo es auch heute problemlos für ältere Damen zugänglich ist, sodass sie es einfach aus dem Regal nehmen und tragen können. Geben wir der Nostalgie nicht nach und überschreiten die Grenzen des Gegenstandes, so tun sich andere Schichten und Welten auf.
Privater und öffentlicher Raum
Ohne die Rolle der Schürze in der bürgerlichen und bäuerlichen Tracht ausführlicher zu analysieren, betrachten wir sie nun aus einer funktionalen Sicht: als praktische Schutzkleidung bei der Hausarbeit, welche jene Person sichtbar macht, die die Hausarbeit verrichtet. Gleichzeitig ermöglicht ihr die Schürze – ohne sich umzuziehen – aus dem Kontext der Hausarbeit herauszutreten, hinein in andere, schmutzfreie, repräsentative Räume und Sphären des Heimes. Eine Schürze trägt jene Person, die sich zwischen den unterschiedlichen Heimwelten beziehungsweise zwischen privaten und öffentlichen Settings bewegt. Sofern diese Schürze keine spezielle Schürze, wie beispielsweise die einer Köchin, eines Metzgers oder eines Schmids, und auch keine Einheitskleidung/Uniform, wie von Zimmermädchen getragen, ist, sondern lediglich die einer zu Hause arbeitenden Frau, treten wir ein in den unsichtbaren weiblichen Raum der Hausarbeit, aber auch in die Alltagswelt der Schutz- und Arbeitskleidung. Doch Schürze und Schürzenkleid haben auch den Weg auf die Straßen gefunden. In einer gegebenen historischen Situation kam ihnen ein definierter und demonstrativer Charakter zu: Neben ihrer Rolle in der Mode und bei Feierlichkeiten wurde auch ihr politischer Charakter sichtbar. Bei den Straßenkämpfen der Suffragetten und den ihre Stimme für die Chancengleichheit von Frauen erhebenden Frauenorganisationen Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts waren – neben dem Fahrrad, welches das Symbol der Mobilität, der Freiheit, der freien Raumnutzung und der modernen Lebensform war – die Schürze und das Schürzenkleid die prägende Tracht der Demonstrationen – zusammen mit Hut und Regenschirm, Sandwich-Board, Banner und Anstecknadel. Im Konzept der damaligen patriarchalen bürgerlichen Gesellschaft waren der von Männern dominierte öffentliche Raum und der Frauen vorbehaltene private Raum Parallelwelten, die häufig durch eine unüberwindbare metaphorische Mauer getrennt waren. In diese Mauer schlugen dann die Frauen erste Löcher, indem sie auf die Straße gingen, um für den gleichen politischen und rechtlichen Status von Frauen und Männern zu kämpfen; ihre Reformforderungen umfassten jedoch auch die Meinungsfreiheit, Fragen der Arbeits- und Karrieremöglichkeiten, sowie das Selbstbestimmungsrecht von Frauen, die Scheidungsgesetze und die Entscheidungsfreiheit von Frauen.
'The Suffragette Housemaid' 1908, (1933) | Suffragette-Kampagne für das Wahlrecht | © dpa Die Schürze durchlief in dieser historischen Situation einen radikalen Wandel: Sie schuf einen Raum der Kritik. Einen solchen, den Morgenrock oder Schlafrock niemals erschaffen konnten – obwohl diese Kleidungsstücke weniger Teil der Arbeitswelt waren als vielmehr des Ausruhens und der Freizeit. Das Hauskleid entspricht zwar funktional gesehen der Rolle der Schürze, dennoch war es nie Ausdruck von Kritik. Vielleicht gerade deshalb, weil es so unsichtbar, vergänglich und schwer ins Gedächtnis zu rufen ist. Oder vielleicht aufgrund seiner Formlosigkeit, seines Stoffes und seiner Farbe? Oder weil es an der Peripherie der Gesellschaft angesiedelt ist? Vermutlich haben all diese Faktoren die Beurteilung des Hauskleides in allen Epochen gleichermaßen beeinflusst. Das periphere Dasein des Hauskleides spiegelt deutlich jene Denkweise wider, welche der von Frauen verrichteten Hausarbeit eine periphere Position zuweist. So wie das Hauskleid unseren Augen verborgen bleibt, so sind wir auch gegenüber der von Frauen verrichteten Hausarbeit blind – und bleiben ihr Anerkennung schuldig, zumindest auf gesellschaftlicher Ebene.
Vor einhundert oder einhundertzwanzig Jahren kämpften die Suffragetten und ihre Anhängerinnen für die Gleichberechtigung von Frauen. Dafür, dass Frauen wählen, studieren, arbeiten und ohne das Einverständnis ihrer Väter und Ehemänner selbst über ihr Leben entscheiden dürfen. Heute ist die Frage nicht mehr „Arbeit oder Familie?“, denn wir wissen, dass die beiden einander nicht ausschließen, sondern die Frage ist vielmehr „Familie oder eigene Karriere?“. Unter Karriere ist hier nicht nur gemeint, ob eine Frau Top-Managerin, Firmenchefin oder Staatspräsidentin sein, sondern, ob sie sich eine eigene berufliche Existenz aufbauen kann, für die ihr genügend Zeit, Kreativität und freie Kapazitäten bleiben – und zwar neben dem Familienleben, der Hausarbeit und der Betreuung der Kinder und betagten Eltern. Denn diese Aufgaben sind zwar nicht ausschließlich, anhand der Studien jedoch sehr wohl auch heute noch größtenteils Frauensache innerhalb der Familie. Die Untersuchung und Verhandlung dieser Aufgaben im öffentlichen Raum ist heutzutage jedoch nicht mehr an eine charakteristische Bekleidung, wie beispielsweise die Schürze, geknüpft, welche früher zur symbolischen Verdichtung der häuslichen Tugenden geeignet war. Das Hauskleid, als Schürze der heutigen Zeit, trägt dieses Potenzial nicht mehr in sich.
Peripherie, Kunst, Design
Das Hauskleid ist an die Peripherie geraten. Angesichts von Nostalgie, Witz und Ironie wird es sich da auch nicht mehr herausbewegen, sondern vielmehr dort hängen bleiben. Die peripheren kolonialen Räume lassen das Hauskleid nicht los, sie halten es gefangen. Die Frauen, die es getragen haben und es auch heute noch tragen, haben diese Stimme nie erklingen lassen – die Stimme des Hauskleides bleibt stumm. Die alltägliche Realität des Hauskleides befindet sich in einer unüberbrückbaren Entfernung zu einem kritischen Ansatz angesichts gesellschaftlicher Ungleichheiten. Zumindest in Ungarn. Das Hauskleid wurde nie zum heroischen Gegenstand oder politischen Statement. Es ist innerhalb der eigenen vier Wände verblieben.
Die sonderbare Spannung des häuslichen Lebens – seine Unsichtbarkeit und gleichzeitig sein evidentes Dasein – spiegelt auch die Videoinstallation von Lilla Szász mit dem Titel Sunday Afternoon (2013-2019) wider. Das fast viertelstündige Werk verewigt über mehrere Jahre hinweg die typischen Sonntagnachmittage der Großeltern der Künstlerin. Sie sitzen einfach auf einer Bank im Hof ihres Hauses und unterhalten sich: über die Nachbarn, über die Zeitung, über die Ernte, über die Verwandten. Woche um Woche, Jahr um Jahr. Die Themen und die Szene ändern sich kaum. Die Bilder des Videos sind stilllebenartig: eine Bank zwischen Tür und Fenster, Kübel und Flaschen auf dem Boden, das ältere Ehepaar sitzt im Halbschatten, auf ihren Gesichtern und Kleidern der Schatten der Blätter. Die ältere Dame trägt eine Freizeithose, ein Polo-Shirt und darüber ein Hauskleid, der ältere Mann eine Freizeithose, ein Hemd, ein Strickgilet, eine Strickweste und eine Baseballkappe. Es ist, als würde man gar kein Bild sehen, sondern ein Gefühl fühlen. Die Trachten des häuslichen Lebens – das heißt, des ständigen Arbeitens einerseits und des Ausruhens andererseits – sehen wir in ähnlichen Rollen wie in der Huserette von Lajos Parti Nagy. Was allerdings den Bildern der Videoinstallation nicht innewohnt, ist die Ironie. Die Bilder sind stilllebenartig, aber dennoch nicht theatralisch, sie heben keine Details hervor, sie lassen die Zeit langsam verstreichen, und lassen dabei den Zuschauer ganz nah an den Alltag heran. Sie heben jene von Arbeit und ständiger häuslicher Tätigkeit bestimmte Sphäre hervor, in der sich der Werdegang des Hauskleides vollzogen hat.
Exponatenfoto des von der polnischen Künstlerin Marta Frej entworfenen TATUUM Kleides sowie ein Ausschnitt vom Stoffmuster mit Suffragetten. | Foto: Kerekes Zoltán © Goethe-Institut Budapest