Veronika Hermann
Populismus und Diktatur
Dieser Artikel untersucht, wie sich die Beurteilung des Staatssozialismus in Ungarn im Spiegel des politischen Populismus nach dem Systemwechsel verändert hat. Es werden die Gründe dafür dargelegt, warum den Staatssozialismus nach seiner scharfen Ablehnung nach dem Systemwechsel nun eine immer stärker werdende gesellschaftliche Nostalgie umgibt. Diese Nostalgie ist gerade für die heutige Zeit, da die beiden politischen Systeme in mehrerlei Hinsicht Ähnlichkeit aufweisen, besonders charakteristisch.
„Bitte sehr, Soros-Stiftung, und so weiter, da gehen sie, sowohl die unseren, mit der Soros-Stiftung, als auch die ihren, ja, wir kennen sie. Ich frage euch, Genossen, wer mit einer Stiftung und einem Stipendium dorthin geht, vor allem in die USA, aber nicht nur in die USA, und dort eine systemfeindliche Rede hält – wer zwingt uns dazu, demjenigen beim nächsten Mal eine Ausreisegenehmigung zu erteilen? Ich meine, niemand – das kann man verbieten. Auch das ist eine administrative Maßnahme. Und dann darf derjenige nicht reisen.“
Das obige Zitat stammt nicht aus der nahen Vergangenheit. Es wurde am 9. Februar 1988 in der Sitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei getätigt. János Kádár, der erste Sekretär dieses Organs, das heißt, der Anführer Ungarns, empörte sich mit diesen Worten gegen die Soros-Stiftung, welche damals oppositionelle Bewegungen – unter anderem die sich damals bildende Partei Fidesz – durch finanzielle Mittel und Stipendien unterstützte. Die Audioaufnahme tauchte im Jahr 2017, inmitten der gegen György Soros geführten Regierungskampagne auf, doch sie blieb, wenngleich sie in einigen Zeitungen veröffentlich wurde, relativ ohne Echo. Es blieb also ohne Echo, dass der Anführer eines staatssozialistischen Landes über eine offene Gesellschaften fördernde Stiftung schimpft und dreißig Jahre später die aktuell regierende Parteielite genau dieselbe Organisation und deren Gründer mittels ähnlicher Rhetorik attackiert. Auch wenn vorerst keine Rede von der Verweigerung von Ausreisegenehmigungen ist, zeigt die Parallele – Angst vor der Opposition, Verunmöglichung der Arbeit jener, die sich für eine offene, demokratische Gesellschaft engagieren –, dass die aktuelle politische Sphäre zahlreiche Ähnlichkeiten mit dem Kádár-System aufweist, während sie eigentlich gerade als dessen Kontrapunkt zustande kam.
Im Folgenden soll dargelegt werden, worin die Gründe dafür liegen können, dass das Zeitalter des Sozialismus, obwohl es nach dem Systemwechsel dezidiert abgelehnt wurde, heutzutage von einer immer stärkeren Nostalgie umgeben ist. Auch soll argumentiert werden, dass der Populismus sowie der Staatssozialismus in Ungarn (oder die „weiche Diktatur“ beziehungsweise der „Gulaschkommunismus“, wie man noch zu sagen pflegt), wenngleich dieser nicht als populistisches Zeitalter bezeichnet werden kann, aufgrund ihrer politischen Ideologie, gesellschaftlichen Konsense und Handlungen sehr wohl gewisse Ähnlichkeiten miteinander aufweisen. Dafür müssen jedoch auch die Begriffe des Populismus sowie der gesellschaftlichen Nostalgie geklärt werden.
Der Begriff des Populismus
Der Ausdruck Populismus kommt vom lateinischen populus, was Volk bedeutet. In seinem heutigen Sinne wird der Ausdruck von Gesellschafts- und Politikforscherinnen und -forschern seit Ende der 1980er Jahre verwendet. Laut Wörterbuchdefinition versteht man unter Populismus politische Gedanken und Handlungen, mittels derer im Dienste der Popularität Botschaften vermittelt werden, die für eine größtmögliche Masse attraktiv sein sollen. Allerdings ist es schwierig den Begriff des Populismus zu umschreiben, da die unterschiedlichen populistischen Formationen und Systeme zahlreiche Widersprüchlichkeiten aufweisen. Aus diesem Grund gibt es weder im wissenschaftlichen noch „alltäglichen“ Sinne eine einheitliche Definition für Populismus. Laut des berühmten Aschenputtel-Vergleichs des Ideengeschichtlers Isaiah Berlin ist Populismus ein Schuh, zu dem der Prinz keinen passenden Fuß findet. Der Begriffsinhalt ist nämlich bildsam und verändert sich abhängig davon, auf welches Land, welches politische System oder historische Zeitalter er sich bezieht. Populismus ist keine politische Ideologie (wie beispielsweise Liberalismus oder Konservatismus), schließlich formuliert er kein umfassendes und zusammenhängendes, sich auf die Deutung der Welt beziehendes Ideensystem, gleichzeitig kann er jedoch auch nicht als gesellschaftliche Bewegung bezeichnet werden, da er gleich mehrere Voraussetzungen einer kollektiven Formation nicht erfüllt.Auch die Frage, ob Populismus – und somit populistische politische Parteien – für demokratische Gesellschaften eine grundlegende Gefahr oder lediglich eine Bedrohung darstellt, durch deren Bezwingung die Demokratie sogar stärker werden kann, spaltet die Forscherinnen und Forscher. Populismus ist nämlich nicht nur antiliberal und nationalistisch, sondern fußt auch auf einem antidemokratischen Fundament. Meist werden rechte oder rechtsextreme Parteien als populistisch bezeichnet, die mittels spaltender Rhetorik („wir“ vs. „sie“, Zuspitzung der Spannungen zwischen Elite und Masse) die Glaubwürdigkeit der demokratischen Institutionen und des öffentlichen Diskurses untergraben. Im vergangenen Jahrzehnt sind populistische Formationen nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten und in bestimmten Ländern Südamerikas stärker geworden, sodass die Zukunft der früheren politischen Systeme äußerst fraglich geworden ist. Einer klassisch populistischen Rhetorik bedienen sich aktuell beispielsweise der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der Präsident der Vereinigten Staaten Donald Trump sowie der russische Präsident Wladimir Putin.
Populismus und Autoritarismus
Wie die Definition – genauer gesagt, deren Mangel – zeigt, gründet sich der Populismus nicht auf eine Ideologie, sondern auf eine Handlungsweise, die darauf ausgerichtet ist, sich politische Vorteile zu verschaffen und im weiteren Sinne die Macht zu maximieren oder zu bewahren. In Ländern, in denen das Verhältnis zur Demokratie und deren Institutionen (unabhängige Rechtsprechung, freie Presse, autonome höhere Bildung) aus historischen Gründen problematisch ist, kann man sich viel einfacher mithilfe eines populistischen Instrumentariums langfristig Macht verschaffen, befreit Letzteres die Bürgerinnen und Bürger doch genau von einem wichtigen Element der Demokratie, nämlich der mit Entscheidungen einhergehenden Verantwortung. Es ist kein Zufall, dass ein bedeutender Teil der aktuellen populistischen politischen Akteurinnen und Akteure explizit autoritär ist, und zwar nicht nur, was die innerparteilichen Machtstrukturen betrifft, sondern auch die Beziehung zu den Bürgerinnen und Bürgern. Anstatt gleichgestellter oder einander ergänzender Akteurinnen und Akteure sieht die populistische Rhetorik hierarchische und miteinander im Wettbewerb stehende Seiten, ganz ähnlich den ungleichen Verhältnissen von Eltern-Kind oder Lehrer-Schüler. Das trifft auch auf diktatorische Systeme zu, bei denen diese ungleichen Verhältnisse nicht nur auf metaphorischer, sondern auch auf Wortebene in Erscheinung treten. Kein Zufall also, dass sich viele Diktatoren – von Stalin bis Kim Il-sung – mit Vorliebe als „Vater“ der Menschen bezeichnen ließen. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die aktuelle politische Führung in Ungarn typisch populistisch ausgerichtet ist. Die konkreten Beispiele werden also den ungarischen – populistischen beziehungsweise diktatorischen – Systemen entnommen, wobei wichtig ist, hervorzuheben, dass diese Charakteristika auch allgemein auf populistische politische Systeme oder Organisationen zutreffen.Früher war alles besser
Gesellschaften (oder Gruppen), die ein Leben ohne Verantwortung für Entscheidungen genießen und einen väterlichen Anführer für sich wählen, sehnen sich nach einem berechenbaren Leben und einer sich bessernden oder zumindest stagnierenden existenziellen Lage. Solche Gesellschaften sind allgemein empfänglicher für gesellschaftliche Nostalgie, für das trügerische Sicherheitsgefühl à la „früher war alles besser“. Das äußert sich meist darin, dass ein bestimmtes Zeitalter plötzlich vor die anderen positioniert wird, die Medien beginnen diese anders zu „framen“, und dass versucht wird, die Gegenwart durch verschiedene Maßnahmen der idealisierten Vergangenheit möglichst anzugleichen. Laut einer Erhebung des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Medián war bereits im Jahr 2006 János Kádár der populärste Politiker des 20. Jahrhunderts (gefolgt von Árpád Göncz, Gyula Horn, József Antall und Imre Nagy). Im Jahr 2018 hat ebenfalls Medián eine repräsentative Erhebung für die Zeitung 444 durchgeführt, aus der nicht nur János Kádárs ungebrochene Popularität hervorging, sondern auch, dass die Beurteilung der Person János Kádárs im Großen und Ganzen genauso positiv ist wie die von Imre Nagy, der gerade von Kádár an den Galgen geschickt wurde. In Ungarn sind das öffentliche Denken in Bezug auf die Geschichte und das kollektive Gedächtnis also nicht besonders konsequent. Deshalb konnte es dazu kommen, dass nach der scheinbaren Freiheit – und nach der scharfen Distanzierung vom Kádár-System – in den 1990er und 2000er Jahren in Ungarn nun das populistische politische System der 2010er Jahre sowohl im Hinblick auf seine Rhetorik (das heißt, auf die verwendeten Worte und Formulierungen) als auch auf seine politischen Maßnahmen immer mehr Ähnlichkeiten mit dem staatsparteilichen System zwischen 1956 und 1989 aufweist.Die Verwandtschaft der beiden Systeme
Sehen wir uns also an, um welche Ähnlichkeiten es sich handelt!1. Ausspielen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen gegeneinander
Das Lieblingsinstrument von Diktaturen wie auch populistischen Parteien bildet eine bekannte Machttechnik, die in der Antike unter dem Namen „teile und herrsche“ geläufig war. Die Tätigkeit der Staatspartei – die prinzipiell nach der Abschaffung der Klassengesellschaft beziehungsweise nach der Erschaffung einer Gesellschaft strebte, deren Fundament Arbeiter und Bauern bildeten – zeichnete sich durch die Stigmatisierung von intellektuellen Gruppen sowie durch die Verstaatlichung von Privatunternehmen aus. Populistische Parteien versuchen nicht nur die Spannungen zwischen intellektueller und Arbeiterklasse zu verstärken, sondern sie stacheln auch kleinere Gesellschaftsgruppen gegeneinander auf: Sicherheitsorgane und Zivilgesellschaft, verschiedene Akteure des Dienstleistungssektors (zum Beispiel durch die künstliche Aufhebung der marktwirtschaftlichen Wettbewerbssituation) oder heimische und „fremde“ Gruppen.
2. Kriminalisierung von Armut oder Arbeitslosigkeit
Das Ziel populistischer Systeme ist die Etablierung oder Bewahrung einer möglichst breiten unteren Mittelschicht, schließlich kann man diese am einfachsten durch das Schreckensbild der Armut verängstigen und als Reaktion darauf die in tatsächlicher extremer Armut Lebenden dämonisieren. Das heißt, ein Gefühl der Bedrohung erzeugen, und darauf eine scheinbar dezidierte Antwort geben – eine sowohl für populistische Systeme als auch für Diktaturen typische Technik. Im Kádár-System gab es auf dem Papier keine Arbeitslosigkeit: Diejenigen, in deren sogenanntes „Arbeitsbuch“ kein Arbeitsplatz eingetragen war, galten als „gemeingefährliche Arbeitsscheue“, ihnen drohte eine Gefängnisstrafe. Aktuell wird das Problem durch kommunale Beschäftigungsprogramme verschleiert, die steigende Zahl der Teilnehmenden an diesen Programmen ist jedoch kein Indikator für erfolgreich geschaffene Arbeitsplätze, sondern für den Anstieg der am Existenzminimum Lebenden sowie für die verstärkte Abhängigkeit der Menschen von den lokalen Selbstverwaltungen.
3. Knüpfen bestimmter gesellschaftlicher Probleme an bestimmte gesellschaftliche Gruppen (Ethnisierung, Klassifizierung)
Ein mit dem Obigen eng verbundenes Problem ist das Verknüpfen gesellschaftlicher Probleme mit gesellschaftlichen Gruppen. Ethnisierung bedeutet, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen aufgrund ihrer Ethnie verantwortlich für etwas gemacht werden, das heißt, ihnen kollektive Verantwortung zugeschrieben wird. Klassifizierung bedeutet dasselbe, nur eben mit gesellschaftlichen Klassen. Letzteres war ein typisches Instrument des Kádár-Systems. Heutzutage heften sich populistische Parteien und Systeme – nicht nur in Ungarn, sondern auch in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten – zum Beispiel die Migration an die Fahne und machen diese verantwortlich für zahlreiche, bereits früher bestehende Probleme. Dadurch untergraben sie nicht nur die Möglichkeit der Entstehung eines echten öffentlichen Diskurses im Zusammenhang mit Migration, sondern steigern auch Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Populismus homogenisiert gesellschaftlich verletzliche Gruppen (die Flüchtlinge, die Frauen, die Homosexuellen), um so die Diversität der gesellschaftlichen Einheiten zu negieren.
Die übertriebene Darstellung der Bedrohung und das Prophezeien des Kriegszustandes sorgen für ausgelieferte Massen, die aufgrund von Informationsmangel meist nur anhand von in den Medien veröffentlichen – oft manipulierten – Bildern von diesen Problemen und von den Lösungen dafür erfahren. Die englischen Begriffe fearmongering beziehungsweise warmongering, wortwörtlich das Handeln mit Angst und Krieg, beschreiben jenen politischen Kniff, wenn Parteien, Individuen oder Gruppen aus politischem Interesse heraus den Schein des Kriegs oder anderer Bedrohungen erwecken, um dann in diesem Ausnahmezustand für sie selbst günstige politische Maßnahmen ergreifen zu können.
4. Zentralisierung von Kommunalwerken, öffentlichen Einrichtungen und Versorgungssystemen
Kommunalwerke, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, Krankenhäuser, das kulturelle Leben und der politische Diskurs – das sind die wesentlichen Beispiele für Bereiche, die sowohl im Kádár-System als auch im heutigen Ungarn mehr oder weniger unter staatlicher Aufsicht stehen. Sowohl in Diktaturen als auch in populistischen Systemen, die sich in Richtung Diktatur bewegen und die Grundideale der klassischen Demokratie in Zweifel ziehen, sind Andersdenkende nicht gern gesehen. So ist es am einfachsten, wenn alle Plattformen, die eventuell geeignet sind, Andersdenkenden Platz zu bieten, sich in den Händen der Macht befinden. Hat der Staat die Macht über Versorgungsleistungen, hat das finanzielle Folgen, werden öffentliche Einrichtungen überwacht, hat das ideologische Folgen. Wenn es nur ein Unterrichtsbuch gibt, wenn die Hochschulbildung das Privileg einiger weniger ist, wenn obligatorisch überall dasselbe gelernt werden muss, dann ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass das kritische Denken stärker wird – denn genau das fürchten ja Diktatoren wie auch populistische Anführer am meisten.
Weiterführende Literatur
Isaiah Berlin: To define populism berlin.wolf.ox.ac.uk/lists/bibliography/bib111bLSE.pdf
Eintrag zu Populismus im Cambridge Dictionary dictionary.cambridge.org/dictionary/english/populism
Erhebung des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Medián aus dem Jahr 2018 über die Popularität ungarischer historischer Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts 444.hu/2018/10/23/nagy-imre-a-legkevesbe-megoszto