Essays

Was geblieben ist

Der Sozialismus geht, und Johnny Walker kommt.
Volker Braun

Die DDR war das Land, das in Gänsefüßchen in der BILD-Zeitung stand. Ein Land in Anführungszeichen, das heute vielen unverständlich und suspekt geworden ist. Man sollte nicht vom „Müllhaufen der Geschichte“ sprechen, wenn man zurückblickt, denn der Respekt und die Achtung vor den Menschen, die das politische System der Unfreiheit ausgehalten haben bzw. von ihm unterdrückt wurden, verbietet dies.

Gedichte waren Grundnahrungsmittel. Nicht immer waren sie gut oder wenigstens gut gemacht. Aber es gab eine starke Nachfrage. Den jeweils neuesten Gedichtband von Volker Braun oder Sarah Kirsch gab es nur unter dem Ladentisch. Gedichte wurden gebraucht, denn in ihnen konnte man zwischen den Zeilen lesen, wie die Gegenwart des kleinen Landes wirklich beschaffen war. Neben den Partei-Dichtern gab es kritische Stimmen, die mit der Zensur im Kopf und in den Behörden stritten.

Im Gedicht von Peter Hacks (1928 – 2003) „Mein Dörfchen“ heißt es:

Mein Dörfchen, das heißt DDR,
hier kennt jeder jeden.
Wenn Sie in Rostock flüstern, Herr,
Hört Leipzig, was Sie reden.


Gedichte haben eine Halbwertszeit, nur weniges überdauert. Manches, was in dieser Zeit geschrieben und zwischen zwei Buchdeckel gebunden wurde, ist zu Staub zerfallen. Anderes wirkt dagegen unbeschädigt und leuchtet noch Jahrzehnte später:
Die unglaublichen Gedichte der Inge Müller - oder die Verse von Thomas und Peter Brasch aus den 1970/80er Jahren - die frühen Poesien von Sarah Kirsch und Helga M. Novak und die der sächsischen Dichterschule mit ihren herausragenden Vertretern Karl Mickel und Volker Braun – die dunklen trunkenen Verse des Wolfgang Hilbig, Poeme von Uwe Greßmann und einige Gedichtblöcke von Heiner Müller, dem großen Dramatiker.

Bücher, die man unbedingt lesen sollte: „Langsamer knirschender Morgen“ von Volker Braun. „Jeder Satellit hat einen Killersatelliten“ von Sascha Anderson. „Kastanienallee“ von Elke Erb. „Heutmorgestern“ von Stefan Döring und „Dreizehntanz“ von Bert Papenfuß.
Diese und andere Gedichtbände, die ab Anfang der 1980er Jahre - trotz ihrer offensichtlichen kritischen Haltung - größtenteils in der DDR erscheinen konnten, zeigten auf sprachkritische Weise den Veränderungsanspruch der Literatur. Eine umfassende Sammlung von Gedichten enthält die bedeutsame Anthologie: „Ein Molotow-Cocktail auf fremder Bettkante – Lyrik der siebziger / achtziger Jahre von Dichtern aus der DDR“ (1991) – herausgegeben von Peter Geist.

Trotz aller Skepsis am politischen System, das vereinnahmte und ausgrenzte, gab es von Anfang an die Lust am Text. Emphase, Bild und Wortspiel sowie Ironie und Witz. So schrieb in den 1960er Jahren der brillante „Gelegenheitsdichter“ Richard Leising (1934 -1997)

Zu einem richtigen Arbeiterstaat
Gehört ein richtiger Kartoffelsalat

Zwei Jahrzehnte später heißt es bei Stefan Döring (*1954)

mitmachen – mitmacht

jeder hat die freiheit die feigheit
schmächtig und mächtig verächtlich
zu blicken auf die betroffnen gestalten
des nie und nimmer landes
glückswürfler des gesellschaftsspiels
die verzogen sind und nicht abgemeldet
unstatthaft unstaatliche wesen
die abzuschiessen man sich einschiessen
sich befreit bereit halten sollte
denn wer mitmacht hat mitmacht


Ab Ende der 1970er Jahre setzte ein Perspektiv- und Paradigmenwechsel ein: Die neuen Stimmen, die ihre Ästhetiken aus den vorausgegangenen Avantgarden (von Dada bis Surrealismus, Wiener Gruppe und Beat-Poetry) bezogen und für sich modelten, fanden eigene Wege, sich Gehör zu verschaffen. Mittels Wohnungslesungen und Konzerten. Unabhängigen Zeitschriften und Fanzines, die nicht zur offiziellen Literatur gehören wollten. So entstand ein „literarischer Underground“, der sich mit anderen Künsten zusammen tat und gegen eine politisch, geistig und moralisch verschlissene Gesellschaft anschrieb, teils sogar rebellierte. Später sprach man verkürzt von der „Prenzlauer-Berg-Szene“ – jenen Dichtern und Dichterinnen des „Cafe Kyril“ in der Lychener Straße in Ostberlin und dem angrenzenden Galrev Verlag. Einer Szene, die Kunst und Gesellschaft verändern wollte und am Ende scheitern musste, nicht nur weil sie sich selbst bespitzelte und damit desavouierte.

Die heimlichen Stars dieser späten DDR-Lyrik heißen Flanzendörfer, Johannes Jansen und Matthias „Baader“ Holst, Eberhard Häfner und Ulrich Zieger. Kurz bevor die DDR im Herbst 1989 begann das Zeitliche zu segnen und wenig später in ein anderes großes Deutschland eingemeindet wurde, erschien mit „Grauzone morgens“ von Durs Grünbein das letzte bedeutende Werk, dass das Ende des „real existierenden Sozialismus“ markiert.

„Was bleibet aber, stiften die Dichter“ – diesen Hölderlin-Vers kann man in Bezug auf die Lyrik, die in der DDR von 1949 bis 1990 geschrieben wurde, vielleicht so verstehen, dass nichts bleibt als das, was aus dieser Zeit herausragt, weil es anderen kulturellen Referenzen folgte als denen des falsch praktizierten Sozialismus. Die Quellen für das, was bleibt, liegen jenseits von Dogma und Ideologie - vielmehr im freien Spiel, in der reflexiven Durchquerung und in der Poetik der Frage - einer Widerständigkeit und Wahrhaftigkeit, die das Wesen des Gedichts ausmachen.
Denn die eigentlichen „Klassiker“ jener Zeit waren Autoren, die aus einem anderen geschichtlichen Raum kamen wie der früh verstorbene „sarmatische Dichter“ Johannes Bobrowski - die aus dem Land getrieben wurden wie der Naturmagiker Peter Huchel oder es irgendwie in einer Art „Innerer Emigration“ ertrugen wie der Hermetiker Erich Arendt. Sie waren nicht eigentlich DDR-Dichter, sondern Versprengte und Solitäre.

Ein Abgesang auf beide Seiten der DDR-Literatur, jener affirmativ-staatstragenden und der nonkonformistischen, findet sich im Gedicht „Zwischen Präfix & Suffix die literarische Wichse“ von Eberhard Häfner (*1941) aus dem Jahr 1991

noch früh für den faden, aus schaden gesponnen, wieder verwendet, bis das dicke ende, so oder so, mit oder ohne schätzen wir uns hinterher glücklich, ein stück geschichte geschrieben & wieder zerbrochen

Die Geschichte ging weiter und auch das Gedicht.

Tom Schulz, *1970 in der Oberlausitz, aufgewachsen in Ost-Berlin, lebt als Autor in Berlin. Zuletzt erschienen: „Lichtveränderung“. Gedichte. Hanser Berlin, 2015. „Wir sind jetzt hier. Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg.“ (Zusammen mit Björn Kuhligk). Hanser Berlin, 2014.
Tom Schulz, 2015
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