Ein kollektives soziales Bewußtsein – Odia-Dichtung der Gegenwart
Die Thematisierung von sozialen Problemfeldern wie unter anderen der Diskriminierung durch das Kastensystem, der Ausbeutung der Arbeiterschaft und Frauenfragen ist ein Kennzeichen der gegenwärtigen Odia-Dichtung, in der seit der Nach-Befreiungs-Ära unterdrückte Stimmen zu Wort kommen.
Kurz nach 1950 fand der Modernismus westlicher Prägung seinen ersten Widerhall in der Odia-Dichtung. Dies stellte einen fundamentalen Bruch mit den progressiven wie romantischen Strömungen der Zeit dar und sollte die odische Poesie-Szene mehr als zwei Jahrzehnte lang prägen. Auch wenn der Modernismus ein neues Form- und Stilverständnis in die Odia-Dichtung einbrachte, so blieb dieser doch wegen seines scheinbar extremen Individualismus und Obskurantismus dem soziokulturellen Milieu gegenüber fremd. Aus diesem Grund verlor jene Strömung nach und nach wieder an Bedeutung und bereitete anderen poetischen Bewegung in den Achtzigern den Weg, als sich Inhalt und Form der Odia-Dichtung erneut sichtbar wandelten.
Um 1990 hatte die Odia-Dichtung in der Kultur Fuß gefasst. Seitdem gewann ihre poetische Sprache weiter an Transparenz und Ausdrucksstärke, die sie dem Lesepublikum eingängiger machte. Erfahrene Dichter wie Ramakanta Rath, Sitakant Mahapatra, Soubhagya Kumar Mishra, Jagannath Prasad Das, Rajendra Kishore Panda, Harihara Mishra, Pratibha Satpathy und Haraprasad Das setzten ihre Schreibarbeiten auch in den darauffolgenden Jahren fort. In ihrer Dichtung ging es nicht allein um Liebe, Nostalgie und weltliche Bindungen, sondern auch um die philosophische Auseinandersetzung mit den Verwirrungen der menschlichen Existenz.
Die neo-liberale Wirtschaft der Jahre nach 1990 mit ihren Marktkräften und ihrer Konsumkultur beeinflusste das Leben der Menschen wie nichts zuvor. Die neuen Prioritäten trafen die geringverdienenden Bauern und Tagelöhner am empfindlichsten. In Odisha wurde sie zu Wanderarbeitern, die an weit entfernten Orten unter unmenschlichen Verhältnissen arbeiteten. Das ist eines der Themen, das in der Odia-Dichtung seine kritische Betrachtung findet. Prasanna Kumar Mishra schreibt in seinem Gedicht „Truck Dalare Sanatana“ („Sanatana auf dem Laster“):
Auf einem Laster fahren
Sanatana, wohin fährst du?
nach Therubhali oder Damanjodi?
Wohin auch immer du gehst, gibt es Berge.
Und überall müssen die Berge zu Staub zerkleinert warden.
(aus: Truck Dalare Sanatana. Odisha Book Store, 1991)
Sie sind auch Kinder unseres Landes
Janga Jarika
Deori Tiria
Sudam Barla
deren Pfeil und Bogen nutzlos waren
gegen die Polizeikugeln
als Frauen in den Dorfteich sprangen,
um ihr Leben zu retten.
(Bulibara Ichha. in: Jhankar, 2006)
Neben dem Thema der Massenumsiedlung verleihen die fortschrittlichen Dichter aus Odisha mit ihrem starken sozialen Engagement auch dem kollektiven Protest gegen anhaltende Probleme wie Armut, Elend, das Kastenwesen, Gewalt auf lokaler Ebene und Gewalttaten gegen Frauen ihre Stimme. Dichter wie Kumar Hasan, Sadashiba Dash, Hussain Rabigandhi, Aswini Kumar Mishra, Lenin Kumar neben weiteren vertreten dabei einen radikalen Ansatz. Mittlerweile haben Vertreter der jüngeren Generation einen menschenfreundlichen, humanistischen Standpunkt angenommen. Sie sind Realisten, die die Verwirrungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation zu nutzen suchen und Kennzeichen ihrer Dichtung ist ein intensives und einnehmendes Idiom. Dichter wie Biraja Bal, Saroj Mohanty, Kedar Mishra, Bharat Majhi, Durga Prasad Panda, Ajay Pradhan, Pabitramohan Dash, Hemanta Dalpati und viele andere sind darauf bedacht, Innovation mit Hingabe zu Standpunkten zu verbinden. In Biraja Bals „Bonsai“ findet man einen Aufruf an die unterdrückte Menschheit, sich zu befreien:
Eines Tages erzählte ich dem Banyan-Feigenbaum,
dass sich der gesamte Himmel, der sich
von einem Horizont zum anderen erstreckt,
ganz dir gehört, die braun-verkrustete Erde
ist ebenfalls ganz dein.
Du hast die Kraft, um
die härtesten Steine aufzubrechen.
Kannst Du nicht einmal einen Topf aus Beton zerbrechen!
(„Bonsai“, in Indian Literature, No.234, 2006)
Niemand konnte je entscheiden,
ob Unberührbarkeit
eine Farbe oder eine Berührung,
ein Gefühl oder ein Ideal ist;
ob es in dem liegt,
der berührt
oder dem,
der berührt wird.
(„Coaching Centre“, in: Asprushya, Odisha Dalit Sahitya & Art Academy, 2001)
Frage
die aufgeregten Frauen,
die heftig blasen, damit das Feuer nicht erlischt,
während sie feuchtes Feuerholz nachschieben,
wer sie sind.
Nie wissen sie eine Antwort,
Frausein ist eine verwirrende flammende Zungenrede.
(„Pachara / Ask“, in: Chandrabhaga, No.7, 2003)
Übersetzung: Nils Plath