Berlinale-Blogger*innen 2022 Ein Film über das größte Tabu
Isabelle Stever präsentiert auf der Berlinale keinen einfachen Film. Im Gegenteil, „Grand Jeté“ behandelt ein für viele anstößiges Thema: die inzestuöse Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn.
Von Lucia Conti
Nadja, die Protagonistin des Films, ist Ballerina. Ihr Körper trägt die Spuren, ja fast die Stigmata ihrer Obsession für den Tanz. Emotional magersüchtig, ausgezehrt von ihrer Unfähigkeit, sich mitzuteilen, wie auch vom harten Training, hatte sie nie ein enges Verhältnis zu ihrem Sohn, der bei seiner Großmutter aufwuchs. Als sie beschließt, ihn näher kennenzulernen, mündet ihre Beziehung in unerwarteter Intimität.
Nadja und Mario finden ein Gleichgewicht, das für die Zuseher*innen irriterend ist, aber der gewissen Dysfunktionalität der beiden entspricht. Sie erkunden einander – in Räumen, aus denen jegliche Wärme verbannt scheint und Stille dominiert. Und in dieser Stille verstehen sie einander vielleicht. Sie machen sich keine Gedanken darüber, was da geschieht oder dass sie jemand entdecken könnte.
Eine neue und beunruhigende Gelassenheit
Vor dem Hintergrund ihres neuen Verhältnisses zu ihrem Sohn scheint Nadja sich zu entspannen. Ihr Haar, im grellen Licht des Probesaals immer streng hochgebunden, löst sich. Ihrem Gesicht gelingt es, zu lächeln und zu weinen, wenn auch kaum wahrnehmbar. Ihr gequälter Körper überwindet den chronischen Schmerz und nährt sich von Gefühlen und sogar Mahlzeiten, wenn auch in kleinen Bissen. Es sind kleine Schritte vorwärts, keine Tanzschritte, aber eine Bewegung in Richtung Leben.
Mario wird hingegen wie ein fügsamer Ermöglicher der Entwicklung seiner Mutter dargestellt und in dieser Hinsicht beinahe verdinglicht. Still, leicht melancholisch, begleitet er die Ereignisse ohne sie zu hinterfragen, wie auch der Film keinerlei Fragen stellt und keine Erklärungen liefert. Es entsteht der Eindruck, als würde die Regisseurin jegliches Urteil vermeiden und den Zuseher*innen die schwierige Aufgabe überlassen, eine ebenso schwierige Geschichte zu verarbeiten. Und deren noch problematischeres Ende.