Essays

JENSEITS VON SANGAM, AKAM AND PURAM — Teil 2

Buchcover: Penguin Random House IndiaAuszug aus der Einführung zu Rapids of a Great River: The Penguin Book of Tamil Poetry.

Herausgegeben von Lakshmi Holmström, Subashree Krishnaswamy und K. Srilata.

In Pichamurtis Lyrik begegnen wir ironischen Tönen und einer neuen Umgangssprachlichkeit; seine Gedichte sind oft vom Alltäglichen inspiriert, wie z.B. das Gedicht ‘Kurai’ (Beschwerde), das von Müllsammlern und Lumpensammlern handelt.

Wenn Pichamurti als einer der ersten Lyriker mit der Vergangenheit brach, dann steht der Name Gnanakoothan in der Nachfolge der Ezhuttu Dichter für einen Reifeprozess in der modernen Tamil-Lyrik. Experimenten gegenüber offen und völlig angstfrei in der Themenwahl schreibt Gnanakoothan humorvoll und geistreich über das Leben der einfachen Leute, ähnlich wie sein Vorgänger Pichamurti oder sein Zeitgenosse, der Romanautor Ashokamitran. In seinen Gedichten begegnen wir Charakteren wie dem ‘Cycle Kamalam’ oder dem dynamischen Papierjungen des ‘Paper paiyan’. Der Dorfjunge in dem Gedicht ‘Amma kundum idam’ hat aufgrund seiner persönlichen Erfahrung ein völlig anderes Verständnis vom Zugfahren als der privilegierte Stadtbewohner. Der Sprecher betont:

Ein Zug fuhr durch seinen Geist.
Ein anderer durch meinen.
Auf unterschiedlichen Gleisen.

(Amma kundum idam, ins Englische übertragen von Lakshmi Holmström, Subashree Krishnaswamy und K. Srilata)

Gnanakoothans trockener, ironischer Blick prägt auch das Gedicht ‘Ammavin poigal’ (Ammas Lügen).

Die Ezhuttu Dichter mussten allerdings auch Kritik einstecken. Vanamamalai warf ihnen übermäßige Selbstbezogenheit und Introspektion vor, ihre Bildsprache sei zu skurril und ihre Dichtung — mit Ausnahme von Pichamurti — zu esoterisch und obskur. Im Jahr 1971 entstand ein neues Literaturmagazin namens Vanambadi, das sich als Korrektiv zum Individualismus der vorangehenden Dichtergeneration und als Sprachrohr für sozial benachteiligte Volksgruppen verstand. Diese politisch links stehenden, progressiven Dichter wurden als Vanambadi-Gruppe bekannt (darunter Mu. Mehta, Meera, Puviarasu und Sirpi). Ihre Gedichte waren vorwiegend im freien Vers verfasst, den sie vornehmlich zur Verbreitung politischer Botschaften bemühten. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden hatte die Vanambadi-Gruppe auch großen Einfluss auf jüngere Autoren in Sri Lanka.

In den späten 1970er und 80er Jahren gelang es jüngeren Dichtern wie Kalapriya, Atmanam, Brahmmarajan, Kalyanji, Yuvan und Sukumaran, Selbstbeobachtung und soziales Bewusstsein mit kontemplativer Eleganz zu vereinen. Kalapriya entlehnte seinen poetischen Stil bei der Sprache der Bauern und der Atmosphäre auf dem Land, die ihm so vertraut war. Atmanam ist schwer einzuordnen, aber in seinem Werk vermischen sich Kunst und politisches Bewusstsein; seine vielschichtigen Gedichte funktionieren auf mehreren Bedeutungsebenen.

Es liegt auf der Hand, dass sich die tamilische Dichtung in den 1980er und 90er Jahren für Stimmen aus unterschiedlichen Kontexten öffnete, insbesondere auch für die Stimmen von Frauen und Dalits. Dass Frauen im tamilischen Literaturkanon eine Randstellung einnehmen und einen vergleichsweise geringen Beitrag zur Lyrik geleistet haben ist schon seit der klassischen Zeit feststellbar. Obwohl uns aus der Sangam-Zeit dreißig Dichterinnen bekannt sind gelang es lediglich drei Frauen, sich dauerhaft im tamilischen Lyrikkanon zu etablieren: Aus der Sangam-Zeit ist dies Avvai, nach ihr kommen die beiden Bhakti-Dichterinnen Karaikkal Ammai und Andal.
Tamilische Frauen steuern seit Jahrzehnten Werke zu verschiedenen literarischen Genres bei, aber in der Lyrik sind sie erst seit den 1970er Jahren stärker vertreten. Dichterinnen wie R. Meenakshi publizierten ihre Gedichte schon in den 1970er und 1980er Jahren, aber erst seit den späten 1980er Jahren wurden sie in größerer Zahl in Anthologien und Einzelausgaben veröffentlicht. Dafür gibt es wahrscheinlich verschiedene Gründe, wie z.B. die Präsenz etablierter Autorinnen von Romanen und Kurzgeschichten; die aktive Unterstützung durch Aktivistinnen und Kritiker; und die Ermutigung durch Literaturmagazine wie Kalachuvadu und Kanaiyazhi. Die Selbstsicherheit, mit der viele tamilische Frauen heute über ihr Innenleben schreiben, steht jedenfalls für den tiefgreifenden Wandel, der die ganze Nation in den 70er Jahren erfasste, als Frauen begannen, in vielen Bereichen des modernen Lebens Spuren zu hinterlassen.

Seit den 1990er Jahren ist der weibliche Beitrag zur Tamil-Dichtung durchaus beachtlich. Thematisch handeln die Gedichte von der Mikropolitik des Alltags. Sie eröffnen neue Perspektiven auf Familienbeziehungen, berichteten authentisch über das plötzliche Ende der Kindheit, über triste Ehen und die Freuden und Sorgen der Mutterschaft. Neu und wichtig zu erwähnen ist auch, dass die Autorinnen unverblümt über ihr Körperbewusstsein und ihre Sexualität schreiben.

Das sind völlig neue Themen in der tamilischen Dichtung, in denen eine neue Ästhetik sichtbar wird: ungewöhnliche Bilder und ‚Nahaufnahmen’, sowie eine neue, direktere Sprache, die die konservative Leserschaft zunächst schockierte. Die Dichterinnen hinterfragen das Selbstverständnis und den Gegenstand von Dichtung ebenso wie die Rolle und Funktion des Dichters. Auf den Vorwurf, sie seien zu offen feministisch und schrill, schreibt die Dichterin Vatsala:

Vergib mir…
Meine Gedichte —
In Blut getränkte
Glasscherben —
schmerzen Dich.
Müde von Deinem Arbeitstag,
lehnst Du Dich zurück in Deinem bequemen Sessel,
Du hättest gerne lyrische Gedichte,
die Dein Herz streicheln.

(Kannadi thundugallum malligai pookallum/ Glass pieces and jasmine flowers, ins Englische übersetzt von Lakshmi Holmström, Subashree Krishnaswamy und K. Srilata).

Ganz bewusst bietet sie dem Leser „Glasscherben“ anstelle des Üblichen an, das man von Poesie erwarten würde. In dem bewegenden Gedicht Ilampirai geht es um die materiellen Grundlagen, die das weibliche Schreiben bedingen und begleiten, und um die Beweggründe der Einsendung eines Gedichts bei der Redaktion.

Tut mir leid,
kann Ihnen das beauftragte Gedicht
nicht schicken.


Der Geist ist leer,
der Körper rastlos.
Im Haus meiner Verwandten
Macht mein kleiner Spatz
Gerade seine ersten, wackligen Schritte…

(Irupu nilai 2/Impasse 2, ins Englische übersetzt von Lakshmi Holmström, Subashree Krishnaswamy und K. Srilata).

Neben den in dieser Anthologie vertretenen Dichterinnen gibt es auch noch die Dalit-Dichter: auch sie haben dazu beigetragen, dass die moderne Tamil-Dichtung eine thematische Erweiterung erfuhr und ihre Grenzen neu stecken musste. Die 1990er Jahre waren die Hochzeit der tamilischen Dalit-Literatur, inspiriert von den kulturellen Traditionen der Dalits, insbesondere der darstellenden Künste. Dichter und Romanschriftsteller aus dem Umfeld der Dalit haben maßgeblich dazu beigetragen, bestehende Annahmen über den Literaturkanon sowie ästhetische und grammatikalische Konventionen aufzubrechen. Mit ihrer direkten, dialektischen Sprache und mit rohen Bildern schockieren sie ihre Leser und rütteln sie auf. Mehr noch: die Gedichte laden uns ein, die geschilderten Erfahrungen des Dichters als Dalit nachzuempfinden. Auf diese Weise ist der Leser gezwungen, sein herkömmliches Verständnis von Dichtung zu hinterfragen und seine Weltanschauung zu korrigieren.
Der Textauszug wurde mit Genehmigung von Penguin Random House India ins Deutsche übersetzt und hier wiedergegeben