Essays

Zeit der Unruhe

Stimmen, die die jahrelangen politischen Unruhen reflektieren, prägen die moderne tamilische Lyrik in Sri Lanka, beobachtet Professor M. A. Nuhman

Die tamilische Lyrik in Sri Lanka hat eine lange Geschichte. Die moderne tamilische Dichtung im eigentlichen Sinn beginnt in den 1940er-Jahren mit einer jüngeren Generation von Autoren, vertreten von Navatkuliyur Nadarajan, Mahakavi und A. N. Kandasami. Deren Lyrik verkörperte romantische, realistische und politisch links orientierte Trends. Bis in die 1960er-Jahre waren sie als Schriftsteller aktiv. Ihnen folgte eine neue Generation mit Murugaiyan, Neelavanan, Sillaiyur Selvarajan und Puradchik Kamaal. Sie gelten noch immer als die wichtigsten Lyriker aus jener Epoche gelten. Was sie auszeichnet ist die Verwendung traditioneller rhythmischer Versformen als Medium poetischen Ausdrucks, zugeschnitten auf den jeweiligen sozialpolitischen Inhalt.

Ab den 1950er-Jahren hatten sowohl der Marxismus als auch der tamilische Nationalismus großen Einfluss auf die Entwicklung der tamilischen Dichtung in Sri Lanka. Obwohl marxistische Einflüsse schon in den späten 40er-Jahren feststellbar sind, setzten sie sich erst in den 60er- und 1970er-Jahren durch. Der tamilische Nationalismus entzündete sich an einer diskriminierenden Regelung in den 1950er-Jahren, die das Singhalesische zur einzigen Amtssprache erklärte. In dieser Zeit begannen sich ethnische Belange von Tamilen in der Lyrik auszudrücken. Der linguistische Nationalismus beherrschte die poetische Sprache bis zum Ende der 1950er-Jahre. In den darauffolgenden Dekaden gelang es verschiedenen Regierungen nicht, den ethnischen Interessen der tamilischen Minderheit gerecht zu werden, was dazu führte, dass nationalistische Kräfte in den 1970er-Jahren wieder Auftrieb gewannen. Diese ebneten dem tamilischen Militarismus und dem Krieg der Separatisten in den 80er-Jahren den Weg. Er sollte dreißig Jahre währen, tausende von Menschen das Leben kosteten sowie unendlich viel Leid, Zerstörung und Vertreibung verursachen – ein Schicksal, das mehr oder weniger alle ethnischen Gruppen im Land traf.

Ein neues Genre des politischen Protests entstand ab 1977 – dem Jahr, in dem eine Serie antitamilischer Attentate sowie ethnische Unruhen in Sri Lanka ihren Lauf nahmen. Tamilische Lyriker begannen, den anhaltenden Krieg und die damit einhergehende willkürliche Gewalt zu reflektieren und reagierten darauf. Ihre Dichtung wurde zunehmend zum primären Vehikel des politischen Widerstands. Nach 1980 schrieb man hauptsächlich Kriegsdichtung, die in der Geschichte der tamilischen Dichtung sehr neu und der modernen palästinensischen Lyrik sehr ähnlich war.

In dieser Zeit traten auch jüngere Talente – weibliche wie männliche – an die Öffentlichkeit. Darunter waren Jayapalan, Cheran, Vilvarathnam, Karunakaran, Solaikkil, Urvasi, Avvai, Sivaramani, Anaar und andere aus tamilisch-sprachigen und muslimischen Ländern. In dieser Zeit war auch die ältere Generation – Lyriker wie Murugaiyan, Nuhman, Sivalingam, Yesurasa, Sivasekaram und andere – noch immer aktiv. Diese Autoren schrieben über ihre Erlebnisse mit ethnischen Konflikten und Krieg. Wiederkehrende Motive sind hier das Erheben der eigenen Stimme gegen Unterdrückung und aus Gewalterfahrungen resultierendes Leid.

Cheran (*1960) wurde in den 1980er-Jahren bekannt. Die folgenden Verse verleihen seiner Wut Ausdruck:

Sag ihm, das Leid soll weitergehen
Erzähl’ ihm die Geschichte von verströmendem Blut
Erzähl ihm, er soll in die Schlacht zieh’n
Um allen Schrecken ein Ende zu bereiten


In diesem Auszug schildert er die Stimmung im kriegsgebeutelten Jaffna:

In den Nächten / sieht fast jeder
schreckliche Träume.
Helikopter fliegen / umgekehrt
bewaffnete Fahrzeuge / fahren über Kinder.

(Ein zweiter Sonnenaufgang. Übersetzt von Lakshmi Holmström und Sascha Ebeling. Navayana, 2013)


Das lyrische Werk von Jayapalan (*1944) wurde ebenfalls in den 80ern bekannt. In wenigen Versen verdichtet sich hier die Erfahrung einer verstreuten und entwurzelten Familie:

Mein Sohn in Jaffna
Meine Frau in Colombo
Mein Vater in Yanni
Meine Mutter in Tamil Nadu
Verwandte in Frankfurt
Meine Schwester in Frankreich
Aber ich,
ein verlorenes Kamel in Alaska
in Oslo
unsere Familien,
die Federn eines Kopfkissens
in die Luft geschleudert
von einem Primatenschicksal?


(Die Erinnerung des Herbstes.
In Das Lied eines Flüchtlings)


Zwei jüngere Entwicklungen – die Stimmen von Frauen in der tamilischen Dichtung und die literarischen Themen der tamilischen Diaspora – sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Seit den 1980er-Jahren traten vermehrt talentierte junge Frauen mit feministischen Anliegen an die Öffentlichkeit, etwa Urvasi, Avvai, Sivaramani, Anar, Aaliyal, Zulfika und Faheema Jahan. So spricht zum Beispiel das lyrische Ich in einem Gedicht von Sivaramani zu ihrem männlichen Peiniger:

Bis meinen Forderungen entsprochen wird
Werden all deine Pfade
Immer schmutzig sein.

(Sivaramani Kavithaigal, 1993)


Dichter wie Aravindan, Thitumavalavan, Aaliyal, Balasooriyan und leben im Exil in europäischen Städten, in Kanada und Australien. In Gedichten der vergangenen drei Dekaden dominieren Themen wie Nostalgie, Entfremdung und Probleme kultureller Assimilation – eine einzigartige Entwicklung in der tamilischen Dichtung.

Die zeitgenössische tamilische Dichtung in Sri Lanka ist vielfältig, sozial engagiert, konkret und zeichnet sich durch eine klare Sprache und einen großen Reichtum an Fantasie aus. Sie ist vor allem die Stimme von Opfern und Unterdrückten.

Anmerkung: Viele zeitgenössische tamilisch-sprachige Gedichte liegen in englischer Übersetzung vor, z.B. in den Anthologien Lute Song and Lament: Tamil Writing from Sri Lanka (2001) und Wilting Laughter: Three Tamil Poets (2009). Beide wurden von Chelva Kanaganayakam herausgegeben und von TSAR Publication, Canada, publiziert. Oben zitierte Verse sind diesen Anthologien entnommen.

MA Nuhman lehrte tamilische Sprache und Literatur an verschiedenen Universitäten in Sri Lanka und im Ausland, und ist Professor Emeritus der University of Peradeniya. In Sri Lanka ist er bekannt als Gelehrter, Dichter, Literaturkritiker, Sprachwissenschaftler und Übersetzer. Als Autor, Herausgeber und Übersetzer hat er bislang 35 Bücher in Tamil und in Englisch veröffentlicht, darunter drei eigene Gedichtbände und vier übersetzte Gedichtbände.
Professor M. A. Nuhman,
Übersetzung: Claudia Richter
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