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Dankesrede
Salman Rushdie: Wäre der Frieden ein Preis

Friedenspreis 2023
© Tobias Bohm

Ich danke Ihnen allen dafür, dass Sie heute hier sind – Oberbürgermeister Mike Josef (was für wundervolle einführende Worte), Robert Habeck und seine Kolleginnen aus der Regierung und den Parlamenten, und natürlich Sie alle, die von nah und fern gekommen sind, damit ich hier vor Ihnen stehen kann. Und ich bin zutiefst dankbar für diesen großen Preis, den ich seit langem kenne und schätze, ohne je geglaubt zu haben, dass er einmal meines Weges käme und dessen Liste bisheriger Preisträger – von denen einige heute hier anwesend sind – ihresgleichen sucht. Mein größter Dank gilt den Mitgliedern der Preisjury unter dem Vorsitz von Karin Schmidt-Friderichs. Des Weiteren schulde ich Daniel Kehlmann Dank, den ich als Schriftsteller sehr bewundere. Dass er trotz der Termine rund um die Veröffentlichung eines neuen Romans Zeit fand, seine herrliche Laudatio zu halten, freut mich über die Maßen. Außerdem möchte ich diesem Gebäude, in dem wir hier versammelt sind, meinen Respekt als einem Symbol der Freiheit zollen. Es ist ein Privileg, in diesen Mauern sprechen zu dürfen.

Salman Rushdie CMF 2023 © Frankfurter Buchmesse Foto: Marc Jacquemin Und nun lassen Sie mich damit anfangen, dass ich Ihnen eine Geschichte erzähle. Es waren einmal zwei Schakale, Karataka, was sich mit Vorsicht übersetzen lässt, und Damanaka, was Wagemut bedeutet. Sie gehörten der zweiten Riege der Gefolgschaft des Löwenkönigs Pingalaka an, waren aber ehrgeizig und gerissen. Eines Tages erschreckte den Löwenkönig ein lautes Brüllen im Wald, doch die Schakale wussten, dass da nur ein entlaufener Bulle brüllte, also nichts, wovor sich ein Löwe fürchten musste. Sie suchten den Bullen und überredeten ihn, sie zum König zu begleiten und ihm die Freundschaft anzubieten. Der Bulle fürchtete sich vor dem Löwen, war aber einverstanden, und so wurden der Löwe und der Bulle Freunde, und die Schakale wurden vom dankbaren Monarchen in die erste Riege befördert. Leider verbrachten der Löwe und der Bulle dann derart viel Zeit im Gespräch, dass der Löwe nicht länger jagte und die Tiere seines Gefolges Hunger litten. Folglich redeten die Schakale dem König ein, der Bulle schmiede Pläne gegen ihn, dem Bullen aber, dass der Löwe vorhabe, ihn zu töten, und so kämpften der Löwe und der Bulle miteinander, und der Bulle wurde getötet. Für alle gab es jede Menge Fleisch zu essen, und die Schakale stiegen noch höher in der Gunst des Königs, denn sie hatten ihn vor den Machenschaften des Bullen gewarnt; sie stiegen aber auch im Ansehen aller übrigen Waldbewohner – natürlich nicht in dem des armen Bullen, doch das machte nichts, denn der war ja tot und versorgte jedermann mit einem köstlichen Mahl.

Grob umrissen ist dies die Rahmenhandlung vom ersten und längsten Teil der fünfteiligen Tierfabeln des »Panchantantra« mit dem Titel »Wie man Zwietracht unter Freunden sät«. »Krieg und Frieden«, der dritte Teil – ein Titel, der später für ein anderes wohlbekanntes Buch Verwendung fand – beschreibt einen Streit zwischen Krähen und Eulen, in dem die Arglist einer verräterischen Krähe zur Niederlage und Vernichtung der Eulen führt. Eine Version dieser Geschichte habe ich für meinen Roman »Victory City« genutzt. 

Dass sie nicht moralisieren, hat mich an den Geschichten des »Panchatantra« seit jeher geradezu unwiderstehlich fasziniert. Sie predigen nicht das Gutsein, nicht Tugend, Bescheidenheit, Ehrlichkeit oder Zurückhaltung. Verschlagenheit aber, Hinterlist, Strategie und Amoralität überwinden oft alle Widerstände. Und die Guten gewinnen durchaus nicht immer. (Auch ist meist keineswegs klar, wer überhaupt die Guten sind). Aus diesem Grund findet der moderne Leser diese Geschichten verblüffend gegenwärtig, denn wir, die modernen Leser, leben in einer Welt der Unmoral, der Schamlosigkeit, des Verrats und der Verschlagenheit, in der die Bösen überall schon oft gewonnen haben.

»Woher kommen die Geschichten?«, fragt der Junge Harun seinen geschichtenerzählenden Vater in meinem Roman »Harun und das Meer der Geschichten«; der entscheidende Teil der Antwort lautet: Sie kommen von anderen Geschichten, aus dem Meer der Geschichten, auf dem wir alle segeln. Allerdings sollte ich hinzufügen, dass dies nicht ihr einziger Ursprung ist. Da gibt es auch noch die eigenen Erfahrungen des Geschichtenerzählers, seine Auffassung vom Leben und die Zeiten, in denen er lebt: Die meisten Geschichten aber wurzeln in anderen Geschichten, womöglich in zahlreichen Geschichten, die miteinander verbunden sind, die sich vereinen und verändern und ständig zu neuen Geschichten werden. Das ist es, was wir Fantasie nennen.

Ich wurde schon immer von Mythologien inspiriert, von Sagen und Märchen, doch nicht, weil Wunder darin vorkommen – redende Tiere, magische Fische –, sondern weil sie Wahrheit enthalten. Nehmen wir die Geschichte von Orpheus und Eurydike, eine wichtige Inspirationsquelle für meinen Roman »Der Boden unter ihren Füßen«, eine Geschichte, die sich mit kaum hundert Worten nacherzählen lässt und die selbst in ihrer komprimierten Form viele Themen in der Beziehung von Kunst, Liebe und Tod aufgreift. So fragt sie: Kann Liebe mit Hilfe der Kunst den Tod überwinden? Und antwortet vielleicht: Überwindet der Tod nicht trotz der Kunst die Liebe? Oder sie sagt uns, dass Kunst von Liebe und Tod handelt, aber beides übertrifft, da sie daraus unsterbliche Geschichten formt. Kaum hundert Worte, aber tiefsinnig genug, um abertausend Romane anzuregen.

Die Vorratskammer an Mythen ist wahrhaft riesig. Die Griechen natürlich, aber auch die nordischen Prosa-Edda und Lieder-Edda, Äsop, Homer, der Ring der Nibelungen, die keltischen Legenden sowie die drei großen Sagenwelten Europas: jene Frankreichs mit ihren Geschichten um Karl den Großen, jene Roms mit Geschichten, die sich um das Weltreich drehen und die Sagenwelt Großbritanniens, also die Legenden um König Artus. Hier in Deutschland wären die von Jakob und Wilhelm Grimm gesammelten Märchen zu nennen. Ehe ich aber von diesen Geschichten hörte, wuchs ich in Indien mit dem »Panchatantra« auf, und wenn ich mich, so wie jetzt, zwischen verschiedenen Schreibprojekten befinde, kehre ich zurück zu diesen schlauen, verschlagenen Schakalen und Krähen und ihresgleichen, um sie zu fragen, welche Geschichte ich als nächstes erzählen soll. Bislang haben sie mich nie enttäuscht. Alles, was ich über das Gute und sein Gegenteil wissen muss, über Freiheit, Gefangenschaft und Konflikt findet sich in diesen Geschichten. Geht es allerdings um die Liebe, dann muss ich mich, wie ich gestehe, anderswo umsehen. 

Und hier stehe ich also heute, um einen Friedenspreis entgegenzunehmen und frage mich, was hat uns die Welt der Fabeln zum Thema Frieden zu erzählen?

Salman Rushdie


 Und hier stehe ich also heute, um einen Friedenspreis entgegenzunehmen und frage mich, was hat uns die Welt der Fabeln zum Thema Frieden zu erzählen? 
  
Es sind keine guten Nachrichten. Homer sagt uns, dass es Frieden erst nach Jahrzehnten des Krieges gibt, also dann, wenn Troja zerstört ist und alle, an denen uns lag, längst gestorben sind. Die nordischen Mythen erzählen, Frieden komme erst nach »Ragnarök«, nach dem Ende der Götter, wenn die Götter ihre alten Feinde besiegt, aber auch sich selbst zerstört haben. Das deutsche Wort dafür lautet Götterdämmerung, was weit genauer ist als das englische Twilight of the Gods. Auch das »Mahabharata« und das »Ramayana« sagen, der Frieden verlangt einen blutigen Preis. Und das »Panchatantra« meint, Friede – der Tod der Eulen und der Sieg der Krähen – wird allein durch eine verräterische Tat errungen. Verlassen wir jedoch für einen Moment die Legenden der Vergangenheit und werfen einen Blick auf die Zwillingslegende dieses Sommers – ich meine natürlich das als »Barbenheimer« bekannt gewordene Blockbusterduo – »Oppenheimer« erinnert uns, dass es Frieden erst gab, nachdem die beiden Atombomben Little Boy und Fat Man auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen worden waren; und das Kinokassenmonster »Barbie« macht deutlich, dass es selbst in einer Welt, in der jeder Tag perfekt und jeden Abend Girls‘ Night ist, dauerhaften Frieden und ungetrübtes Glück nur in pinkfarbenem Plastik gibt.
 
Hier sind wir nun versammelt, um über Frieden zu sprechen, wo doch gar nicht weit fort ein Krieg tobt, ein der Tyrannei eines einzelnen Mannes und seiner Gier nach Macht und Eroberung geschuldeter Krieg, ein trauriges Narrativ, dem deutschen Publikum nicht unbekannt. Und in Israel und dem Gazastreifen ist noch ein bitterer Konflikt explodiert. Frieden will mir im Augenblick wie ein dem Rauch der Opiumpfeife entsprungenes Hirngespinst vorkommen. Selbst auf die Bedeutung dieses Wortes können sich die Kombattanten nicht einigen. Für die Ukraine heißt Friede mehr als nur ein Ende der Feinseligkeiten. Friede, das ist für sie – und das muss es auch sein – die Rückgabe aller besetzten Gebiete und eine Garantie ihrer Souveränität. Für den Feind der Ukraine bedeutet Friede die Kapitulation der Ukraine und das Eingeständnis, dass verlorene Gebiete verloren bleiben. Dasselbe Wort, zwei unvereinbare Bedeutungen. Ein Friede für Israel und die Palästinenser scheint sogar in noch weiterer Ferne zu liegen. 
Friede ist schwer zu schaffen und schwer zu finden. 
  
Und doch sehnen wir uns danach, nicht nur nach dem großen Frieden am Ende eines Krieges, sondern auch nach dem kleinen Frieden in unserem eigenen privaten Leben, ein Leben in Frieden mit uns selbst und unserer kleinen Welt. Für Walt Whitman war Frieden wie die Sonne, die jeden Tag auf uns herabscheint:

O Sonne wahren Friedens! O eilendes Licht! 
O frei und ekstatisch! O wofür ich hier rüstend schmettere! 
O die Sonne der Welt wird aufsteigen, blendend, und ihre Höhe 
einnehmen – und auch du, O mein Ideal, wirst gewiß 
aufsteigen! 


Whitmans ›Ideal‹ war der Friede. Also wollen wir ihm beipflichten – hier, versammelt an diesem herrlichen Ort –, dass der Friede, so mühselig er auch zu finden ist, so unmöglich es scheinen mag, ihn zu bewahren, dass er, dieses so schwer zu bestimmende Etwas, trotz alledem zu unseren großen Werten zählt, die es leidenschaftlich zu verfolgen gilt.

Meine Eltern glaubten dies jedenfalls, als sie mich ›Salman‹ nannten, ein Name, dessen Wurzel das Substantiv salamat enthält, was ›Friede‹ bedeutet. ›Salman‹ heißt ›friedlich‹. Und tatsächlich war ich ein sehr stiller, braver, fleißiger Junge, friedlich dem Namen nach, friedlich von Natur aus. Der Ärger begann später. Und doch habe ich mich selbst immer so gesehen. Auch wenn es in meinem Erwachsenenleben anders kommen sollte. 


Es stimmt, Fabeln haben mein Werk beeinflusst, aber auch ein Friedenspreis hat etwas entschieden Fabelhaftes an sich. Mir gefällt übrigens der Gedanke, dass der Friede selbst der Preis ist, dass die Jury Magisches kann, gar Fantastisches – eine Jury weiser Wohltäter, so unendlich mächtig, dass sie einmal im Jahr und keinesfalls öfter, einem einzigen Menschen und keinesfalls mehr, mit Frieden für ein ganzes Jahr belohnen darf. Mit einem wahrhaften, gesegneten, vollkommenen Frieden, nicht mit dem trivialen, bloß zufriedenstellenden paix ordinaire, sondern mit dem edlen Jahrgang Pax Frankfurtiana, einem ganzen Jahrvorrat davon, elegantes Bukett, abgefüllt und frei Haus geliefert. Das wäre eine Belohnung, die ich überglücklich annähme. Ich überlege sogar, eine Geschichte darüber zu schreiben: »Der Mann, der den Frieden als Preis erhielt«. 
Salman Rushdie © Frankfurter Buchmesse Foto: Marc Jacquemin
Ich stelle mir vor, dass es in einer kleinen Stadt auf dem Land geschieht, vielleicht während des Jahrmarkts. Es finden die üblichen Wettbewerbe um die besten Pies und den besten Kuchen statt, um die beste Wassermelone, das beste Gemüse, darum, das Gewicht vom Schwein des Bauern zu erraten, außerdem ein Schönheitswettbewerb, ein Tanzwettbewerb und ein Sängerstreit. Mit farbenfroh bemaltem Pferdewagen kommt ein fahrender Händler ins Dorf, der mit seinem verschlissenen Gehrock ein wenig an den vagabundierenden Schwindler Professor Marvel aus »Der Zauberer von Oz« erinnert und erklärt, wenn man ihm gestatte, in allen Wettbewerben das Urteil zu fällen, händige er die besten Belohnungen aus, die es je gegeben habe. »Die besten Preise!«, ruft er. »Tretet näher! Nur herbeispaziert!« Und so treten sie näher, die einfachen Leute vom Land, und der Händler verteilt kleine Flaschen an die diversen Gewinner, Fläschchen, auf denen Wahrheit steht, Schönheit, Freiheit, Güte und Frieden. Die Dorfbewohner sind enttäuscht. Bares wäre ihnen lieber gewesen, doch in dem auf diese Kirmes folgenden Jahr geschieht Seltsames. Nachdem er sein Fläschchen ausgetrunken hat, verärgert und verstört der Gewinner des Wahrheitspreises die Dorfbewohner, da er jedem stets haarklein erzählt, was er wirklich von ihm hält. Die Dorfschönheit wird, kaum hat sie ihre Belohnung getrunken, noch schöner, zumindest in ihren eigenen Augen, zugleich aber auch unerträglich eitel. Das freizügige Benehmen der Freiheit schockiert die Dorfbewohner, die zu dem Schluss kommen, dass ihr Fläschchen einen mächtigen Rauschtrank enthalten haben muss. Die Güte erklärt sich selbst zu einem Heiligen, und natürlich findet ihn alle Welt unerträglich. Und der Friede sitzt einfach nur unter einem Baum und lächelt. Da es aber dermaßen viel Ärger im Dorf gibt, ist auch dieses Lächeln äußerst ärgerlich. Als ein Jahr später erneut der Jahrmarkt stattfindet und der fahrende Händler wieder auftaucht, wird er aus dem Dorf gejagt. »Fort mit dir«, schreien die Dorfbewohner. »Deine Preise wollen wir nicht. Eine Wurst, ein Käse, ein Stück Schinken, auch eine blitzende Medaille am roten Band. Das sind normale Preise. Die wollen wir.« 

Vielleicht schreibe ich diese Geschichte, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall aber kann sie auf unbeschwerte Weise ein ernstes Thema illustrieren, dass nämlich Eigenschaften, die, darin sind wir uns einig, zu den Tugenden zählen, je nach Blickwinkel und Auswirkung auf die reale Welt zu Lastern werden können. In Italo Calvinos Buch »Der geteilte Visconte«, »Il Visconte Dimezzato«, wird der Held während einer Schlacht von einer Kanonenkugel in zwei Hälften geteilt. Beide Hälften überleben, ein erfahrener Medicus vernäht die Wunden, doch stellt sich bald heraus, dass der geteilte Viscount nicht nur körperlich, sondern auch moralisch in zwei Hälften getrennt wurde; die eine Hälfte ist nun unfassbar gut, die andere unfassbar böse. Wie sich jedoch zeigt, richten beide Hälften in der Welt vergleichbaren Schaden an und sind gleichermaßen schrecklich zu ertragen, bis die Hälften vom selben erfahrenen Medicus endlich wieder zusammengenäht werden, die daraufhin körperlich erneut singulär, moralisch aber plural sind, will sagen: Ein Mensch. 

Während vieler Jahre wurde es mir vom Schicksal vergönnt, aus dem Fläschchen Freiheit zu trinken und ungehindert jene Bücher zu schreiben, die mir in den Sinn kamen; und jetzt, kurz vor Veröffentlichung meines zweiundzwanzigsten Buches, muss ich sagen, einundzwanzig mal hat es sich sehr gelohnt und mir ein gutes Leben beschert, in dem ich der einzigen Arbeit nachging, die ich je verrichten wollte. Bei der verbleibenden Ausnahme, nämlich der Veröffentlichung meines vierten Romans, lernte ich – wie so viele von uns –, dass die Freiheit eine gleich starke und widersetzliche Reaktion der Kräfte der Unfreiheit provozieren kann, aber ich lernte auch, wie ich mich den Folgen dieser Reaktion stellen und nach bestem Vermögen fortfahren konnte, als Künstler so freimütig zu arbeiten, wie ich es stets angestrebt habe. Ich lernte darüber hinaus, dass auch viele andere Schriftsteller und Künstler, die diese Freiheit ausübten, mit der Macht der Unfreiheit konfrontiert wurden, kurz gesagt, ich lernte, wie gefährlich es sein kann, den Wein der Freiheit zu trinken. Das aber machte es nur umso unabdingbarer, wichtiger und unverzichtbarer, sie zu verteidigen, worum ich mich, mit einer Vielzahl Gleichgesinnter, nach Kräften bemüht habe. Ich gestehe, es gab Zeiten, da hätte ich lieber das Friedenselixier getrunken und mein Leben damit zugebracht, glückselig lächelnd unter einem Baum zu sitzen, aber das war nun mal nicht das Fläschchen, das mir der fahrende Händler gab. 

Wir leben in einer Zeit, von der ich nicht geglaubt habe, sie erleben zu müssen, eine Zeit, in der die Freiheit – insbesondere die Meinungsfreiheit, ohne die es die Welt der Bücher nicht gäbe – auf allen Seiten von reaktionären, autoritären, populistischen, demagogischen, halbgebildeten, narzisstischen und achtlosen Stimmen angegriffen wird, eine Zeit, in der sich Bildungseinrichtungen und Bibliotheken Zensur und Feindseligkeit ausgesetzt sehen; in der extremistische Religionen und bigotte Ideologien beginnen, in Lebensbereiche vorzudringen, in denen sie nichts zu suchen haben. Und es gibt sogar progressive Stimmen, die sich für eine neue Art von bien-pensant Zensur aussprechen, eine Zensur, die sich den Anschein des Tugendhaften gibt und die viele, vor allem junge Menschen, auch für eine Tugend halten. Von links wie rechts gerät die Freiheit also unter Druck, von den Jungen wie den Alten. Das hat es so bislang noch nicht gegeben und wird durch neue Kommunikationsformen wie das Internet noch komplizierter, da gut gemachte Webpages mitsamt ihren böswilligen Lügen gleich neben der Wahrheit stehen, weshalb es vielen Menschen schwerfällt, das eine vom anderen zu unterscheiden. Außerdem wird in unseren sozialen Medien Tag für Tag die Idee der Freiheit missbraucht, um dem Mob online das Feld zu überlassen, wovon die milliardenschweren Besitzer dieser Plattformen profitieren und was sie zunehmend in Kauf zu nehmen scheinen. 

Was aber tun wir in Sachen Meinungsfreiheit, wenn sie auf derart vielfältige Weise missbraucht wird? Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann. Wir müssen sie erbittert verteidigen und sie so umfassend wie möglich definieren, was natürlich heißt, dass wir die freie Rede auch dann verteidigen, wenn sie uns beleidigt, da wir die Meinungsfreiheit sonst überhaupt nicht verteidigen würden. Verlegerinnen und Verleger gehören zu den wichtigsten Wächtern der Meinungsfreiheit. Danke für eure Arbeit und bitte, wenn dies überhaupt geht, dann macht sie noch besser, seid noch tapferer und lasst tausend und eine Stimme auf tausend und eine verschiedene Weisen sprechen. 

Um es mit Cavafy zu sagen: »Die Barbaren kommen heute«; und ich weiß, Kunst ist die Antwort auf Philisterei, Zivilisation die Antwort auf Barbarei: In einem Kulturkrieg aber können Künstler und Künstlerinnen aller Art – Filmemacherinnen, Schauspieler, Sängerinnen und ja, die Ausübenden jener Kunst, die von den Buchmenschen der Welt Jahr für Jahr in Frankfurt versammelt werden, um sie zu fördern und zu feiern, diese alte Kunst des Buches – sie alle gemeinsam können die Barbaren noch von den Toren fernhalten. 
Eroeffnungs-PK 2015 © Frankfurter Buchmesse Fotó: Marc Jacquemin
Ehe ich zum Ende meiner Ausführungen komme, möchte ich noch all jenen in Deutschland und darüber hinaus danken, die nach dem Angriff auf mich vor gut vierzehn Monaten ihre Stimme in Solidarität und Freundschaft erhoben haben. Ihre Unterstützung hat mir persönlich und auch meiner Familie viel bedeutet, da sie uns gezeigt hat, wie leidenschaftlich und weit verbreitet der Glaube an die Meinungsfreiheit weiterhin ist, hier wie auf der ganzen Welt. Die nach dem Angriff am 12. August zum Ausdruck gebrachte Empörung bewies mir Mitgefühl, verdankte sich aber auch dem Entsetzen der Menschen – Ihrem Entsetzen – darüber, dass der innerste Wert einer freien Gesellschaft so rüde und brutal attackiert worden war. Ich bin zutiefst dankbar für die Woge der Freundschaft, die mich erfasste, und ich werde mein Bestes tun, weiterhin für das einzustehen, zu dessen Verteidigung Sie sich alle erhoben haben. 

Und wenn ich nun mit diesem Friedenspreis heimkehre, werde ich mir allerdings auch die Zeit nehmen und besagtes Elixier trinken, um mich dann friedlich und glückselig lächelnd unter einen Baum zu setzen. Ich danke Ihnen allen. 



 
Sir Salman Ahmed Rushdie, geboren am 19. Juni 1947 in Bombay (heute Mumbai, Indien), gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der englischsprachigen Gegenwartsliteratur. Seine Romane, die in über 40 Sprachen übersetzt wurden, verknüpfen häufig magischen Realismus mit historischer Fiktion. Sie handeln von Verbindungen, Migration und Brüchen zwischen östlichen und westlichen Zivilisationen und sind oft auf dem indischen Subkontinent angesiedelt. Rushdie schreibt neben Romanen auch Kurzgeschichten, Reiseberichte, Essays und journalistische Beiträge.

Quelle: Salman Rushdie - Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 

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