Heinrich von Kleist
Der Sündenfall der Sprache
Amphitryon im Nationaltheater Budapest | Foto: Nemzeti Színház
Während Kleist 1806 in Königsberg am Text des Zerbrochenen Kruges schrieb, war er oft im Haus des Philosophieprofessors Krug zu Gast. Der Professor war Kants Nachfolger an der Universität Königsberg, und seine Gattin war, vermutlich nicht ganz zufällig, Wilhelmine von Zenge, die einstige Braut von Kleist. Kleist hatte also anscheinend jeden Grund, diesen Krug namens Krug zu zerbrechen.
Sophokles und die Bibel
In seiner Vorrede zum Stück schreibt Kleist: „Ich nahm die Veranlassung dazu aus einem Kupferstich, den ich vor mehreren Jahren in der Schweiz sah.” Es lohnt sich, vor allem die zentrale Szene in jenem Stich zu betrachten, wie sie von Kleist beschrieben wurde: „Man bemerkte darauf – zuerst einen Richter, der gravitätisch auf dem Richterstuhl saß: vor ihm stand eine alte Frau, die einen zerbrochenen Krug hielt, sie schien das Unrecht, das ihm widerfahren war, zu demonstrieren: Beklagter, ein junger Bauerkerl, den der Richter, als überwiesen, andonnerte, verteidigte sich noch, aber schwach: ein Mädchen, das wahrscheinlich in dieser Sache gezeugt hatte (denn wer weiß, bei welcher Gelegenheit das Deliktum geschehen war) spielte sich, in der Mitte zwischen Mutter und Bräutigam, an der Schürze; wer ein falsches Zeugnis abgelegt hätte, könnte nicht zerknirschter dastehn: und der Gerichtsschreiber sah (er hatte vielleicht kurz vorher das Mädchen angesehen) jetzt den Richter mißtrauisch zur Seite an, wie Kreon, bei einer ähnlichen Gelegenheit, den Ödip. Darunter stand: der zerbrochene Krug.”Man achte auf den beiläufig eingefügten Hinweis auf Ödip – man sollte ihn ernst nehmen, da die Ausgangssituation des Stückes (der Richter als Täter) und sein analytischer Aufbau sowohl in seinen Einzelheiten als auch in seiner Ganzheit genau der tragischen Ausgangssituation und dem Aufbau bei Sophokles entsprechen. Daraus ergibt sich die Frage, warum Kleist für seine Komödie ein tragisches Vorbild, noch dazu ein dermaßen bekanntes und dermaßen bedeutungsvoll tragisches, wählte.Babylonisches Sprachgewirr
Der Sündenfall ist in diesem Fall nicht nur der des Leibes, sondern mindestens in dem Maß auch der des Gedankens und letzten Endes auch der Sprache. Der Schlusssatz der 1. Szene macht uns darauf aufmerksam, dass wir uns bereits am Anfang der Handlung im Zustand des babylonischen Sprachgewirrs befinden: „LICHT. Das sag ich auch. ADAM. Nun denn, so kommt Gevatter, / Folgt mir ein wenig zur Registratur; / Die Aktenstöße setz ich auf, denn die, / Die liegen wie der Turm zu Babylon.”Worin besteht nun eigentlich das babylonische Sprachgewirr, oder, metaphorisch gesprochen, der Sündenfall der Sprache? Die 1. Szene beantwortet auch diese Frage: „LICHT. Ihr stammt von einem lockern Ältervater, / Der so beim Anbeginn der Dinge fiel, / Und wegen seines Falls berühmt geworden; / Ihr seid doch nicht –? / ADAM. Nun? / LICHT. Gleichfalls –? / ADAM. Ob ich –? Ich glaube –! /Hier bin ich hingefallen, sag ich Euch. LICHT. Unbildlich hingeschlagen? / ADAM. Ja, unbildlich. / Es mag ein schlechtes Bild gewesen sein.”Die Stelle ist für uns gleich unter zwei Aspekten interessant: zum einen, weil sie unzweideutig über den oben erwähnten Zusammenhang zwischen dem Sündenfall des Leibes und dem der Sprache berichtet; zum anderen, weil sie das Problem nicht nur veranschaulicht, sondern auch beim Namen nennt. Demnach besteht das Problem in nichts anderem als in der Ununterscheidbarkeit der eigentlichen und der bildlichen Rede: In der Welt des Stückes kann keiner vom anderen wissen, ob er in einem bestimmten Augenblick des Dialogs unbildlich oder bildlich redet.
Die in der Kleistliteratur so oft gewürdigte Lügekunst des Dorfrichters Adam ist eigentlich nichts anderes, als die virtuose Ausnutzung dieses Umstandes für die eigenen, zum jeweiligen Augenblick aktuellen Ziele.
Gibt es aber einen Ausweg aus dem Sprachgewirr, und wenn ja, wie kann man ihn finden? Zur Beantwortung dieser Frage schafft das Stück mit Hilfe der Ausgangssituation des Gerichtsprozesses sozusagen die experimentellen Umstände. Der zerbrochene Krug nämlich ist ein ’Prozess’, und zwar im doppelten Sinn des Wortes: Es ist ein Gerichtsprozess, in dessen Verlauf das Problem von Sprache und Rede zum Problem der Wahrheit wird; und es ist ein Vorgang, nämlich ein Sprechvorgang; denn während des Gerichtsprozesses ist Sprechen das einzige Mittel, das den Streitparteien zur Wahrheitsfindung zur Verfügung steht.
Kann uns also die fehlbare Sprache, das mit sich selbst entzweite menschliche Sprechen zur Wahrheit führen? Um Missverständnisse auszuräumen: Kleist ist zwar ein radikaler Skeptiker, die Existenz der (absoluten) Wahrheit bezweifelt er aber nicht; denn die Wahrheit existiert ja zweifellos, und zwar vergegenständlicht im zerbrochenen Krug. Er bezweifelt „nur”, ob die Wahrheit, von deren Existenz wir sichere Kenntnis haben, für unseren begrenzten menschlichen Verstand und unsere fehlbare menschliche Sprache zugänglich ist, ob sie also vollständig erkennbar ist (nämlich, ob wir tatsächlich erfahren können, warum und wie der Krug zerbrochen ist).
Das Wunder
Zwar kommt die Wahrheit in der Welt des Zerbrochenen Kruges, hier und jetzt, schließlich ans Licht, die Zweifel bleiben trotzdem. Denn die Wahrheit entfaltet sich nicht aus der fehlbaren und mit sich entzweiten menschlichen Sprache selbst, statt dessen müssen sich besondere Bedingungen erfüllen, damit sie während des Sprechprozesses erkennbar wird.Es lohnt sich daher, die Reihe der offensichtlich „sprechenden” Namen im Stück (Adam, Eva, Licht) um einen weiteren zu ergänzen, der vielleicht nicht so offensichtlich, aber dennoch ziemlich verständlich zu uns „spricht”: der Name Walter lässt sich mit einem einfachen Nominativsuffix aus dem Verb walten ableiten, dessen Bedeutungen im Duden folgendermaßen beschrieben sind: 1. (veraltend) gebieten, zu bestimmen haben, das Regiment führen; 2. als wirkende Kraft o. Ä. vorhanden sein, herrschen.” Somit bestimmt der Name Walter von vornhinein die Schlüsselrolle der Figur, die schaltet und waltet, das heißt, in der Welt des Stückes über nahezu ’göttliche’ Macht (und Funktion) verfügt. Und die Präsenz dieser ’göttlichen’ Macht ist der letzte Grund und die einzige Garantie dafür, dass die Wahrheit schließlich – hier und jetzt – dennoch erkennbar wird.
Nur dass diese göttliche, in Walters Person verkörperte Macht von außen in die Welt des Stückes tritt: Walter ist die einzige Figur, die außerhalb des dörflich-bäuerlichen Milieus, besser gesagt, über ihm steht. Und es ist reiner Zufall, dass er in Huisum just in dem Moment auftaucht, in dem man ihn dort am meisten braucht: Seine Ankunft bzw. deren Zeitpunkt ergibt sich als Schnittpunkt zweier, miteinander nicht zusammenhängender Folgenreihen.
Um also mittels der fehlbaren und mit sich entzweiten menschlichen Sprache schließlich dennoch irgendwie zur Wahrheit zu gelangen, muss irgendeine höhere, göttliche Macht in die menschliche Lebenswelt kommen, und sie muss deren normalen Betrieb für einen Augenblick außer Kraft setzen. Es bedarf dazu mit anderen Worten des Wunders. Wenn sich das Wunder ereignet, wird die Wahrheit zugänglich und erkennbar und die göttliche Einheit der mit sich entzweiten menschlichen Sprache wird wiederhergestellt: Die Tragödie wird zur Komödie. Aber nur für einen einzigen, exklusiven, womöglich nie wiederkehrenden Augenblick. Würde nämlich Walter nur einige Stunden früher oder später in Huisum ankommen, würde sich die Wahrheit nie herausstellen: Adam kann verurteilen, wen er nur will – und das Stück bleibt, was es eigentlich sein sollte: eine Tragödie.