Essays

FRAGMENTE AUS DEN MEMOIREN EINES ÜBERSETZERS

Goethe Institut

Mit seiner Schilderung der sprachlichen Geschichte seiner eigenen Familie beleuchtet Ranjit Hoskote zugleich die komplexe Unvorhersehbarkeit des Wirkungsraums für Schriftsteller in heutigen Indien.

Hören und Überhören

Ich kann mich an keinen Augenblick meines Lebens erinnern, an dem ich nicht in der ein oder anderen Weise mit dem Übersetzen befasst gewesen bin. Als jemand, der in einer Familie aufwuchs, in der mehrere Sprachen gesprochen wurden, war Übersetzen für mich etwas ganz Alltägliches. Meine Mutter beispielsweise würde einen Satz auf Konkani beginnen und ihn auf Englisch beenden; in Gesprächen benutzte sie Redewendungen von Ghalib in Urdu, ein Zitat aus Basava in Kannada, ein Fragment weltlicher Weisheit aus dem Schatz der subhashitas in Sanskrit. Wir waren Teil eines Teils der Gesellschaft, der ganz früh in der Kolonialzeit bereits anglifiziert worden war. Über Jahrhunderte profitierten wir von den Beziehungen zwischen den Welten der Hindus, Muslims und Ibero-Katholiken. Englisch und Konkani waren bei uns zu Hause gleichberechtigte Muttersprachen. Bis ich sechs oder sieben war, war mir gar nicht bewusst, dass Worte wie ‘dog’, ‘walk’, ‘first-rate’, ‘toaster’, and ‘marmalade’, gar nicht konkani waren, sondern der englischen Sprache angehören.

Unsere diasporische Geschichte hat uns ein vielfältiges sprachliches Erbe hinterlassen: mit einer Sprache, die wir ererbten und die wir doch bis auf einige wichtige Spuren gänzlich vergessen haben (Kashmiri), mit einer weiteren, nämlich durch Gebete geheiligten und auch in der sekularen Moderne gelehrten Sprache (Sanskrit) und noch einer Reihe weiterer Sprachen, die in bestimmten Lebensbereichen Verwendung finden und zur Kommunikation zwischen Nachbarn, Gefolgsleuten oder den Leuten dienten, unter denen meine Angehörigen sich niedergelassen hatten (Kannada, Tulu, Tamil, Marathi, Urdu und Persisch).

In meiner Kindheit machte meine enger Umgang mit den Cousins in Delhi, Hyderabad und denen in der Luftwaffe mein eigenes Verhältnis zur Sprache noch komplizierter: Sie nämlich sprachen außer Englisch als Muttersprache ein gewähltes Hindi. Den wahren Wurzeln der Sprache in Hindustani näher, war diese Hindi-Sprechweise nicht von jenem Pseudo-Sanskrit verdorben, mit dem es die barbarischen ‚Sprachreformer’ im 20. Jahrhundert verschandelten. Aufgrund meiner Nähe zu den Cousins waren meine ersten Worte, die ich je in irgendeiner Sprache äußerte, „Darwaza kholo!” („Öffne die Tür”) – so jedenfalls erzählt es meine Mutter gern. Und da ich im Alter zwischen zwei und sieben in Goa aufwuchs, das damals gerade erst ein Teil der Indischen Republik geworden war, hörte ich viel Portugiesisch. Als ein solcher ‚Zuhörer’ lernte ich, dass ein Übersetzer als ein Spion, als Doppelagent agieren kann.

Sprache als Wahl

Mir waren die Brücken, die ich zwischen den Sprachen überquere, immer sehr bewusst und gegenwärtig, wie auch die verschiedenen Welten, die sie verbinden. Als Kind war es für mich kein Widerspruch, einerseits Fassungen der Mahabharata und Ramayana und anderseits die Ilias und Odyssee, nordische Sagen, Enid Blyton, die Geschichten von Akbar and Birbal (in der Neufassung des Dichters Eunice de Souza, wie ich später erfuhr), und die Panchatantra zu lesen. Das Pendeln zwischen den Sprachen, Kulturen, Zeiten und Orten habe ich immer als eine bereichernde Erfahrung begrüßt. Nie erschien es mir als Bedrohung, war mir vielmehr stets eine Bereicherung für mein eigenes Selbstverständnis.

Von der schädlichen Doktrin von Spracheinheit innerhalb eines Landes, nach der es als Fehler gilt, dass sich die Republik Indien sprachlich aufgeteilt hat, halte ich entsprechend überhaupt nichts. Selbst wenn man sich dafür entscheidet, in nur einer Sprache zu schreiben, so ist doch für mich der einzig gewinnbringende Weg, zu einer eigenen sprachlichen Subjektivität zu gelangen, der zwischen-sprachliche. Bezeichnenderweise sprachen und sprechen die bedeutendsten Kannada-Dichter zu Hause selbst gar kein Kannada, wie ich in einem Gespräch mit dem hervorragenden Schriftsteller Jayant Kaikini erfahren durfte. Das gilt für Masti Venkatesh Iyengar, der daheim Tamilisch sprach, ebenso wie für Girish Karnad (und Kaikini selbst), deren Heimatsprache Konkani ist, wie auch für D R Bendre, dessen Erstsprache Marathi war. ,Kannada-haftigkeit ist weder schicksalsgegeben noch strukturell vorgezeichnet; alle diese Schriftsteller hatten die Wahl unter verschiedenen, ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen und entschieden sich bewusst für Kannada. Die Prägung durch ihre jeweiligen Heimatsprache haben dabei in je eigener Weise Spuren im Schreiben in Kannada hinterlassen, so Kaikini.

Der anglophone Schriftsteller in Indien wird im Allgemeinen mit einer gewissen Verachtung gestraft und muss sich als irgendwie fremdartig, entwurzelt und als ein Verräter an der vorgeblich gemeinsamen Sache einer indischen Identität ausgesondert betrachten lassen. Indische Schriftsteller hingegen, die in ihren jeweiligen Regionalsprachen schreiben, verleihen einer zeitlosen Identität mit ihren Worten Ausdruck, heißt es.

In Wahrheit aber, so beweist es auch Kaikinis Beobachtung, verfehlen solche essentialistischen Vorstellungen jene komplexen Prozesse, in deren Verlauf die Regionalsprachen ihren jeweiligen Modernismus gefunden haben. Sie verfehlen auch die spezifische Art und Sprechweise, durch die sich anerkannte Schriftsteller diese Sprachen angeeignet haben und eben dadurch nicht als reine Sprachrohre einer Identitätsillusion fungieren. Sie verfehlen ganz grundsätzlich die komplex erscheinende Unvorhersehbarkeit der Sprachwelten indischer Schriftsteller, ganz gleich, in welcher Sprache sie oder er schreiben mag.

Wörterbücher

Auf väterlicher Seite sprachen, lasen und schrieben meine Vorfahren seit 1790 Englisch, länger also als die meisten Amerikaner oder Australier. Als Strategen, die sie waren, schlugen sich die Hoskotes bald nach der Niederlage und dem Tod ihres Protektors, des Sultan Tipoo, des Tigers von Mysore, auf die Seite der neu aufstrebenden Macht: der East India Company im Fort St George in Madras. Diese Entscheidung brachte sie in den Einflussbereich britischer Bildung und sorgte über Generationen für ihre fruchtbare Komplizenschaft in allen Angelegenheiten des Empire.

Etwas mehr als ein Jahrhundert später schenkte mein Urgroßonkel, Rao Saheb Ganpat Rau Hoskote, ein Angehöriger der britischen Kolonialverwaltung, seiner Tochter – und wohlgemerkt nicht einem seiner drei Söhne – ein Buch, und dazu einen weisen Rat. „Meistere das Wörterbuch,“ so riet er ihr, „und du wirst die Briten besiegen.“ Meine Großtante wie viele Frauen in ihrer Familie und erweiterten Verwandtschaft erhielten ähnlich klingende Ratschläge und befolgten diese, engagierten sich auf Gebieten wie der Frauenbildung und den Frauenrechten, setzten sich ein ür alte Handwerkstraditionen, die Familienplanung und dem Kampf um die nationale Einheit.

Zu ihnen gehörten Among Kamaladevi Chattopadhyaya, geborene Dhareshwar, Lady Dhanvanthi Rama Rau, geborene Handoo, und Lady Radhabai Subbarayan,, geborene Kudmul. Sie alle sahen sich in ihrem energischen Aktivismus mit Übersetzungsvorgängen konfrontiert: sie wechselten nicht nur zwischen den Sprachen, wenn sie jeweils verschiedene Gruppen und Gemeinschaften als Rednerinnen ansprachen, auch mussten sie zwischen den Kulturen mit ihren Grundannahmen hin- und herwechseln sowie Geschlechterungleichheiten und jene Epistemologien überbrücken, die sich in jede dieser Sprachen eingeschrieben hatten. In ihrer Arbeit mussten sie oftmals neue Wörterbücher, Lexika und Glossare verfassen – ganz buchstäblich im Umgang mit umgangssprachlichen Wendungen oder den Richtlinienprogrammen und Manifesten, in Gesprächen und schließlich in die von ihnen geschaffenen Institutionen.

Dieses Vermächtnis meiner weiblichen Vorfahren ist für mich weiter lebendig. Als Übersetzer bin ich mir immer bewusst, dass sich unter der Oberfläche der Sätze tiefgehende Verwerfungen sozialer und kultureller Kämpfe verbergen. Bewusst auch, dass Übersetzung nicht einfach die Herstellung von Texten auf der fragwürdigen Grundlage von Entsprechung ist, sondern vielmehr die Weitergabe von Impulsen auf stabiler Grundlage von gesuchten und hergestellten Verwandschaften.

Versuchslabor

Als Gast des renommierten International Writing Program der University of Iowa hatte ich 1995 das Glück, mich mit Daniel Weissbort, jenem großartigen und zu selten gewürdigten Beiträger zur globalen Übersetzungsgeschichte im 20. Jahrhundert, anzufreunden und von seiner herzlichen Kollegialität zu profitieren. Gemeinsam mit dem Dichter und Herausgeber Ted Hughes begründete und erhielt er die einflussreiche Serie Modern Poetry in Translation (MPT) und die Zeitschrift Modern Poetry in Translation.

Als Sohn polnischer Juden, der in den Dreißiger Jahren dem 3. Reich entkommen war und nach London kam, wuchs er mit dem Englischen auf, hörte seine Eltern miteinander Französisch sprechen und auf Polnisch reden. Schon in jungen Jahren interessierte er sich für das Russische und die slawischen Sprachen des östlichen Europas. Die MPT sollte dann dem weltumspannenden englischen Lesepublikum – darunter auch Dichtern wie Dilip Chitre und Arun Kolatkar in Indien – erstmals so autoritative ost-europäische Größen wie  Czeslaw Milosz, Zbigniew Herbert, Miroslav Holub und Vasko Popa vorstellen.

Als ich in Iowa ankam, hatte ich bereits mit der Übersetzung von Arbeiten von Lal Ded, einer Dichterin aus dem Kashmir des 14. Jahrhunderts, begonnen, wie auch dem, das als unter dem von mir geprägten Begriff einer „beitragenden Abstammungslinie“ das von ihrer Handschrift geprägte Werk später erweiterte. Dieses Werk mit Danny und seinen Kollegen im Rahmen des von ihm initiierten Workshops – einem Versuchslabor für den Ideenaustausch und die Arbeit an Texten – zu diskutieren, war eine nachdrücklich belebende und bestätigende Erfahrung für meine Arbeit.

Inmitten der dortigen Begleitern auf dem Pfad des Übersetzens wurde mir klar, dass ich nicht einfach aus der Güte meines Herzens heraus übersetze oder um den kulturellen Reichtum als Licht zu bringen, der den Lesern im Englischen als meiner Sprache ansonsten verborgen bliebe. Noch mehr als ein kulturelles oder politisches Projekt ist Übersetzen für mich eine intuitive Erfahrung, eine Lusterfahrung von benennbaren und unbenennbaren Sinnlichkeiten: eine Beschleunigung des Pulses, ein Kribbeln auf der Haut, eine Beschleunigung des Herzschlags, eine Mitteilung, dass sich der Verlauf der Welt ein ganz klein wenig und doch sehr entschieden geändert hat.

Ranjit Hoskote ist Dichter, Kulturtheoretiker und Kurator. Er hat zahlreiche Bücher verfasst, darunter Die Ankunft der Vögel (Hanser, 2006), Kampfabsage (Blessing, 2007) und Central Time (2014).
Ranjit Hoskote, 2015