Feminismus heute in Taiwan
Wo ist der Feminismus geblieben?
Geht es um den Feminismus in Taiwan, dann kommt mir das alte Antikriegslied "Sag mir, wo die Blumen sind?" in den Sinn. Doch ich frage nicht, wo die Blumen geblieben sind, sondern suche nach feministischen Strömungen in der Gesellschaft.
Entscheidender Einfluss auf die Gesellschaft
In den 1960er-Jahren kehrte die spätere Vize-Präsidentin Taiwans, Annette Lu, aus den USA nach Taiwan zurück und engagierte sich für die Rechte der Frauen. In diesen vom Kriegsrecht und politischer Verfolgung bestimmten Zeiten durfte man das Wort „Bewegung“ nicht verwenden. Die Frauenrechtsbewegung wurde deshalb mit dem Begriff „Neuer Feminismus“ bezeichnet.Später war die von einer Gruppe engagierter Frauen gegründete „Awakening Foundation“ die treibende Kraft des taiwanesischen Feminismus. Und seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts genießen die Frauen Taiwans alle grundlegenden Rechte und nehmen damit in Asien einen der vordersten Plätze in Sachen Gleichberechtigung ein.
2017 hat man in Taiwan die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert - mit diesem Meilenstein in der Gleichstellung der sexuellen Orientierung nimmt Taiwan in Asien eine singuläre Position ein und befindet sich auf Augenhöhe mit westlichen Staaten.
Der Feminismus ist als Bewegung von außen ins Land hineingetragen worden. Es waren vor allem feministische Theorien aus den USA, aber auch aus Europa, die man hier rezipiert hat und die als Richtschnur für gesellschaftliche Veränderungen dienten. Positionen französischer Feministinnen erfuhren dagegen erst in den 1990er-Jahren eine gewisse Popularität. Neuere Vorstellungen wie die Aufhebung der Geschlechtergrenzen wurden nicht nur in akademischen Kreise diskutiert, sondern auch in Zeitungen, Zeitschriften und anderen Massenmedien wie dem Fernsehen.
Allerdings ließ im 21. Jahrhundert das Interesse am Feminismus nach. Es fragt sich also, wer heute noch die Fahne des Feminismus hochhält. Denn wer das tut, gilt schnell als rückwärtsgewandt. Wo ist also der Feminismus in Taiwan geblieben? Meine positive Antwort auf diese Frage lautet: Er hat überall in der Gesellschaft seinen Platz gefunden.
Der Feminismus hat den Frauen ermöglicht, unabhängig und selbstbestimmt zu leben und hat die traditionellen patriarchalischen Rollenbilder gestürzt. Dadurch verbesserten sich nicht nur die Rechte der Frauen, auch die Männer konnten das einengende Korsett ihrer Geschlechterrollen ablegen. Man kann sagen, dass der Feminsimus gemeinsam mit der politischen Liberalisierung und der Demokratisierung das heutige Taiwan geformt haben.
Fembooks hat dicht gemacht
Allerdings verlief diese Entwicklung nicht ohne Rückschläge. So musste der 1994 gegründete erste feministische Buchladen im chinesischen Sprachraum, „Fembooks“, nach 23 Jahren schließen, weil die ökonimischen Verluste zu groß geworden waren.Man könnte nun annehmen, dass ein feministischer Buchladen, der für das Erstreiten von Freuanerechten stand, seine Ziele nach einer bestimmten Phase erreicht hat und eine neue Generation sich anderer Mittel bedient. Oder hat die Gesellschaft gar keinen Bedarf mehr an feministischen Werken?
Zwar leben wir nach unserer Einschätzung in einer Ära der Gleichberechtigung. Doch hat das Gesundheits- und Sozialministerium Taiwans gerade eine Studie zum Thema „Einstellungen zur Gewalt gegenüber Frauen“ herausgebracht, aus der hervorgeht, dass Männer im Alter zwischen 56 und 65 Jahren die Form von Gewalt mehrheitlich tolerieren. Das überrascht kaum an gesichts der in dieser Generation vorherrschenden traditionellen Vorstellungen, nach denen Männer überhöht und Frauen geringgeschätzt werden. Was jedoch die Alarmglocken klingeln lässt, ist die Tatsache, dass auch junge Männer im Alter von 18 und 19 Jahren Formen von Gewalt gegenüber Frauen ignorieren oder tolerieren.
Experten glauben, dass sie möglicherweise unter dem Einfluss gewalttätiger Computerspiele stehen und dass sie mangelnde Erfahrungen im Umgang mit Frauen haben. Doch nach zehn Jahren Geschlechtererziehung ist eine solche reaktionäre Einstellung bei jungen Männern wirklich ein Anlass zur Sorge.
Mangelnde Innovationskraft
Als Romanautorin bin ich nicht gewohnt, über Datenerhebungen und ihre Aufbereitung zu sprechen. Deshalb wende ich mich wieder im Detail dem Feminismus in Taiwan zu. 2017 ereignete sich ein schwerwiegender Fall, der die Öffentlichkeit in Atem hielt: Eine 26-jährige verheiratete Frau namens Lin hatte sich das Leben genommen. Zuvor hatte sie einen autobiografischen Roman veröffentlicht und darin beschrieben, wie sie während der Pubertät von ihrem verheirateten Nachhilfelehrer sexuell missbraucht worden war. Dieses unüberwindbare Trauma galt als der Hauptgrund für ihren Suizid.Der damals über 50-jährige Lehrer hatte ein Mädchen im Pubertätsalter verführt - ganz offensichtlich eine Beziehung, die aus ungleichen Machtverhältnissen resultierte. Das Verhalten des Lehrers wurde allgemein scharf angegriffen, aber es gab auch Menschen, die der damaligen Schülerin vorwarfen, sie hätte sich in die Ehe des Lehrers eingeschlichen. Da ein Roman kein gerichtsverwertbares Indiz darstellt, wurde der Lehrer strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen.
Viele taiwanesische Feministinnen haben dafür gesorgt, dass dieser Fall ausführlich diskutiert und in der Gesellschaft intensiv reflektiert wurde. Hätten wir die entsprechende Fähigkeit, dann würde dieser Fall ausreichen, um wie bei "MeToo" in den USA daraus eine Bewegung gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz entstehen zu lassen. Damit würde dieses für Frauen schwerwiegende Problem zu einem landesweiten oder sogar zu einem weltweiten Anliegen werden.
Es ist jedoch so, dass die Kraft der taiwanesischen Gesellschaft, Themen zu setzen und Trends zu erschaffen, nur schwach ausgeprägt ist. Auch wenn wir innerhalb Asiens stolz auf unsere demokratische und liberale Gesellschaft sein können, in der die Geschlechter gleichberechtigt sind, so bleiben wir doch ein kleines Land. Unser Einfluss reicht nicht aus, um wie die westlichen Gesellschaften neue Themen zu positionieren.
Sexuelle Erpressung
Für die heutige junge Generation in Taiwan, die in einer Zeit ohne Kriegsrecht und mit einer Geschlechtererziehung in den Schulen aufwächst, stellt sich die Frage nach der Gleichberechtigung nicht, sie sind tatsächlich die Nutznießer dieser Gleichberechtigung. Bei den jungen Männern ist das herkömmliche Machotum weniger ausgeprägt, sie verhalten sich eher neutral. Das Coming-out von homosexuellen Männern verliert seinen Seltenheitswert.Und bei den jungen Frauen sieht man noch mehr interessante Aspekte: Die Erfahrung, dass sich Rechte erstreiten lassen, hat unsere Generation unabhängiger und mutiger, aber auch radikaler und extremer werden lassen. Die heutigen jungen Frauen, die schon mit gleichen Rechten aufgewachsen sind, nutzen die vielfältigeren Möglichkeiten, um unbekümmert zwischen traditionellen und modernen Vorstellungen und Lebensweisen auszuwählen.
Auffällig ist eine Art „rückwärtsgewandter“ Wertvorstellung, dergemäß nicht wenige junge Frauen eine traditionelle Rolle der Abhängigkeit wählen. Sie denken, es würde sie umfassend zufriedenstellen, wenn ein Mann für ihren Unterhalt sorgt und ihre materiellen Bedürfnisse stillt.
Es gibt aber auch das Phänomen der sexuellen Erpressung (Gender Extortion, Sextortion). Damit ist gemeint, dass Frauen die vermeintliche „Schwäche“ des weiblichen Geschlechts instrumentalisieren, um damit Sympathien zu gewinnen und Verantwortung aus dem Wege zu gehen. Aber es gibt auch Männer, die glauben, sich durch eine nachgiebige Haltung Vorteile verschaffen zu könnne.
Angelehnt an aus Frankreich stammende feministische Theorien, versuchen wir, das „Weibliche“ neu zu definieren und ihm eine neue Bedeutung beizumessen, doch sobald dies mit der traditionell überlieferten „weiblichen Demut“ eine Verbindung eingeht, kann daraus sexuelle Erpressung entstehen. Als Autorin habe auch ich solche Frauen beschrieben, und in meinem Roman The Lost Garden wendet die außergewöhnlich intelligente weibliche Hauptfigur Mittel dieser Art skupellos an. Dieses politisch nicht korrekte Verhalten hat heftige Diskussionen ausgelöst.
Weil meine Romane oft die Themen Geschlechterrollen, Politik und die Gleichberechtigung der Geschlechter behandeln, fragt man mich oft, welche Beziehung ich zum Feminismus habe. Dann antworte ich stolz: „Ja, ich bin eine Feministin.“ Und ich komme noch einmal zurück auf das anfangs erwähnte Lied "Sag mir, wo die Blumen sind", und den darin besungenen Kreislauf Blumen - Mädchen - Soldat - Grab - Blumen - Mädchen: Es ist unvermeidlich, dass wir Rückschläge hinnehmen müssen, aber in diesem Kreislauf sind wir es, die die Blumen in unseren Händen halten.