Was meinen wir, wenn wir heute von Poesie sprechen.
Die Dichtkunst, wie sie unserem – westlichen - Verständnis zugrunde liegt, gilt als eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit. Sie entstand vor über 5000 Jahren als sinnstiftendes Drittes zwischen Musik und Tanz und war wie alle Kunst Bestandteil kultischer Handlungen. Entsprechend ist die Existenzform des Gedichts ein Zusammengehen von in Klang und Rhythmus, in Metren gebundener Sprache mit Bedeutung. Diese Existenzform half, auch sehr umfangreiche Texte zu memorieren, weil die Darbietungsform eine mündliche war. Diese Verbindung von Narration und Rhythmus/Tanz lebt bis heute fort im von jungen Leuten geliebten und praktizierten Poetry-Slam.
Auch die großen Stoffe und Themen des Altertums, wie das Gilgamesch-Epos oder die Odyssee, gelangten meist mündlich um die Welt. Dabei war die Schrift von Anfang an konstitutives Element von Dichtung, ob auf Tontafeln oder Papyrus notiert. Es bedurfte einer Medienrevolution, der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert, um auch der Dichtkunst größere Verbreitung zu ermöglichen. In der Folge wurden die Texte dichter und komplexer. In der Schrift und ihrer grafischen Inszenierung in Zeile und Vers war und ist notiert, was das Gedicht zum Gedicht macht.Mit dem Buchdruck und der damit einhergehenden Alphabetisierung bedurfte es des Memorierens eigentlich nicht mehr. Dennoch bedient sich Dichtkunst der ästhetischen Elemente, die bislang im Memorieren ihre Funktion hatten - also Klang, Rhythmus und gebundene Sprache - bis heute. Die praktische Funktion, beim Memorieren des Stoffes zu helfen, hat sich in eine rein ästhetische aufgelöst!: Sprache in Wohlklang zu erleben; in einem Zustand, der sie als ästhetisch besonders zur Sprache des Alltags erfahrbar macht. Das, worüber ein Gedicht spricht, kennt hingegen keinerlei Grenzziehung und beschreibt auch die Widrigkeiten des Lebens. Dichtung ist immer auch Arbeit an der Sprache, sie ist Sprachkritik und ist somit per se immer auch politisch. Fortan konnte Schrift mit sich selbst ein Klang-, Sinn- und Bedeutungsspiel eingehen. Auch der freie Vers, wie er seit dem frühen 20. Jahrhundert üblich wurde, ist in Klang- und Rhythmuslinien gebunden. Statt des Endreims weist der freie Vers nicht selten Binnenreime auf. Das, was im Gedicht im semantischen und kognitiven Sinne Bedeutung erzeugt, wird durch das Zusammenspiel vieler ästhetischer Momente hergestellt: Sprachklang, Rhythmuslinien, Bilder, Schrift und Schriftbild, Reimschemata und vieles mehr binden die Sprache im Vers.
Beim Übersetzen ist dies die große Herausforderung. Ein gutes Gedicht ist, wenn man so will, eine 3-D-Installation und muß in der Zielsprache wieder als solche entstehen: als ein gutes Gedicht, das dem Original nicht im Inhalt, wohl aber in Gehalt und Form so nahe wie möglich kommt. Zu übersetzen ist spannend wie ein Krimi!
Poesie ist die der Sprache verpflichtete Kunstform und als Kunst eigenständig! Die Rezeption von Gedichten geschieht als Kino im Kopf, das bei der Dechiffrierung poetischer Strukturen in Gang kommt.
War die menschliche Stimme einst einziges Trägermedium bei der Verbreitung von Dichtung, so ist sie bei komplexerer Textur eines Gedichts, zumindest auch, sein wichtigstes Instrument und konstituiert die Bedeutung wesentlich mit. Man kann den Text eines Gedichts durchaus mit einer Partitur in der Musik vergleichen. Die in der Partitur notierte Vielschichtigkeit klanglich-rhythmischer Kombinatorik bedarf des Instruments, um sie zum Klingen bringen zu können.
Wegen dieser Multimedialität war und ist Poesie, bei aller Eigenständigkeit als Kunst, eben auch „Querschnittskunst“ und gegenwärtig wie historisch gesehen interessant für Künstler aller anderen Kunstsparten. Sie finden im Gedicht ihre Art und Weise Kunst zu machen wieder: Der Tanz arbeitet mit der Rhythmik von Sprache und Atem, die Bildende Kunst hat die Welt sprachlicher Bilder wie die grafischen Strukturen von Buchstaben längst für sich adaptiert. Und den Poesiefilm gibt es, seit Filme gedreht werden. (The Night Before Christmas von Edwin S. Porter , USA 1905, gilt als der erste Poesiefilm.) Die Musik antwortet den Klanglinien des Gedichts unter anderem mit dem Lied. (Beispielsweise ist der deutsche Dichter Wilhelm Müller (1794-1827) heute nur wenigen bekannt. Dabei kennen ihn alle, weil alle Franz Schuberts Winterreise (vertont 1827) kennen. Den Text aber hat Wilhelm Müller völlig unabhängig von Schuberts Plänen und Vorstellungen verfaßt.)
Selbst die Laut- oder Soundpoesie, jener Seitenstrang der Dichtkunst, der lautlich abbildet, was sich mittels des Alphabets nicht ausdrücken läßt und dem Gedicht Klangmöglichkeiten hinzugewinnt, ist in antiken Zeiten ebenso bezeugt wie die Visuelle Poesie. Diese überwindet die Engführung des dichterischen Ausdrucks in der Zeile dergestalt, dass sie ihm die Fläche des Bildes hinzu gewinnt. Die sehr sprachreduktionistisch verfassten Werke der konkreten Poesie – etwa von Eugen Gomringer oder Gerhard Rühm -, wie sie seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts überall auf der Welt entstanden, sind ohne Bezüge zur visuellen Poesie nicht zu denken. Der Weg führt weiter zu aktuellen Entwicklungen, etwa zur digitalen Poesie, die sich auf die Möglichkeiten des Computers stützt.
Davon profitiert auch der Poesiefilm, der Dank der technischer Möglichkeiten von Computertechnologie nach 100 Jahren Filmgeschichte in der Lage ist, dem Gedicht mit filmischen Mitteln nun strukturell antworten zu können und das zu leisten, was seit Jahrtausenden die Dichtkunst insgesamt ausmacht: keine Grenzen zu kennen oder zuzulassen und doch die Welt in Form zu fassen, dabei gebundene Sprache bzw. Sprechen zu sein, sich übergangslos von Realem in Virtuelles, Imaginäres, Spirituelles und vieles mehr zu erweitern und diese Daseinsräume in Gleichzeitigkeit miteinander zu verknüpfen.
Dichtkunst heute ist ein riesiges in verschiedenste Formgebungen ausdifferenziertes Feld künstlerischen Schaffens, das auf der Grundlage von Sprache, Welt wahrnimmt. Als Resultat poetischen Denkens ist sie im Sinne des alt-griechischen Begriffs „poésis“ tätig und weltschöpfend.
Dr. Thomas Wohlfahrt (*1956, Deutschland) ist Direktor der literaturWERKstatt berlin. Er studierte Germanistik und Musikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg und promovierte 1985 zum Dr. phil. Seit 1991 verantwortet er als Gründungsdirektor der literaturWERKstatt berlin jährlich etwa 100 Veranstaltungen aus den Bereichen Kunst, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie eigene Kunst-Produktionen zu Literatur, Tanz, Musik, Bildender Kunst, Theater und Medien. Seit 1993 ist er Geschäftsführer der Literaturbrücke e.V. und seit 1997 ebenso von eurobylon – internationale Großprojekte e.V. Neben zahlreichen Kuratoriums- und Jurytätigkeiten ist er seit 2002 Vorsitzender der internationalen Jury des „Zebra-Poetryfilm Awards“.
Thomas Wohlfahrt, 2015