Was Frauen schreiben
Schriftstellerinnen haben die Landschaft der Gegenwartsliteratur in Indien seit den Neunzigerjahren verändert, indem sie über Themen schreiben, über die sie normalerweise nicht schreiben durften. So sieht es Menka Shivdasani.
Worüber schreiben Frauen? Eben diese Frage diskutierten zwischen 1999 und 2001 rund 175 Schriftstellerinnen in zehn Workshops. Die beiden Organisatoren – Women's WORLD, ein Ableger des International PEN Women Writers' Committee, und Asmita, eine Hilfsorganisation für Frauen – versuchten zu verstehen, wie eine gender-basierte Zensur, “eingebettet in eine Vielzahl kultureller und sozialer Mechanismen, die die Erfahrung von Frauen abqualifizieren”, dazu beiträgt, Frauen zum Schweigen zu bringen.
Die Schriftstellerinnen waren sich ziemlich einig, dass sie über jedwedes Thema schreiben dürfen, um einander dann nach einer langen Pause des Nachdenkens einzugestehen, dass es da drei Dinge gäbe, über die sie doch nicht sprechen könnten – Religion, Politik und Sex. ‘Man muss sich fragen: Worüber kann man dann noch schreiben?’, so formulierten es die Forscherinnen im Vorwort ihrer Studie Die überwachte Zunge 1 .
Traditionellerweise findet weibliches Schreiben in Indien nur Anerkennung, wenn darin gesellschaftliche Einrichtungen wie das traute Heim und die Familie gepriesen werden.
In dem Buch Talking Poems: Conversations with Poets (erschienen 1999 bei Oxford University Press) erzählt die Dichterin Kamala Das ihrer Gesprächspartnerin Eunice de Souza, selbst eine gefeierte Dichterin, von ihrer Mutter, die in Kerala als eine Ikone galt: “Ihre Dichtung entsprach genau dem, was von einer respektablen Schriftstellerin zu ihrer Zeit erwartet wurde. ” Die Frauen in der Dichtung ihrer Mutter, fügte Dan hinzu, sprachen ihre Männer als “Master” an – was Ismat Chugtai (1915–1991), eine überzeugte feministische Schriftstellerin, die auf Urdu schrieb, zu der Frage veranlasste: “Balamani Amma, warum hast Du uns das angetan? ”
Viel hat sich seit dem von Women's WORLD/ Asmita organisierten Workshops geändert. Wie auch immer sie während der Workshop-Sessions die Lage beschrieben, Schriftstellerinnen haben immer schon Wege gefunden, um über Religion, Politik und Sex zu sprechen. Jetzt tun sie es offener und freier als je zuvor. “Dass indische Frauen seit den Vedas bis heute offen über das Thema Liebe und sexuelle Gefühle geschrieben haben, ist eine nun anerkannte Tatsache”, schreibt de Souza.
In den Sechzigern verletzte sie noch viele Grenzen, als sie Folgendes schrieb:
"Schenke ihm, was dich zur Frau macht, den Duft
langer Haare, den Schweiß zwischen den Brüsten,
den warmen Schock des Mentruationsblutes, und all deinen
unstillbaren weiblichen Hunger…”
(The Looking Glass, in: The Descendants, Kalkutta: Writers Workshop 1967)
Im 21. Jahrhundert schreiben Schriftstellerinnen in Indien weiter über all die Themen, die sie betreffen, wie sie es immer schon taten. Anders als früher aber entschuldigen sie sich nicht mehr für das, was sie schreiben, und sie verstecken oder verteidigen sich nicht mehr dafür.
Schon die bloße Zahl von Schriftstellerinnen, die es heute gibt, hat die Landschaft der indischen Literatur deutlich verändert, und sie haben in Indien wie anderswo sichtbar an Ansehen gewonnen, auch wenn sich konservative Stimmen hier und da noch immer gegen sie erheben.
Der tamilischen Dichterin Kutti Revathi mag gedroht worden sein, man werde sie lebendig verbrennen, nachdem sie Gedichte wie Mulaigal ( Brüste) schrieb. Zum Schweigen gebracht hat sie dies nicht. Salma, eine andere tamilische Dichterin, schreibt ganz ungeniert über ihren Körper. Obwohl ohne Ausbildung und ans Haus gebunden, wurde sie dennoch Ortsvorsteherin (panchayat) und schreibt Zeilen wie diese: „Meine wissende Vagina weitet sich.“ [Oppandham (Vertrag)]. 2
Dr. K. V. Raghupathi führt diesen Gedanken in Critical Perspectives on Contemporary Women Poets in Indian English Poetry (2015, Aadi Publications) 4 noch weiter, wenn er schreibt: “Über viele Jahrhunderte artikulierten weibliche Stimmen das Recht der Frauen, wahrgenommen zu werden… Aber ihre Stimme wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hörbar lauter und deutlicher vernehmlich…”
Für diesen Wandel gibt es eine Reihe von Gründen. Ökonomische Unabhängigkeit, Aktionen gegen Aussteuer und Kampagnen gegen häusliche Gewalt in den 1980ern, Projekte wie die Workshops von Women's WORLD/ Asmita und Publikationsmöglichkeiten für Frauen haben alle ihren Teil dazu beigetragen. Es gibt in Indien durchaus auch einige frauenfreundliche Gesetze, allerdings sind sie angesichts der wirklichen Verhältnisse ziemlich wirkungslos, wie die Zeitung The Daily Beast anmerkte: “Nach dem indischen Gesetz gehören die Frauen des Landes zu den am weitesten befreiten und gleichberechtigten auf der Welt – aber die Sicherheit und der Fortschritt hinken dem deutlich hinterher.” Konkret hat in jüngerer Zeit die brutale Massenvergewaltigung einer jungen Physiotherapeutin in einem Bus in Delhi (2012) allerdings durchaus ein öffentliches Bewusstsein für das Thema Gewalt gegen Frauen geschaffen. Wie Shikha Malaviya, eine indisch-englische Schriftstellerin schreibt:
“Der Kopf der Stadt drückt schwerer,
wenn man sich auf leerer Straße krümmt,
Eingeweide sich wie Rapunzels Haar kräuseln,
mit dem Verlangen, sich an jemanden festzuhalten.“
(Hiraeth /After Nirbhaya, 2015)
Mit feministischen Verlagen wie Kali for Women und Zubaan entstanden engagierte Publikationsorte für das Schreiben von Frauen. Das Sound and Picture Archives for Research on Women (SPARROW) hat ein weiteres gewaltiges Projekt angeschoben: eine fünfbändige Sammlung mit 87 Schriftstellerinnen in dreiundzwanzig indischen Sprachen. Die versammelten Stimmen sind alle sehr eigenständig, das Spektrum reicht von denen aus dem urbanen Indien bis hin zu solchen aus verarmten Stammes- und ländlichen Regionen. ‘Die Freiheit gehört denen, die sie wollen und die bereit sind, für sie zu kämpfen”, schreibt die Santhali-Schriftstellerin Nirmala Putul, die im vierten Band, If the Roof Leaks, Let it Leak 5, vertreten ist.
Schriftstellerinnen in Indien haben für diese Freiheit gekämpft, haben sich mit deutlicher Stimme zu Wort gemeldet und so der Gegenwartsliteratur Kraft und Lebendigkeit verliehen. So schreibt die Hindi-Schriftstellerin Anamika in The Guarded Tongue:
‘Ich war eine Tür,
Je härter sie mich schlagen,
Desto weiter öffne ich mich…’
Verweise
- The Guarded Tongue: Women's Writing and Censorship in India, Women's World/ Asmita 2001
- Wild Girls, Wicked Words, eine bilinguale Gedichtsammlung, herausgegeben und übersetzt aus dem Tamilischen von Lakshmi Holmström, Sangam House 2012
Ein Hinweis: Die englische Übersetzung von Wild Girls, Wicked Words liest sich ein wenig anders. Dort heißt es: 'Etwas Macht über dich zu besitzen/ so möglich/ Die Macht zu stärken, die ich besitze/ nur ein wenig /im Wissen darum/ öffnet sich meine Vagina.’ - 'We Speak in Changing Languages: Indian Women Poets 1990 – 2007, hg. v. E. V. Ramakrishnan und Anju Makhija, Sahitya Akademi, New Delhi, 2009
- Eine Sammlung von Präsentationen, vorgetragen auf einem zweitägigen National Seminar mit Gegenwartsdichterinnen, an der Central University of Tamil Naadu, Thiruvarur, am 14. und 15. März 2013.
- If the Roof Leaks, Let it Leak: Poems and Stories of Women in Hindi, Punjabi, Sindhi, Maithili, Santhali and Dogri, hg. v. Menka Shivdasani, SPARROW 2014. Es ist der vierte von fünf Bänden.
Übersetzung: Nils Plath