Zeitgenössische Hindi-Dichtung in Indien
Die zeitgenössische Hindi-Dichtung verfolgt hauptsächlich zwei Anliegen: das Lob des einfachen Lebens, und dem Gewöhnlichen und den Unterdrückten eine Stimme zu leihen
Unter den Dichtern, die die Landschaft der zeitgenössischen Hindi-Dichtung prägen, finden sich sowohl gestandene Poeten als auch jüngere Talente, darunter Shree Kunwaranarayan, Kedarnath Singh, Ashok Vajpayee, Vishnu Khare, Rajesh Joshi, Pankaj Singh, Arun Kamal, Vishnu Nagar, Mangalesh Dabral, Asad Zaidi, Gagan Gill, Kumar Ambuj, Katyayani, Anamika und Savita Singh.Die Globalisierung, die Öffnung der Märkte und die Privatisierung haben dazu geführt, dass neue, gnadenlose und unmenschliche Lebensbedingungen auf dem Vormarsch sind. Als Antwort auf den Konsumwahn haben Hindi-Dichter den Reichtum und den Glanz des täglichen Lebens besungen und versucht, dessen Vitalität wieder zu entdecken. Zu beobachten ist u.a. eine Tendenz zur Sparsamkeit in der verbalen Ausgestaltung ihrer Gedichte. Außerdem ist man sich zunehmend seiner Verantwortung im Umgang mit Sprache bewusst; der Widerstandsgeist ist heute deutlicher sichtbar. Beim Nachdenken über die Paradoxien und die Komplexität der heutigen Zeit schreibt Arun Kamal:
Schau, der Mörder bekommt den Thron und die Anerkennung
Wer einen Bissen Fleisch abbekommt darf auch Betelnuss kauen.
(Saboot. Vani Publication, 1999)
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderten sich die Parameter der Widerstandsdichtung, was mit der nachlassenden Wirkmacht des Maoismus und einem Riss, der durch das linke Lager ging, zusammenhing. Der Widerstand wurde subtiler und schärfer zugleich. Nach Vorläufern aus dem linksextremen Lager wie z.B. Gorakh Pandey, Pankaj Singh, Alok Dhanwa, Venugopal und Viren Dangwal, nahm auch die Komplexität und Intensität der Widerstandsdichtung zu. Die Forschheit, die uns in den Gedichten von Nagarjuna oder Dhoomil entgegentritt, hat allerdings nachgelassen. In den Werken dieser beiden Autoren finden sich Beispiele eines durchaus riskanten, kulturellen Widerstands gegen die Ungerechtigkeit der herrschenden Klassen. In diesem Sinne schreibt Pankaj Singh:
Die Ereignisse alter Kleider tragend
Kommen Erinnerungen wie die alte Dame
Die die Braue eines mittellosen Poeten liebkost
Wie Steine die von weit her kommen
Aus einem sprudelnden Fluß aus Blut.
(Aahaten Aaspaas. Rajkamal Publication, 2014)
Die tiefgründige philosophische Suche nach alternativen Formen des poetischen Lebens in der zeitgenössischen Hindi-Dichtung hat die klar umrissene Ideologie ersetzt, der ältere Dichter anhingen. Heute stoßen jüngere Dichter in unbekannte Tiefen vor, um Lebensvisionen zu entwickeln, die der Wirklichkeitsstruktur des heutigen Indiens gerecht werden. Die Allgegenwart der kapitalistischen Weltordnung und ihrer kommerziellen Auswüchse hat den Raum für das ernsthafte Gespräch verdrängt. Zeitgenössische Hindi-Dichtung nimmt die Herausforderung an, die gebotene Ernsthaftigkeit in Form und Inhalt sicher zu stellen. Sie weiß, dass in einer Welt, die auf dem Profitgedanken aufbaut, der einfache Mann der Verlierer ist.
In dem Bestreben, einen bedeutsamen, kulturellen Beitrag zu leisten, haben Vertreter der Hindi-Dichtung ein zunehmend internationales Bewusstsein entwickelt. Man beobachtet Figuren der Auflösung, die den Auswirkungen der Postmoderne geschuldet sind, und die von der allmählichen Ausformung autonomer existentieller Blöcke wie Dalit-, Stammes- oder feministischer Identitäten begleitet werden. In den Werken von Anita Bharti, Rajni Tilak und anderen Dalit-Autorinnen tritt dies besonders deutlich zutage. Obwohl Adivasi-Autoren noch die Anerkennung fehlt, die manchem Dichter aus dem Mainstream zuteil wird, darf Leeladhar Mandloi als Repräsentant eines Stammesbewusstseins gelten. Nach zahlreichen Kämpfen und Widerstandsbewegungen haben sich auch feministische Stimmen im Mainstream etabliert; ihr Werk zeigt den offensichtlichen Einsatz für die Würde der menschlichen Existenz, Identität und Autonomie. In einem ihrer Gedichte fragt Savita Singh „Wessen Frau bin ich?“. Sie antwortet:
Ich bin niemandes Frau
Ich bin meine eigene Frau
Ich esse mein eigenes Essen
Ich esse wann ich will
Ich lasse mich von niemandem schlagen
Und niemand ist mein Herr.
(Apne Jaisa Jeevan. Radhakrishna Publication, 2001)
Seit dieser feministischen Kampfansage haben auch andere Dichterinnen die Unterdrückung der Geschlechter zum Gegenstand ihrer Gedichte gemacht, wobei die Anzahl an weiblichen Autoren stark angestiegen ist. Indem sie Dichtung mit Weiblichkeit verknüpfen haben sie eine neue poetische Sprache geschaffen, die Inhalt und Form miteinschließt.
Die Hindi-Dichtung befasst sich immer noch mit der Ästhetik des sozialen Realismus. Wenn sie sich dabei in ihrer Diktion oder Offenheit gewandelt hat, dann vor allem deshalb, weil sich der Kampf um Veränderung intensiviert hat — auch wenn er sich heute anders ausdrückt. Der Wunsch, die gesamte Bandbreite der menschlichen Erfahrung und das Leben als solches aus dieser Perspektive einzufangen, drückt sich vielleicht in diesem Vers von Rajesh Joshi aus: „Dichtung ist die Magie, Wandel auszulösen.“ Heute ist die Hindi-Dichtung düsterer geworden, melancholischer und innerlicher. Sie verleiht allen Schattierungen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung poetischen Ausdruck, filigranere und subtilere Gedankengänge sind dieser Poesie zueigen. Man macht sich heute mehr ernste Gedanke über Dinge, die das Individuum und das soziale Leben prägen. Lebenszusammenhänge aller Art werden facettenreich und innovativ ausgestaltet, was sich auch mit dem verstärkten Interesse an der poetischen Fixierung trivialer Ereignisse erklären lässt. Lebensereignisse werden in weiten oder subtilen Begriffen beschrieben, wobei die globale Situation, die unsere heutigen Lebenswelten erheblich beeinflusst, nicht ausgeblendet wird. Die neue Flut an Informationen, die Vielfalt von Kommunikationskanälen und die Alphabetisierung führten zu einem Anstieg an Dichtern in abgelegenen Teilen des Landes. Bei feministischen, Dalit- und Adivasi-Dichtern das Streben nach Anerkennung deutlicher spürbar.
In der zeitgenössischen Dichtkunst können wir die Verbindung von subtilen Erkenntnisprozessen, künstlerischer Disziplin und eine ungewöhnliche Intimität beobachten. Auf sprachgestalterischer Ebene macht sich ein neues Selbstbewusstsein bemerkbar, dem sich wohl vor allem talentiertere Dichter verschrieben haben. Mit diesem Selbstbewusstsein bemüht man sich um neue, genauere Analysen als sich irgendwelchen Schlachtrufen anzuschließen.
Die zeitgenössische Hindi-Dichtung hat sich bewusst vorgenommen, die ausgeprägte Sensibilität seiner Kunstform zu bewahren, und sich der zunehmenden Aggression des Staates in den letzten Jahren zu widersetzen. Ashok Vajpayee schreibt hierzu:
Wir wurden gerettet von der Schande
Die wir nicht verschwiegen haben
Nachdem wir die Front verteidigt oder verloren haben
Wir haben uns auch nicht ergeben oder kompromittiert
Wir kämpften, haben verloren und gerade noch überlebt
Das ist wohl kaum eine Heldensage.
(Kavitakosh.org. 2016) Zeitgenössische Dichtung beleuchtet weiterhin die Zerrbilder und vereitelten Lebensentwürfe der gewöhnlichen Leute. Hier finden wir Erzählungen vom Leiden und Schicksal von Menschen, die man ihrer Rechte beraubt. Wir begegnen Tragödien, die das Ergebnis von Verstädterung, Entwurzelung, Entbehrung, Schuldknechtschaft und Kinderarbeit sind. Hier begegnen wir Dichtern, die sich mit der Grammatik der Auflösung sozialer Bindungen und Emotionen befassen. Zahllose Bilder von Armut, Hunger, Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit der Geschlechter und Unterernährung beweisen die Zweckgerichtetheit der zeitgenössischen Hindi-Dichtung. Das Aufkommen von Kommunalismus und den globalen Herausforderungen, die diesen bedingen, sind von der Hindi-Dichtung schonungslos offengelegt worden. Der einfache Mensch ist am meisten von diesem Kommunalismus betroffen. Das Ziel, den Charakter des „gewöhnlichen Menschen“ zu unterstreichen, ist, dessen Gewöhnlichkeit zu benennen; Gewöhnlichkeit im dem Sinne wie ein, sagen wir, Mechaniker, ein Kunsthandwerker, Künstler, ein Arbeiter oder Bauer. Mangalesh Dabral schreibt:
Und als man mich fragte wer bist du
Was verbirgst du in deinem Innern, den Namen eines Feindes?
Irgendeine Religion, einen Talisman
Konnte ich nicht sagen dass gar nichts in mir war
Lediglich ein Färber, ein Mechaniker, ein Kunsthandwerker, ein Künstler, ein Arbeiter
(Naye Yug Mein Shatru. Radhakrishna Publication, 2014)
Die zeitgenössische Hindi-Dichtung nimmt sich der vielfältigen Demütigungen und Chancenungleichheiten im heutigen Indien an, und glänzt mit ihrem Einsatz für Freiheit und Menschenwürde. Sie erreicht dies mit gewöhnlichen Mitteln, erzielt dabei jedoch außergewöhnliche Ergebnisse.
Pranjal Dhar ist 1982 in Gonda (Uttar Pradesh) geboren. Seine Gedichte wurden vielfach veröffentlicht und in mehrere Sprachen übersetzt. Er schreibt regelmäßig Kolumnen für diverse Zeitungen.
Pranjal Dhar
Übersetzung: Claudia Richter
Übersetzung: Claudia Richter