Delhi Tagebücher
Foto: Goethe-Institut / Andrea Fernandes
Ein Indologe, ein Professor und ein Dichter gehen in eine Bar. Nun, eigentlich in eine Bibliothek, aber was dann passiert, ist nicht weniger amüsant.
Rashmi Dhanwani berichtet über den Workshop Poets Translating Poets in Delhi. Der klar-kalte Woche Anfang November in Delhi bot die perfekte Kulisse für dichterisches Nachdenken. Stein- und Lehmwände zäsurieren die weitläufigen, offenen grünen Räume der Sanskriti Kendra, dem Schauplatz dieser Residency. Inmitten eines Open-Air-Amphitheaters, einer Kunstgalerie, einer Werkstatt für blaue Keramik, Picknickbänken und einer Bibliothek kamen sechs Dichter für diesem zum dritten Mal stattfindenden Workshop Poets Translating Poets (PTP) in Südostasien zusammen.
Die beiden deutschen Dichter Almut Sandig und Gerhard Falkner befaßten sich gemeinsam mit den Dichtern Mangalesh Dabral, Savita Singh, Naseem Shafaie and Shafi Shauqmit mit den sprachlichen Komplexitäten des Hindi und des Kaschmirischen. Jeder der Dichter erschien mit von der Kritik gefeierten Werken und ausgestattet mit einem Schatz von Erzählungen. Fünf Tage lang verhandelten, übersetzten und verwandelten sie Gedichte und Gedanken auf sprachlichen Wegen, die vorher kaum einmal beschritten worden waren.
Durch eben diesen Vorgang öffnen sich sprachliche Felder: durch die experimentelle literarische Praxis einer interlinearen Übersetzung, die es jedem der Dichter erlaubt, die sprachlichen Strukturen der ihm unbekannten Sprache zu erforschen. Zu übersetzen heißt in diesem Zusammenhang, zu verhandeln, Verantwortung zu übernehmen und abzugeben, zu verstehen, zu dekonstruieren und neu zu verpacken – Kennzeichen dieses spannenden Zusammentreffens von Dichtern aus drei verschiedenen Sprachtraditionen.
Foto: Goethe-Institut / Andrea Fernandes
Zu Beginn des Treffens übersetzten die deutsche Dichterin Almut Sandig und die auf Hindi schreibenden Mangalesh Dabral und Savita Singh gegenseitig ihre Gedichte. Ulrike übersetzte Mangleshs Gedicht The Accompanist. Das zur Übersetzung von Ulrike gewählte deutsche Wort bezeichnete eine weibliche Begleitung, doch Mangalesh bestand darauf, dass der ‘Begleiter’ des Musikers in seinem Gedicht männlich sei und die Veränderung hin zur weiblichen Form die Bedeutung des Gedichts verändere. Die Diskussion darüber zog sich über zwei Tage hin, bis sich die unterschiedlichen Standpunkte doch annäherten und beide sich über die Verwendung der richtigen Wörter verständigten.
Später übersetzten Ulrike und die kaschmirischen Dichter Naseem Shafaie und Shafi Shauq auf einer Bank in der Sonne gegenseitig ihre Gedichte. Ulrike ist Indologin und hat früher einmal eine Zeitlang in Indien gelebt. Da sie mindestens eine der indischen Sprachen spricht und auch bereits mit der Kultur des Landes vertraut war, gerieten ihre Übersetzungen sehr verständnisvoll und innig. Auf thematischer Ebene konnten die Dichter sich darauf verständigen, dass es um das Verstehen von Konfliktlagen und Widerstand geht – in Ulrikes Gedicht Schlaflied für alle las man Anklänge an die jüngste Gewalt in Kaschmir und an den Widerstand heraus:
das ist ein Schlaflied für alle, die sich wehren
wenn es ans Einschlafen geht, Schlaflied
für alle, die Widerstand leisten, wenn es heißt:
Licht aus, hier wird nicht gesprochen.
Das Gedicht sorgte für Diskussionen über eine Vielzahl von Themen – von der Rückgabe des Sahitya Akademi-Preises durch eine Reihe von Schriftstellern, über das politische Klima der Intoleranz in Indien bis hin zu dem seit 25 Jahren anhaltenden Kaschmir-Konflikt. Das ‚Vertraute’ trifft man an den unterschiedlichsten Orten, das Dunkle kennt viele Gesichter. Das war es, was die drei Dichter gemeinsam wahrzunehmen begannen – mit Aufmerksamkeit auch für die dunklen Tonfälle und die grauen Flecken der jeweils anderen – und dieser Vorgang hatte seine ‚Anklänge an ein neues Paradigma für den kulturellen Austausch,“ wie es der Direktor des Goethe-Instituts in Mumbai Dr. Martin Wade formulierte.
Nach Ulrikes Überzeugung kann sich noch eine andere Art von Zutrauen in den Übersetzungsprozess ergeben –– so machte sie selbst Vorschläge für Wörter in Hindi, um so ihr Gedicht zu erläutern und den Standpunkt zu verdeutlichen, von dem aus ihre Gedichte entstehen und von dem sie sich ihrer Ansicht nach weiterentwickeln, wobei sie zugleich den kaschmirischen Dichter auch den Raum gab, sich ihre Gedichte in eigener Weise anzueignen. Naseem und Shafi ersannen eine Sprache innerhalb dieses so ausgehandelten Verständnisses, waren in Verlauf dieses Prozesses wiederherstellend tätig und wurden dabei selbst wiederhergestellt.
Auf der anderen Seite saßen die Hindi-Dichter Mangalesh Dabral und Savita Singh in einer kühlen, dunklen Bibliothek mit dem deutschen Dichter Gerhard Falkner. Das Quartett wurde von der Interlinearübersetzerin Namita Khare vervollständigt. Die Zusammensetzung dieser Gruppe war schon einmalig. Gerhard machte sehr deutlich, worauf es ihm ankommt –– indem er jedes Wort genau erläuterte, alle Kontexte umriss und um Deutlichkeit bemüht war. Eines der Gespräche drehte sich um die Verwendung des Wortes Wasser in Mangleshs Gedicht बची हुई जगहें (Die Orte, die übrig blieben):
हम कहीं और चले जाते हैं अपने घरों लोगों अपने पानी और पेड़ों से दूर
मैं जहां से एक पत्थर की तरह खिसक कर चला आया
उस पहाड़ में भी एक छोटी सी जगह बची होगी
"Wir bewegen uns woanders hin, verlassen unsere Heime, unsere Menschen
das Wasser, die Bäume,
wie ein Stein wurde ich vom Berg gewaschen,
an dem Berg muss noch eine Stelle übrig sein“
Rashmi Dhanwani berichtet über den Workshop Poets Translating Poets in Delhi. Der klar-kalte Woche Anfang November in Delhi bot die perfekte Kulisse für dichterisches Nachdenken. Stein- und Lehmwände zäsurieren die weitläufigen, offenen grünen Räume der Sanskriti Kendra, dem Schauplatz dieser Residency. Inmitten eines Open-Air-Amphitheaters, einer Kunstgalerie, einer Werkstatt für blaue Keramik, Picknickbänken und einer Bibliothek kamen sechs Dichter für diesem zum dritten Mal stattfindenden Workshop Poets Translating Poets (PTP) in Südostasien zusammen.
Die beiden deutschen Dichter Almut Sandig und Gerhard Falkner befaßten sich gemeinsam mit den Dichtern Mangalesh Dabral, Savita Singh, Naseem Shafaie and Shafi Shauqmit mit den sprachlichen Komplexitäten des Hindi und des Kaschmirischen. Jeder der Dichter erschien mit von der Kritik gefeierten Werken und ausgestattet mit einem Schatz von Erzählungen. Fünf Tage lang verhandelten, übersetzten und verwandelten sie Gedichte und Gedanken auf sprachlichen Wegen, die vorher kaum einmal beschritten worden waren.
Durch eben diesen Vorgang öffnen sich sprachliche Felder: durch die experimentelle literarische Praxis einer interlinearen Übersetzung, die es jedem der Dichter erlaubt, die sprachlichen Strukturen der ihm unbekannten Sprache zu erforschen. Zu übersetzen heißt in diesem Zusammenhang, zu verhandeln, Verantwortung zu übernehmen und abzugeben, zu verstehen, zu dekonstruieren und neu zu verpacken – Kennzeichen dieses spannenden Zusammentreffens von Dichtern aus drei verschiedenen Sprachtraditionen.
Übersetzung als Aushandeln
'Sinn für Sinn und nicht Wort für Wort, der Schlüssel für gutes Übersetzen ist das Aushandeln,' sagt Umberto Eco. Im Verstehen des Zusammenhangs und durch Aushandeln seiner Komplexitäten erweist sich die gelungene Übersetzung – ein Vorgang, wie er sich während des PTP durchgängig beobachten ließ.Foto: Goethe-Institut / Andrea Fernandes
Zu Beginn des Treffens übersetzten die deutsche Dichterin Almut Sandig und die auf Hindi schreibenden Mangalesh Dabral und Savita Singh gegenseitig ihre Gedichte. Ulrike übersetzte Mangleshs Gedicht The Accompanist. Das zur Übersetzung von Ulrike gewählte deutsche Wort bezeichnete eine weibliche Begleitung, doch Mangalesh bestand darauf, dass der ‘Begleiter’ des Musikers in seinem Gedicht männlich sei und die Veränderung hin zur weiblichen Form die Bedeutung des Gedichts verändere. Die Diskussion darüber zog sich über zwei Tage hin, bis sich die unterschiedlichen Standpunkte doch annäherten und beide sich über die Verwendung der richtigen Wörter verständigten.
Später übersetzten Ulrike und die kaschmirischen Dichter Naseem Shafaie und Shafi Shauq auf einer Bank in der Sonne gegenseitig ihre Gedichte. Ulrike ist Indologin und hat früher einmal eine Zeitlang in Indien gelebt. Da sie mindestens eine der indischen Sprachen spricht und auch bereits mit der Kultur des Landes vertraut war, gerieten ihre Übersetzungen sehr verständnisvoll und innig. Auf thematischer Ebene konnten die Dichter sich darauf verständigen, dass es um das Verstehen von Konfliktlagen und Widerstand geht – in Ulrikes Gedicht Schlaflied für alle las man Anklänge an die jüngste Gewalt in Kaschmir und an den Widerstand heraus:
das ist ein Schlaflied für alle, die sich wehren
wenn es ans Einschlafen geht, Schlaflied
für alle, die Widerstand leisten, wenn es heißt:
Licht aus, hier wird nicht gesprochen.
Das Gedicht sorgte für Diskussionen über eine Vielzahl von Themen – von der Rückgabe des Sahitya Akademi-Preises durch eine Reihe von Schriftstellern, über das politische Klima der Intoleranz in Indien bis hin zu dem seit 25 Jahren anhaltenden Kaschmir-Konflikt. Das ‚Vertraute’ trifft man an den unterschiedlichsten Orten, das Dunkle kennt viele Gesichter. Das war es, was die drei Dichter gemeinsam wahrzunehmen begannen – mit Aufmerksamkeit auch für die dunklen Tonfälle und die grauen Flecken der jeweils anderen – und dieser Vorgang hatte seine ‚Anklänge an ein neues Paradigma für den kulturellen Austausch,“ wie es der Direktor des Goethe-Instituts in Mumbai Dr. Martin Wade formulierte.
Nach Ulrikes Überzeugung kann sich noch eine andere Art von Zutrauen in den Übersetzungsprozess ergeben –– so machte sie selbst Vorschläge für Wörter in Hindi, um so ihr Gedicht zu erläutern und den Standpunkt zu verdeutlichen, von dem aus ihre Gedichte entstehen und von dem sie sich ihrer Ansicht nach weiterentwickeln, wobei sie zugleich den kaschmirischen Dichter auch den Raum gab, sich ihre Gedichte in eigener Weise anzueignen. Naseem und Shafi ersannen eine Sprache innerhalb dieses so ausgehandelten Verständnisses, waren in Verlauf dieses Prozesses wiederherstellend tätig und wurden dabei selbst wiederhergestellt.
Übersetzung und Macht
Foto: Goethe-Institut / Andrea FernandesAuf der anderen Seite saßen die Hindi-Dichter Mangalesh Dabral und Savita Singh in einer kühlen, dunklen Bibliothek mit dem deutschen Dichter Gerhard Falkner. Das Quartett wurde von der Interlinearübersetzerin Namita Khare vervollständigt. Die Zusammensetzung dieser Gruppe war schon einmalig. Gerhard machte sehr deutlich, worauf es ihm ankommt –– indem er jedes Wort genau erläuterte, alle Kontexte umriss und um Deutlichkeit bemüht war. Eines der Gespräche drehte sich um die Verwendung des Wortes Wasser in Mangleshs Gedicht बची हुई जगहें (Die Orte, die übrig blieben):
हम कहीं और चले जाते हैं अपने घरों लोगों अपने पानी और पेड़ों से दूर
मैं जहां से एक पत्थर की तरह खिसक कर चला आया
उस पहाड़ में भी एक छोटी सी जगह बची होगी
"Wir bewegen uns woanders hin, verlassen unsere Heime, unsere Menschen
das Wasser, die Bäume,
wie ein Stein wurde ich vom Berg gewaschen,
an dem Berg muss noch eine Stelle übrig sein“
Gerhard versuchte hier den Verwendungszusammenhang des Wortes paani (Wasser) zu entschlüsseln, das für das Wasser als ein Substantiv oder auch allgemein für Flüsse, Seen und große Wasserflächen (der Heimat) stehen kann. Für Gerhard ist die Verwendung des Wortes als Symbol für alle anderen Vorstellungen von Wasser in der ‚Heimat’ die eigentlich ursprüngliche.
Später erklärte Gerhard, er denke, dass die kaschmirischen und Hindi-Gedichte mehr körperliche Substanz aufwiesen: mehr Masse und Symbolismus. „Wir waren mit dieser Situation vor langer Zeit konfrontiert und haben die überzähligen Worte weggelassen,“ sagt er mit Blick auf den Minimalismus in deutschsprachiger Dichtung. „Es ist meine eigene Entscheidung, aber es ist auch eine Entscheidung, die die Dichter in der westlichen Tradition gemeinsam getroffen haben.“ Das führte zwischen Savita und Gerhard zu einem Gespräch über das Schlüsselproblem der Übersetzung –– ob es darum geht, die ursprüngliche Form mit allen ursprünglichen Bedeutungen zu erhalten (was dem westlichen Publikum befremdlich vorkommt) oder es aber minimalistisch zu machen.
Dieses Dilemma ruft Rudolf Pannwitz Überlegungen zur deutschen Übersetzungstradition im frühen 20. Jahrhundert in Erinnerung, in denen er Übersetzungen vorwirft , sie wollen das „indische griechische englische verdeutschen“ (Pannwitz 1917, S. 240) Diese Kritik verfolgt Übersetzer bis heute. Für Pannwitz war die Rolle des Übersetzers klar: der Übersetzer „muss seine Sprache durch die fremde erweitern und vertiefen“. Die Aktualisierung von Pannwitz’ Vorstellung war eines der Ergebnisse des PTP-Treffens, aber die letztgültige Übersetzung ergibt sich stets aus einer Übereinstimmung zwischen beiden beteiligten Dichtern.
Bedenkt man, dass ein Großteil Südostasiens bis vor siebzig Jahren kolonialisiert war, kann man über Machtverhältnisse in Übersetzungen kaum sprechen, ohne sich mit der postkolonialen Situation zu befassen. ‚Postkoloniale Übersetzungstheoretiker wie Herraldo de Campos in Brasilien, Harish Trivedi in Indien und Sherry Simon in Kanada bestehen darauf, dass die Beschäftigung und die Praxis des Übersetzens stets eine Beschäftigung mit den Herrschaftsstrukturen innerhalb der textuellen Praxis ist, welche die Machtstrukturen innerhalb eines größeren kulturellen Kontextes widerspiegeln.’
Hier allerdings waren sich alle Dichter sehr im Klaren darüber, welche Wendungen sie selbst bei der Aneignung und dem Umgang mit dieser Macht vollziehen.
Savita Singh beispielsweise überließ Gerhard die Entscheidungsgewalt, wodurch sie die Herrschaft über ihre eigenen Werke aufgab. „Ich bin gegenüber meiner eigenen Dichtung nicht besitzanzeigend. Ich weiß sehr wohl um den kulturellen Ballast, der sich in meinen Gedichten in Form und Stil niederschlägt. Ich sehe aber nicht ein, warum Du, Gerhard, diesen Ballast weitertragen musst, wenn Du für ein Lesepublikum übersetzt, welches diesen Ballast nicht kennt. Die deutschsprachige Dichtung hat sich in eigener Weise entwickelt und wenn Du meine Gedichte in entsprechender Weise übersetzen willst, geht das für mich in Ordnung.“
Es ist ein ausgehandeltes hegemoniales Schlachtfeld, das sich als einmaliges Konstrukt im Kontext von Übersetzungen zeigt, bei denen sowohl der Übersetzer wie der Übersetzte anwesend sind. Saviat wurde später zu diesem Austausch und zur ihrer Selbstwahrnehmung als Schöpferin und als Übersetzerin bei diesem Vorgang befragt.
Es erinnert auch daran, was José Ortega y Gasset 1937 als das „Elend“ der Übersetzung bezeichnete, die in ihrer Unmöglichkeit besteht. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Unterschiede nicht sprachlicher Natur, sondern kulturell bedingt sind und von „verschiedenen geistigen Bildern aus unterschiedlichen intellektuellen Systemen“ stammen.
Die Interlinear-Übersetzung bricht den Ursprungstext auf dessen allerkleinste Bestandteile herunter. Übersetzer, die mit dieser Methode nicht vertraut sind, nehmen sie als besonders langsam, als unstet und als etwas wahr, das leicht zu kulturellen Missverständnissen führen kann. Ein Beispiel für so eine Irritation ergab sich durch die deutsche Übersetzung eines kaschmirischen Gedichts durch Dr. Bashir Ahmed. Er übersetzte eine Zeile in Shafis Gedicht The World is a Beautiful Place, in der von einem „hübschen, jugendlichen Mädchen“ die Rede ist, mit den Worten „heiße, unvernünftige Frau“. Das führte zu viel Gelächter, doch Dr. Ahmed erläuterte später im Vertrauen, wie es zu diesem Missverständnis gekommen war. „Die Zeile in Shafis Original hat verschiedene Bedeutungen und ich habe mich an eine von ihnen gehalten und mich so verrannt.“
Das Verführerische bei der Entscheidung, die Begegnung mit der fremden Sprache annehmlicher zu gestalten, kann auch zu einer Herausforderung werden. Namit Dhere sah sich vor die Entscheidung gestellt, entweder den Autor dem Leser (hier, die Übersetzerin) oder aber den Leser dem Autor nahezubringen. „In diesem Fall entschied ich mich dafür, den Leser dem Autor nahezubringen.“ Um dem Übersetzer einen leichteren Zugang zum Werk des Autors zu verschaffen, entschied sie sich unter den vielen möglichen für eine bestimmte Bedeutung, nachdem sie sicher gestellt hatte, dass es in der Übersetzungen in ausreichender Zahl Fußnoten und erläuternde Hinweise geben würde.
Die Dichter waren davon in unvorhersehbarer Weise selbst betroffen. Gerhard übersetzt seit vielen Jahren und hatte dementsprechend ganz andere Erwartungen an den Austausch. „Jeder Übersetzer entwickelt einen Stil – einen Katalog von Forderungen für das, was er von der Übersetzung will. Aber man verändert niemals den Sinn des ursprünglichen Gedichts.“ Für ihn stellten diese Interlinear-Übersetzungen mit verschiedener Stufen von Subjektivität eine Herausforderung mit unvermuteten Ergebnissen dar.
Schlussendlich kann man immer gute Gründe für produktive Inkonsistenzen innerhalb eines solchen Vorgehens anführen. Wie der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges betonte, sollte man diese Widersprüchlichkeiten nicht beklagen, sondern sie feiern und studieren. Nach Ansicht von Borges ist es die „Untreue [des Übersetzers], diese glückliche und produktive Untreue, die uns etwas angeht.“ Verschränkt mit dieser produktiven Untreue sind unvorstellbare Möglichkeiten zum transkulturellen Dialog und zum Verstehen. Im Konzeptpapier zum PTP-Workshop heißt es ganz in diesem Sinne: „Am Ende könnte sich unter anderem ein unvorstellbares literarisches Netzwerk ergeben und die Ausbreitung der Werke über die Grenzen der Kulturen hinaus, in denen sie entstanden.“ Wenn der Workshop in Delhi etwas zeigen konnte, dann, dass wir die blauen Adern dieses Netzwerks auf ihre Weise in Richtung einer neuen Welt haben pochen und sich trotzig bewegen gespürt haben.
Der Workshop des PTP-Projekts in Delhi fand vom 1.-5. November 2015 am Sanskriti Kendra und am Goethe-Institut Delhi statt.
Später erklärte Gerhard, er denke, dass die kaschmirischen und Hindi-Gedichte mehr körperliche Substanz aufwiesen: mehr Masse und Symbolismus. „Wir waren mit dieser Situation vor langer Zeit konfrontiert und haben die überzähligen Worte weggelassen,“ sagt er mit Blick auf den Minimalismus in deutschsprachiger Dichtung. „Es ist meine eigene Entscheidung, aber es ist auch eine Entscheidung, die die Dichter in der westlichen Tradition gemeinsam getroffen haben.“ Das führte zwischen Savita und Gerhard zu einem Gespräch über das Schlüsselproblem der Übersetzung –– ob es darum geht, die ursprüngliche Form mit allen ursprünglichen Bedeutungen zu erhalten (was dem westlichen Publikum befremdlich vorkommt) oder es aber minimalistisch zu machen.
Dieses Dilemma ruft Rudolf Pannwitz Überlegungen zur deutschen Übersetzungstradition im frühen 20. Jahrhundert in Erinnerung, in denen er Übersetzungen vorwirft , sie wollen das „indische griechische englische verdeutschen“ (Pannwitz 1917, S. 240) Diese Kritik verfolgt Übersetzer bis heute. Für Pannwitz war die Rolle des Übersetzers klar: der Übersetzer „muss seine Sprache durch die fremde erweitern und vertiefen“. Die Aktualisierung von Pannwitz’ Vorstellung war eines der Ergebnisse des PTP-Treffens, aber die letztgültige Übersetzung ergibt sich stets aus einer Übereinstimmung zwischen beiden beteiligten Dichtern.
Bedenkt man, dass ein Großteil Südostasiens bis vor siebzig Jahren kolonialisiert war, kann man über Machtverhältnisse in Übersetzungen kaum sprechen, ohne sich mit der postkolonialen Situation zu befassen. ‚Postkoloniale Übersetzungstheoretiker wie Herraldo de Campos in Brasilien, Harish Trivedi in Indien und Sherry Simon in Kanada bestehen darauf, dass die Beschäftigung und die Praxis des Übersetzens stets eine Beschäftigung mit den Herrschaftsstrukturen innerhalb der textuellen Praxis ist, welche die Machtstrukturen innerhalb eines größeren kulturellen Kontextes widerspiegeln.’
Hier allerdings waren sich alle Dichter sehr im Klaren darüber, welche Wendungen sie selbst bei der Aneignung und dem Umgang mit dieser Macht vollziehen.
Savita Singh beispielsweise überließ Gerhard die Entscheidungsgewalt, wodurch sie die Herrschaft über ihre eigenen Werke aufgab. „Ich bin gegenüber meiner eigenen Dichtung nicht besitzanzeigend. Ich weiß sehr wohl um den kulturellen Ballast, der sich in meinen Gedichten in Form und Stil niederschlägt. Ich sehe aber nicht ein, warum Du, Gerhard, diesen Ballast weitertragen musst, wenn Du für ein Lesepublikum übersetzt, welches diesen Ballast nicht kennt. Die deutschsprachige Dichtung hat sich in eigener Weise entwickelt und wenn Du meine Gedichte in entsprechender Weise übersetzen willst, geht das für mich in Ordnung.“
Es ist ein ausgehandeltes hegemoniales Schlachtfeld, das sich als einmaliges Konstrukt im Kontext von Übersetzungen zeigt, bei denen sowohl der Übersetzer wie der Übersetzte anwesend sind. Saviat wurde später zu diesem Austausch und zur ihrer Selbstwahrnehmung als Schöpferin und als Übersetzerin bei diesem Vorgang befragt.
Es erinnert auch daran, was José Ortega y Gasset 1937 als das „Elend“ der Übersetzung bezeichnete, die in ihrer Unmöglichkeit besteht. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Unterschiede nicht sprachlicher Natur, sondern kulturell bedingt sind und von „verschiedenen geistigen Bildern aus unterschiedlichen intellektuellen Systemen“ stammen.
Herausforderungen der Interlinear-Übersetzung
Foto: Goethe-Institut / Andrea FernandesDie Interlinear-Übersetzung bricht den Ursprungstext auf dessen allerkleinste Bestandteile herunter. Übersetzer, die mit dieser Methode nicht vertraut sind, nehmen sie als besonders langsam, als unstet und als etwas wahr, das leicht zu kulturellen Missverständnissen führen kann. Ein Beispiel für so eine Irritation ergab sich durch die deutsche Übersetzung eines kaschmirischen Gedichts durch Dr. Bashir Ahmed. Er übersetzte eine Zeile in Shafis Gedicht The World is a Beautiful Place, in der von einem „hübschen, jugendlichen Mädchen“ die Rede ist, mit den Worten „heiße, unvernünftige Frau“. Das führte zu viel Gelächter, doch Dr. Ahmed erläuterte später im Vertrauen, wie es zu diesem Missverständnis gekommen war. „Die Zeile in Shafis Original hat verschiedene Bedeutungen und ich habe mich an eine von ihnen gehalten und mich so verrannt.“
Das Verführerische bei der Entscheidung, die Begegnung mit der fremden Sprache annehmlicher zu gestalten, kann auch zu einer Herausforderung werden. Namit Dhere sah sich vor die Entscheidung gestellt, entweder den Autor dem Leser (hier, die Übersetzerin) oder aber den Leser dem Autor nahezubringen. „In diesem Fall entschied ich mich dafür, den Leser dem Autor nahezubringen.“ Um dem Übersetzer einen leichteren Zugang zum Werk des Autors zu verschaffen, entschied sie sich unter den vielen möglichen für eine bestimmte Bedeutung, nachdem sie sicher gestellt hatte, dass es in der Übersetzungen in ausreichender Zahl Fußnoten und erläuternde Hinweise geben würde.
Die Dichter waren davon in unvorhersehbarer Weise selbst betroffen. Gerhard übersetzt seit vielen Jahren und hatte dementsprechend ganz andere Erwartungen an den Austausch. „Jeder Übersetzer entwickelt einen Stil – einen Katalog von Forderungen für das, was er von der Übersetzung will. Aber man verändert niemals den Sinn des ursprünglichen Gedichts.“ Für ihn stellten diese Interlinear-Übersetzungen mit verschiedener Stufen von Subjektivität eine Herausforderung mit unvermuteten Ergebnissen dar.
Schlussendlich kann man immer gute Gründe für produktive Inkonsistenzen innerhalb eines solchen Vorgehens anführen. Wie der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges betonte, sollte man diese Widersprüchlichkeiten nicht beklagen, sondern sie feiern und studieren. Nach Ansicht von Borges ist es die „Untreue [des Übersetzers], diese glückliche und produktive Untreue, die uns etwas angeht.“ Verschränkt mit dieser produktiven Untreue sind unvorstellbare Möglichkeiten zum transkulturellen Dialog und zum Verstehen. Im Konzeptpapier zum PTP-Workshop heißt es ganz in diesem Sinne: „Am Ende könnte sich unter anderem ein unvorstellbares literarisches Netzwerk ergeben und die Ausbreitung der Werke über die Grenzen der Kulturen hinaus, in denen sie entstanden.“ Wenn der Workshop in Delhi etwas zeigen konnte, dann, dass wir die blauen Adern dieses Netzwerks auf ihre Weise in Richtung einer neuen Welt haben pochen und sich trotzig bewegen gespürt haben.
Der Workshop des PTP-Projekts in Delhi fand vom 1.-5. November 2015 am Sanskriti Kendra und am Goethe-Institut Delhi statt.
Rashmi Dhanwani
Übersetzung: Nils Plath
Übersetzung: Nils Plath