Heinrich von Kleist
Kleist in Neufassung
Als Regisseur wollte ich den Zerbrochnen Krug zuerst gar nicht neuübersetzen, da ich Dezső Tandori nicht nur als Lyriker, Schriftsteller und Grafiker, sondern auch als Übersetzer bewundere, ja richtig anbete.
Tandoris Übersetzung habe ich zweimal auf der Bühne hören können: Das erste Mal 1980 in der Kaposvárer Uraufführung, in Péter Gothárs Regie. Das war zugleich die erste vollständige ungarische Version, nachdem Tandori als erster jene letzte Szene übersetzte, die Kleist nach dem spektakulären Misserfolg der von Goethe inszenierten Weimarer Aufführung gestrichen bzw. gekürzt hatte, und die seitdem in jeder modernen Inszenierung als Schlüsselszene gilt. Das war, glaube ich, überhaupt das erste Stück von Kleist, das ich auf der Bühne sah, und es hat mir unheimlich gut gefallen. Bis dahin wusste ich recht wenig über den Autor, ich war früher nie in West-Berlin, wo ich später zahlreiche Kleist-Inszenierungen sah, und Ádám Rajhona in der Rolle des Dorfrichters Adam lebt bis heute als das Urbild dieser Figur in meiner Erinnerung.
Das zweite Mal sah ich den Zerbrochenen Krug im Katona József Theater Budapest, diesmal in der Regie von Gábor Zsámbéki und mit idealer Besetzung, mit Péter Haumann in der Hauptrolle (1996). Ich merkte nicht, dass der Text nicht stimmte, wenngleich zu spüren war, dass die Schauspieler, den Wortjongleur Haumann einbegriffen, sich zum Teil weniger mit dem Stück selbst auseinandersetzen als eher mit dem Text ringen – doch damals machte ich dafür Kleist verantwortlich, der sich bekannterweise in langen und komplizierten Sätzen ausdrückt, den Abschluss durch Einschübe hinausschiebt, Keile mit Verzögerungseffekt zwischen Anfang und Ende des Textes schlägt, wichtige Details im Dunklen lässt, die Sätze vom Ende her schreibt; seine Werke sind voll von Tönen, als Worte getarnten Gesten, die sich nicht unbedingt aus der dramatischen Situation der Figuren ergeben, sondern vielmehr aus ihrem Wesen hervorbrechen wie der Schweiß oder das Herzklopfen, so dass nicht nur seine Figuren, sondern auch seine Texte zu Rätseln werden, die es zu lösen gilt.
Als ich dann jedoch daran ging, mein eigenes Regieexemplar zu präparieren, wurde mir bald klar, dass Tandori diesmal (allerdings in Kenntnis der Übersetzung von László Németh, eines mit viel Schweißhergestellten und im Hinblick auf die Welt des Stückes ziemlich irreführenden Textes) weniger aufeinen Text bedacht war, der von Schauspielern auf der Bühne rezitiert und von den Zuschauern verstanden werden sollte, sondern sich (in seiner stets genialen Art und Weise, mit unglaublichen Trouvaillen) eher darum bemühte, einen als Kleistisch wirkenden Text auf Ungarisch hervorzubringen. Was meine ich damit?
Als Kleist die in seinem Todesjahr erschienene Erstausgabe des Stückes seinem Freund Friedrich de la Motte Fouqué zuschickte, schrieb er im Begleitbrief dazu, sozusagen zur Entschuldigung, dass er das Stück im Stil der Wirtshausszenen des flämischen Genremalers Tenier verfasst hatte; er bildet ein qualmendes, derb-brutales Milieu ab, gleichsam den Pinsel seiner Worte in Teniers Farben tauchend. Die Figuren schnaufen, stöhnen, grölen, schreien, jammern, dem Text ist eine ganze Partitur von solchen Fragmentklängenbeigemischt, ganz abgesehen davon, dass die Komödie in ihrem ganzen Ton ziemlich bäuerlich ist, beziehungsweise sich in ihr der höchst subtile juristisch-politische und kulturelle Diskurs mit einem niedrigen und primitiven, mit der fiktiven Welt eines stockdunklen flämischen Kaffs und seinen Tierlauten, dem Quatschen der Holzpantoffeln im Schlamm und ihrem Klopfen auf dem Holzboden mischt. Was nicht heißt, dass Kleists Bauern ab und zu nicht enorme mythologische und ikonographische Kenntnissean den Tag legenwürden. Als Theaterautor und Regisseur weiß ich, dass die Aufführung, sobald ein Text in erster Linie Ton- und Stilimitation ist, zumindest zum Teil keine Handlung, kein Drama ergibt, sondern nur die Textur des Textes verwirklichen, nur in ungenügendem Maß transparent sein kann. Damals, bei Gothárs Regie, ist mir dieses Problem nicht bewusst geworden (damals waren weder meine Ohren noch meine Augen scharf genug für Kleist) – bei Zsámbéki aber nahm ich es bereits wahr, die noch so gelungene Analyse unterdrückte die Unmittelbarkeit der Aufführung.
Tandori begeht zwei grundlose und den Text vielleicht eher aus Bequemlichkeitsgründen überwuchernde „Fehler“ („Fehler“ in Anführungsstrichen, weil es hier eigentlich um keine Fehler, sondern um Entscheidungen geht, die aber aus der Perspektive des Regisseurs dennoch Fehler sind): mit den ständigen Enjambements, durch die Überführung der Sätze auf den nächsten Vers, zerstört er den Rhythmus des Blankverses, des jambischen Pentameters. In Tandoris Text gibt es zahlreiche geniale Verse und wunderbare Sequenzen, sobald er jedoch etwas kompliziertere Aufgaben zu lösen hat, plagt er sich nicht damit herum, die Versenden hart zu artikulieren (Kleist macht zwar auch von Enjambements Gebrauch, nur eben viel, viel seltener): Die genauen Versabschlüsse wären aber sowohl für die Schauspieler als auch für die Ohren der Zuschauer nützlich und wichtig. Tandori bricht oft die Verse bei zufälligen Wörtern, sodass deren Fortsetzung sich nicht berechnen lässt, und er begeht noch einen zweiten Fehler, den die perfektualisierte Schule der literarischen Übersetzung in Ungarn bei Shakespeare wie bei Kleist regelmäßigbegeht. Bei ihm nämlich bestehen die Verse stets aus 10 (oder 11) Silben, obwohl Kleist, besonders in diesem Stück, ganz nachdrücklich und häufig achtsilbige Verse einsetzt, die hart klingen, nahezu pointen- oder ohrfeigenhaft wirken (ich habe über 20 solche zusammengezählt), und es kommen bei ihm auch 12- oder 14-silbige Verse vor, wie es eben der Inhalt, die Aussage erwünscht. Tandori ebnet diese alle zu gleichmäßigen Versen, wodurch eine wichtige Qualität des Textes verlorengeht. Ich könnte viele Beispiele dafür nennen, wie auch viele Stellen, wo meine Übersetzung der von Tandori mit Sicherheit unterlegen ist; dafür konnte ich als Regisseur den Schauspielern einen funktionsfähigen, bis zum letzten Punkt geklärten Text in die Hände geben.
Bei einem Werk, in dem Tragisches und Komisches auf eine dermaßen vielschichtige Weise miteinander verwoben sind, ist der reine Klang, die absolut klare Logik des Textes (die ich als Regisseur hie und da nochdurch Streichungen verstärkte) lebenswichtig. Zu einer Neuübersetzung von Penthesileiaoder Der Prinz von Homburg würde ich mich nie vermessen, ich bin aber überzeugt, dass dieses Mal eine um eine Spur besser spielbare Fassung vom Zerbrochenen Krug zustande gekommen ist. Kleist zu übersetzenist nie eine leichte Aufgabe, da seine Sätze selbst für deutsche Ohren sonderbar klingen. Was jedoch in den deutschen Köpfen nach 200 Jahren mehr oder weniger geklärt werden konnte (in den Veranstaltungen zum 200. Todesjahr 2011 wurde er endlich auf gleiche Höhe mit Goethe oder sogar höher gestellt), beginnt bei uns erst jetzt: Dass man selbst seine kompliziertesten Gedankengänge als Evidenzen empfindet.