Essays

Kannadas Wiedererweckung

In den vergangenen beiden Jahrzehnten zeigte die kannadische Dichtung eine Bewegung hin zu reformerischen, individualistischen und nachdenklichen Ansätzen, wobei der Blick in die Vergangenheit der Suche nach ihrer Identität diente.


Seit dem Dichter Pampa (10. Jahrhundert) ist die kannadische Kultur und Dichtung den Pfad der klassischen Tradition weitergegangen. Bei allen Einflüssen durch den Jainismus, Shaivismus und Vaishnavismus war doch der klassische Ansatz bis zum 20. Jahrhundert bestimmend und Metrum, Rhythmik und Rasa blieben die entscheidenden Beurteilungskriterien für die jeweilige Dichtung der Zeit. Im 20. Jahrhundert dann entwickelten sich im Zug der Wiedererweckung Indiens auch in der kannadischen Dichtung neue Ansätze durch frische Stile.

Der Einfluss der Unabhängigkeitsbewegung, die Prinzipien sozialer Gleichheit und reformerische Ansätze wurden von der Gegenwartsdichtung aufgegriffen. Die charakteristische Gefühlsäußerung in der Dichtung wurde von sozialen Themen an die Seite gedrängt. Und die Enttäuschung über unerfüllte sozio-ökonomische und politische Erwartungen nach dem Erlangen der Freiheit führte zu ernsthaften intellektuellen Erkundungen. Der moderne Dichter Gopalakrishna Adiga initiierte die erste Verschiebung: die vom Lied zum Selbstgespräch. Indem es die Narration in der Dichtung dramatisierte, ebnete es den Weg für eine intellektuelle Analyse innerhalb des dichterischen Erfahrung. Dalit- und Bandaya- (Rebellen) Poesie lenkten den Blick abermals auf soziale Themen und die postmoderne Dichtung schließlich umkreiste die fragmentierte Erfahrung in der Gesellschaft. 1 In den beiden letzten Jahrzehnten nahm die kannadische Poesie zahlreiche poetische Formenexperimente aus dem vergangenen Jahrhundert wieder auf. Ihre intellektuelle Selbstpositionierung ist zuallererst eine starke Reaktion auf die sozio-ökonomische Lage – das Verlagen nach Freiheit und Gleichheit. Auch erkennt man innerhalb einer kleinen Gruppe von neuen Dichtern den Wunsch nach Introspektion.

Die ‚Navya‘-Dichter

In der kannadischen Dichtung der beiden vergangenen Jahrzehnte findet man die durch den Einfluss der Globalisierung gewandelte sozio-kulturelle Lage widergespiegelt. Neben den neuen Dichtern dieser Periode setzen viele ältere Poeten, die bereits während der Zeit der modernistischen Navya-Bewegung (seit den Mittfünfzigern) publizierten, ihre Arbeit mit neuen Ansätzen fort. Zu den prominentesten unter ihnen zählen K.V. Tirumalesh, H.S. Venkatesh Murthy und H.S. Shivaprakash.

K.V. Tirumalesh untersucht die fragmentierte Erfahrung in postmodernen Zeiten. In seinem Gedicht Saundarya Lahari (Ästhetische Ekstase) wird die Tempelstatur einer schönen Frau mit dem Eifer einer Frau vor dem Spiegel bei der Schönheitspflege verglichen. Saundarya Lahari gehörte zu einer Sammlung von Hymnen, die der weise Shankaracharya zu Ehren der Göttin Tripura Sundari vor mehr als tausend Jahren schrieb. Im frühen 20. Jahrhundert wurden D.V. Gundappas Gedichte über Skulpturen von Frauen (Shila Balikeyaru) im Belur Tempel als Metaphern für den ästhetischen Wert der weiblichen Schönheit zum Maßstab der Wertschätzung von Ästhetik durch Dichtung. Auf sie antwortet K.V. Tirumalesh in hintergründiger Weise. Die fragmentierte Erfahrung von Realität und künstlerischen Ausdruck ist ebenfalls sein Thema. Sein Gedicht über eine sich anziehende Frau endet mit der Zeile: „Ich weiß nicht, wie ich diese Erfahrung von ästhetischer Schönheit ausdrücken kann.“ 

H.S. Venkateshamurthy (geb. 1944) verwendet eine moderne Bildsprache, um eine Erfahrung zu konstruieren. Er verwirft den Rahmen der Geschichte, wie er von den kannadischen Romantikern verwendet wurde, um die Wahrheit durch individuelle Anschauung zu finden. In seiner jüngsten Gedichtsammlung Uttarayana Mattu (Ananda Kanda Granthamala 2008), in der er die intensive Erfahrung nach dem Tod seiner Frau schildert, entwirft er die Narration, indem er Bilder verwendet, die aus seinem Leben mit ihr stammen.

H.S. Shivaprakash (geb. 1954) erkundet weibliche Stärken als Teil unserer kulturellen Suche. In seinem Gedicht Samagaara Bheemavva 2  (Flickschusters Mutter, Bheemavva) stillt eine Frau aus einer Gemeinde von Unberühbaren ein sterbendes Kind und rettet dessen Leben. Das Kind wächst zu einem weisen Mann heran. Eine Frau dient dem Erhalt der kulturellen Tradition. In seinem jüngsten Gedicht Oh Prana Shakthi Devi (Oh, Göttin der Kraft des Lebens) ruft der Dichter die weibliche Kraft an, um das Böse und die Vergeltungssucht in der heutigen Welt zu vertreiben.

Die neuen Praktiker 

Laxmipathi Kolar, der zur nächsten Generation von Dichtern gehört, ist der Ansicht, kontemplative Schaffenskraft sei der richtige Weg, dem zunehmenden Einfluss des Konsums zu begegnen. Sein Gedicht Hebbettinanthaha Pakshi (Ein daumengroßer Vogel) beschreibt die Schönheit des Lebens miteinander. In einfachen Gesellschaften lag das Geheimnis der Schönheit im Sex und im Verlangen verborgen, wohingegen es im modernen Leben zu einer Sucht geworden ist. In Erkundungen der ursprünglichen Schönheit menschlicher Existenz und im Erspüren der Wonne des Lebens sucht der Dichter den Kern der Wahrheit in der Vergangenheit. Dies geht in seiner Suche nach Identität über den gegenwärtigen Realismus hinaus.

In H.L. Pushpas Gedicht  Pushpavathiyadarenanthe (Was, wenn sie ihre Periode hat) aus der Sammlung Lohada Kannu 3 (Augen aus Metal, publiziert von: Lohiya Prakashana, 2008) wird die gesamte Erde als eine Frau in einem landesüblichen Ritual behandelt. Einmal im Jahr führt das an der Küste gelegene Karnataka ein dreitätiges Ritual zur Menstruationsperiode der Mutter Erde durch, an deren Ende sie ins Haus gelassen wird. Es findet immer vor dem Monsun statt, das Pflügen und die Arbeit auf den Feldern beginnen danach. H.L. Pushpa ändert die Rollen von Mann und Frau nach der Periode und bringt so die kreative Energie weiblicher Kraft zum Vorschein.

Jyothi Guruprasad 4, Autorin der Sammlung Maya Pettige  (Zauberschachtel), verwendet in ihrem Gedicht Ashoka Vana das Bild von Sita, um den gegenwärtigen Tag zu beschreiben.

Lalitha Siddabasavaiah entwickelt in ihrem Gedicht Vakribhavana (Gekrümmte Reflexion in einem Spiegel) den Gedanken, dass die Suche nach dem Selbst auch ein Teil der Befreiung von Genderstereotypen darstellt. Im Gedicht wird genau die Erfahrung eines Blicks in verschiedene Spiegel beschrieben. Am Ende steht ein Ausruf: „Oh, ältere Schwester (Akka), so viele Spiegel habe ich gesehen.“ Die allegorische Referenz in diesen beiden Schlussversen bezieht sich auf die sich befreit fühlende, weise Dichterin Akka Mahadevi aus dem 11. Jahrhundert, die in einem Gedicht die Erscheinung von Lord Shiva beschrieb. Das Gedicht beginnt mit den Worten:  „Oh, ältere Schwester, ich hatte einen Traum“ Wenn Akka also ihre Kraft und Selbstbestätigung durch Shiva erfuhr, so erfährt Lalitha Siddabasavaiah die ihrige durch Spiegel.

In die eigene Vergangenheit zurückzugehen, ist nicht Teil einer Wiedererweckung. Es ist schlichtweg die Suche nach Identität. Dichter wie Arif Raja und S. Manjunath 5 schauen, wie die Möglichkeiten des Mystizismus die sozio-ökonomischen Umstände wiedergeben können. 6 S. Manjunaths Gedicht Paramahamsa Kanda Nona (Die Fliege erblickt vom Weisen mit der ‚großen Seele‘) überprüft das Metaphysische ebenso wie mystische Möglichkeiten. Arif Raja erweckt die Tradition der Sufi-Poeten zu neuem Leben. Für diese ist jedermann vor Gott gleich. K.B. Siddaiah erzählt in seinem Langgedicht Gallebani (eine Schale, die vom Flickschuster genutzt wird, um darin Wasser zum Weichmachen des Leders vorzuhalten) die sozio-religiöse und mystische Erfahrung mittels eben dieses Bildes. 

Mehr als 100 Dichter, die die kannadischer Sprache verwenden, sind in den vergangenen 20 Jahren hervorgetreten. Repräsentative Trends in ihrer Dichtung vorzustellen, soll helfen, die gegenwärtige kannadische Dichtung zu verstehen.

Verweise

  1. rv-mane.blogspot.in/2013/07/the-progressive-literary-and-cultural_3.html
  2. acrazymindseye.wordpress.com/2010/11/03/politics-of-identification/
  3. www.thehindu.com/todays-paper/tp-national/tp-karnataka/five-writers-get-sahitya-academy-honorary-awards/article1629669.ece
  4. www.mangalorean.com/udupi-author-columnist-jyoti-guruprasad-bags-ksp-award-for-the-third-time/
  5. Manjunath
    http://www.museindia.com/focuscontent.asp?issid=43&id=3347
  6. Eine aufsässige Notiz gegen soziale Diskriminierung
    www.museindia.com/focuscontent.asp?issid=43&id=3345
S.R. Vijayashankar, 2016

Übersetzung: Nils Plath