Chronik

Einige Bemerkungen über meine Arbeiten für Poets Translating Poets: eine Begegnung zwischen Deutsch und Marathi

Poets translating Poets Goethe-Institut; Foto: Andrea Fernandes Foto: Goethe-Institut / Andrea Fernandes

Dass die Literaturübersetzung einen wichtigen Beitrag zur literarischen Kultur leistet wird heute weltweit anerkannt. In der Literaturszene ist das Ansehen des Literaturübersetzers stark gestiegen: er bewältigt eine erfreuliche aber zugleich sehr anspruchsvolle Aufgabe, die viel Hintergrundwissen und Feinsinn erfordert.

Aruna Dhere; Foto: Andrea Fernandes Indien ist ein mehrsprachiges Land und stolz auf seine mehr als 25 offiziellen lebendigen Sprachen samt einer Vielzahl eigenständiger Dialekte. Wir Schriftsteller verleihen unseren Gedanken Ausdruck und haben dabei die reichhaltige indische Kultur im Rücken. Die Kultur selbst ist ein komplexes Gewebe aus Konventionen, traditionellen Überlieferungen und Praktiken.

Das lyrische Schaffen verbindet Dichter und Dichterinnen mit ihrem kulturellen Erbe, an das sie entweder anknüpfen oder mit dem sie brechen – meistens ist es eine Mischform, man führt einige Traditionslinien fort und verwirft andere. Jeder Lyriker bezieht sich anders auf die Gegenwart, da jeder seine Lebenserfahrungen in einem anderen Umfeld mit unterschiedlichen Menschen macht – die Komplexität dieser Faktoren erschwert die allgemeingültige Formulierung des Begriffs ‚indische Lyrik’. Weltlyrik ist deshalb noch schwieriger zu definieren.

Französische, russische, spanische, englische oder deutsche Gedichte zu übersetzen kann nicht nur ein Hobby oder Freizeitvergnügen sein. Gedichte aus anderen Ländern und Sprachen zu lesen, zu verstehen und zu interpretieren bereichert mich auch als Lyrikerin und hilft mir, mich weiterzuentwickeln.

Im Hinblick auf die literarische Übersetzung ist heute eine neue Epoche angebrochen. Vor zweihundert Jahren war Indien in einer ähnlichen Lage, eine neue Ära begann, aber sie endete wieder. Nach beinah einem weiteren Jahrhundert haben wir den Prozess wiederaufgenommen. Das Fortführen unserer literarischen Errungenschaften von einer entscheidenden Epoche in eine andere ist gleichzeitig die Entwicklung des indischen Geistes – unser kluger Zugriff auf die Literatur und die Substanz des Lebens. Das ist unser Weg hin zu einer integrierten Universalität. Die erste Phase war das Ergebnis der Kolonialisierung. In dieser Zeit übersetzten wir hauptsächlich westliche Literatur, vornehmlich aus der englischen Sprache.

Heute ist unser Verständnis von Übersetzung ein anderes, es hat sich erweitert. Wahrhaftige, seriöse Schriftsteller betätigen sich auch als Übersetzer. Um Subodh Sarkar zu zitieren: die Übersetzung ist das Tor zur Demokratie in der Literatur. Die Literatur, die in dem Land wurzelt, in dem sie entsteht, erreicht heute weiter entfernte Orte und ist in vielen Ländern zuhause -- genau wie die indische Diaspora.

Während die ganze Welt in das Experiment der literarischen Demokratie involviert ist, hat das Goethe-Institut – auch bekannt unter dem Namen Max Mueller Bhavan -- die bewusste Entscheidung getroffen, eine Schlüsselrolle in dieser Entwicklung zu spielen. Die Dichtung ist das sensibelste aller Genres. Mit diesem Medium betreten Lyriker aus der ganzen Welt einen gemeinsamen Raum, und haben dabei ihre eigene literarische Kultur, Tradition und ihr kulturelles Erbe im Gepäck. Wenn ein Dichter einen anderen Dichter übersetzt, ist eine seltene Methodologie im Spiel, die unsere besondere Achtung verdient.

Subodh Sarkar zitiert einen anderen Dichterfreund: „Schönheit und Ehrlichkeit sind seltene Gefährten. Heute gibt es so viele von diesen ‚escorted poems’, die im unendlich weiten Meer der Weltliteratur umherschwimmen und das berüchtigte Etikett des Schönen tragen.“

Wenn diese Beobachtung richtig ist, dann gewinnt das Programm des Goethe- Instituts noch mehr Gewicht. Es markiert den Anfang eines sehr bedeutsamen, intensiven und nachhaltigen literarischen Austauschs mittels einer Methode, die sich die Interlinear-Methode nennt, und dabei den Raum für Fehlinterpretation, Unaufrichtigkeit, Ungenauigkeit oder Oberflächlichkeit erheblich reduziert.

Über meine Erfahrung der Teilnahme bei „Poets Translating Poets“:

Der gesamte Vorgang erwies sich als äußerst lehrreich. Ich begegnete der Idee des Übersetzens auf zwei Ebenen:

Zunächst versuchte ich, ein linguistisches Verständnis von der Bedeutung des Wortes, der Semantik, zu gewinnen – gefolgt von der kompletten syntaktischen Struktur des Gedichts.

Dann kam die nächste Ebene, bei der es darum ging, den Geist, die Essenz des Gedichtes zu verstehen.

Und dann ging es darum, die richtigen Wörter zu finden, die Verse zu ordnen und die Struktur des Gedichtes zu bestimmen.

Der interlineare Übersetzer war mir auf der ersten Ebene sehr behilflich. Mit ihrer Hilfe konnte ich viele der feineren Nuancen eines Wortes verstehen. Ein Gedicht von Ulrike Draesner zum Beispiel trug den Titel Rohling – Schulbeginn. Auf Marathi sagt man Kegel. Aber der Übersetzer wies darauf hin, dass Rohling nicht nur Schultüte sondern auch etwas rohes, unbearbeitetes sein kann. Etwas, das noch der Vollendung harrt. – Rohling. Schulbeginn. Selbst der Titel des Gedichts hat zwei unterschiedliche Bedeutungen.

Als ich die semantische Ebene verstanden hatte enthüllte sich auch die Bedeutung des gesamten Gedichts vor meinem geistigen Auge. Mir wurde klar, dass das Symbol des Kegels, der Schultüte, die zentrale Achse des Gedichts bildete. An der Oberfläche spielt es mit der Wortbedeutung des Kegels, während auf der Metaebene das Erlebnis überhöht wird und seine Bedeutung von innen her angereichert wird.

Im Gedicht windet sich ein Band um die Schultüte, mit aufgezeichneten Elefanten – diese Tiere haben einen Sinn für Zeit, sie sind intelligent, haben Gefühle, ein Gedächtnis, sie können weinen. Das Mädchen im Gedicht trägt kleine Schuhe aus Kalbsleder. Es gibt eine Anspielung auf ihre Milchzähne. Diese kleinen und doch bedeutsamen Nuancen werden durch Symbole vertieft und vervollständigen das Erlebnis, das im Gedicht beschrieben wird.

Den besonderen Brauch, einem Kind am ersten Schultag eine Schultüte voller Süßigkeiten zu geben, gibt es schon lange, mindestens seit 1810. In Maharashtra geben wir jemandem, der ein neues Projekt in Angriff nimmt, einen Löffel frischen Joghurt. Ulrikes Gedicht öffnete mir die Tür zum Verständnis dieser deutschen Tradition. Denn die Tüte wurde zum Symbol für das ganze Leben des Kindes, seiner Gegenwart und Zukunft. Danach ging mir die Übersetzung leicht von der Hand.

Ich übersetzte noch ein anderes Gedicht von Ulrike über eine sterbende Maus. Das Bild symbolisiert die sterbende Liebe eines Paares, den Tod ihrer Beziehung.

Beide Gedichte eröffneten mir ein tieferes Verständnis von Ulrikes poetischem Stil. An der Oberfläche erscheinen ihre Texte leicht verständlich und einfach gestrickt, sind aber in Wirklichkeit komplexe Gewebe, in die intensive Erlebnisse und Reflexionen eingeflochten sind.

Ein weiteres faszinierendes Gedicht von Ulrike ist „What is Poetry.“ Der Titel ist englisch. Es ist ein stark auf weiblicher Erfahrung beruhendes Gedicht. Eine Frau – tolerant, gewissenhaft, großzügig, verständnisvoll, direkt aber liebevoll – wird ständig zerrissen und übermannt vom routinemäßigen Geschwätz des Lebens. Unbewusst wartet sie auf den einen, magischen, ruhigen Moment, der ihr ihren eigenen Raum gibt, eine Möglichkeit, sich selbst zu entdecken und ihr eigenes Selbst und die unbeleuchteten Tiefen ihrer schöpferischen Seele zu erforschen.

Es war eine wunderbare Erfahrung, dieses Gedicht zu übersetzen. Wir waren fünf Frauen in der Gruppe -- drei Dichterinnen und zwei Interlinear-Übersetzerinnen -- die in den Übersetzungsprozess involviert waren. Es lief wie am Schnürchen, man verstand sich, daraus entwickelte sich Empathie, und die Übersetzung verlief dementsprechend reibungslos. 

Bei der Übersetzung achteten wir aber auch auf formale Aspekte des Gedichts, und auf den spezifischen poetischen Stil, der den Bedeutungsrahmen erweiterte.

Leere Routine, banale Geschäftigkeit und sinnlose Alltagsaktivitäten werden in langen Prosasätzen beschrieben, es folgte eine bedeutungsschwangere Pause, dann ein stilistisches Element – kurze Verse mit wenigen Worten, das Tempo wurde langsamer und subtil und führte zu einer Erfahrung des inneren Friedens. Wir fühlten uns innerlich miteinander verbunden, spürten Kameradschaft. Hand in Hand ins Niemandsland, jenseits der Sprachen.

Poets translating Poets Goethe-Institut; Foto: Andrea Fernandes Die Gedichte von Thomas Kunst zu übersetzen war eine völlig andere Erfahrung – und gar nicht so einfach. Thomas schreibt fließende Sätze im einfachen Sprachregister, sein Ausdruck ist alles andere als blumig und war etwas ganz Neues für mich -- komplex und auch ein wenig schwierig. Ich würde gerne Begriffe wie modern und postmodern vermeiden, aber bei Kunst verschwimmen die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, beide Zeitdimensionen treffen in regelmäßigen Abständen aufeinander und verschmelzen -- ich beziehe mich auf sein Gedicht über Mombasa Island.

In diesem Gedicht spricht Thomas Kunst über die Liebe. Ich kenne mich mit Liebesbeschreibungen gut aus. Ich kann auch verstehen, wie Gefühle aus der Vergangenheit wie ein Vulkan in die Gegenwart hineinbrechen. Aber in seiner Dichtung erlebt Kunst das Hier und Jetzt in Fleisch und Blut, während er Erlebnisse aus der Vergangenheit einatmet.

Eine Frau steht im Mittelpunkt seiner Erfahrung und Wahrnehmung. Eine Frau, die am Ufer der Vergangenheit steht, macht sein gegenwärtiges Leben bedeutungs- und lustlos. In einem seiner Gedichte ist Hilde gerade spurlos verschwunden – nachdem sich die beiden Liebenden getroffen und Zeit miteinander verbracht hatten. Sie hat aus Versehen (?) ihre Jacke bei ihm vergessen. Der Dichter versucht, die Jacke anzuziehen, die ihm zu eng ist. Er will kleiner werden, um in sie hineinzupassen. Er versucht sich immer noch kleiner zu machen. Vers um Vers wird er kleiner, so klein, dass man sich fragt, ob er in die Jacke oder in den winzigen Körper seiner Geliebten passen will.
Das Gedicht beschreibt den verzweifelten Kampf und die große Schwierigkeit, die damit einhergeht, und sein unablässiges Bemühen, seine Größe zu reduzieren um in die Jacke zu passen. Am Anfang habe ich die innere Semantik des Gedichts überhaupt nicht verstanden, obwohl der Interlinear-Übersetzer eine wörtliche Übersetzung zur Verfügung gestellt hatte. Aber der eigentliche Sinn blieb mir verschlossen.

Ich las das Gedicht immer wieder und hatte plötzlich eine Erleuchtung, als ich begriff, dass es in diesem Gedicht vielleicht um den Prozess der Unterwerfung oder Verschmelzung des höchsten männlichen Egos ging – sicherlich ein schmerzhafter und schwieriger Prozess. Aber für das männliche Prinzip ist die Unterwerfung Vorbedingung für das Verständnis des weiblichen Prinzips.

Das ist vielleicht auch der Grund weshalb Kunst diese männliche Sprache spricht, von seinen körperlichen Anstrengungen schreibt und immer wieder auf die physische Ebene zu sprechen kommt, und dabei gleichzeitig hervorhebt, dass sein physischer Prozess anstrengend ist und ihn schwächt, ihn kraftlos und träge macht.

In diesem Gedicht spricht er zu seiner Geliebten, und gesteht ihr (seine Liebe?). Er hat eine tiefe, intime Beziehung zu ihr. Für mich beschreibt das Gedicht einen Mann, der ernsthaft versucht, eine Frau zu verstehen, und dabei verletzt wird.

Es ist ein Gedicht, das die Herausforderungen und Sorgen eines Mannes beschreibt – ein Gedicht von großer Tiefe, das einen aufrichtigen und wahraftigen Einblick in das Wesen des Dichters gibt. Als ich das verstanden hatte war das Gedicht weder schwer zu verstehen noch zu übersetzen.

Aruna Dhere,
die Originalversion wurde in Marathi verfasst.
Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche: Claudia Richter