Reportagen aus Südasien

Von Chennai nach Trivandrum – Der Zusammenfluss von Kulturen am Ashtamudi-See

Poets translating Poets Goethe-Institut; Foto: Roy SinaiFoto: Goethe-Institut / Roy Sinai

Bericht über das ambitionierte Treffen Poets Translating Poets, bei dem vier Sprachen, neun Dichter und Dichterinnen, drei Übersetzer und Übersetzerinnen sowie ein in letzter Minute sich ergebener Ortswechsel vom regnerischen Chennai ins leicht windige Trivandrum zusammenkamen.

Als die neun Dichter und drei Übersetzer am Leela Raviz Kovalam in Trivandrum eintrafen – einige ohne ihr Gepäck –, konnte ich allgemein ein erleichtertes Seufzen wahrnehmen. Um dorthin gekommen zu sein, hatten sie auf dem Weg einige Hürden nehmen müssen, darunter etliche Kilometer auf der Straße, per Eisenbahn und Flugzeug und schließlich noch die Zustimmung zu einem Wechsel des Tagungsortes in allerletzter Minute. Während die Nachricht über steigende Fluten in Chennai noch die Runde machte, hing Dr. Martin Wälde als Direktor des Goethe-Instituts Mumbai und Projektverantwortlicher für das Poets Translating Poets-Treffen bereits mit dem Goethe-Institut Chennai am Telefon, um einen Alternativplan zu entwerfen. “In Chennai stand das Wasser buchstäblich bis zum Halse, der Flughafen wurde geschlossen und es gab Stromausfälle. So hatten wir nur die Wahl, das Treffen an einen anderen Ort zu verlegen oder ganz ausfallen zu lassen.”

Es ist ein schöner Beleg für die exzellente Teamarbeit der Mitarbeiter der Goethe-Institute in Indien, dass in aller Schnelle ein Alternativplan entworfen und auch ganz reibungslos umgesetzt werden konnte – und dies, obwohl das Dichter-Treffen gemeinsam in Mumbai, Deutschland, Chennai und Trivandrum organisiert wurde. Der Direktor des Goethe-Instituts Chennai Dr. Helmut Schippert in Deutschland und Dr. Wälde sowie Programmleiterin Jayashree Joshi in Mumbai und die Bibliotheksleiterin Geetha Lakshman in Chennai setzten gemeinsam den Notruf ab, das Treffen an das Goethe-Zentrum in Trivandrum zu verlegen. Syed Ibrahim, Direktor des Goethe-Zentrums in Trivandrum, brauchte nur wenige Stunden, um einen Ersatzort zu organisieren, die Reisepläne zu aktualisieren und er brachte uns alle schließlich in das eine zweistündige Autofahrt von Flughafen Trivandrum entfernte Leela Raviz in Kovalam. Als die Dichter am 7. und 8. Dezember nach und nach eintrafen, war ihnen die Erleichterung anzusehen. 

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Ihre Erleichterung hatte nicht zuletzt sicher auch in der wunderbaren Umgebung ihren Grund. Von der an einer kleinen Erhebung gelegenen Anlage hatte man einen unverstellten Blick auf die malerische Wasserlandschaft von Kerela und die vielen kleinen Hausboote, die an den Ufern lagen. Das war die Umgebung, in der die Dichter während der folgenden drei Tage unter sich in Gruppen zusammensaßen und, gewappnet mit schwankenden Silben, unter Kokosnusspalmen über Dichtung diskutierten.

Verschiedene Welten hervorbringen

Die Dichter, Dichterinnen, Übersetzer und Übersetzerin brachten nicht nur vier Sprachen mit in die Runde, sondern gleichzeitig ebenso viele Universen. Die ungarische Dichterin und Übersetzerin Orsolya Kalász aus Berlin, die auf ungarisch wie auf deutsch schreibt, kam mit ihrer sehr persönlichen Erfahrung und dem Wissen, was es heißt, in zwei Sprachwelten zu leben und zu schreiben. Bei Nicolai Kobus, dem Dichter, Übersetzer und Gelegenheitslektor aus Hamburg, stach seine besondere Musikalität und seine Vertrautheit mit den Dichtungstraditionen im Deutschen hervor. Die deutsche postmoderne Dichtungstradition mit all ihren Experimenten, sprachlichen Eigenwilligkeiten und vergeistigten Themen konnte man in den Gedichten von Ulf Stolterfoht aus Berlin kennenlernen, der nebenbei bemerkt auch die Brueterich Press betreibt, einen ganz der Dichtung gewidmeten Kleinverlag.

Auf indischer Seite repräsentierten sechs Dichter und Dichterinnen die Sprachen Tamilisch, Malayalam und Kannada. Sukumaran, einer der Getreuen der modernen tamilischen Dichtung, hat sechs Bände mit Gedichten, sechs Bände mit Essays und Artikeln und einen Roman auf Tamilisch veröffentlicht. Er übersetzt auch von Malyalam ins Tamilische und wurde bekannt, als er die zwei großen Richtungen der tamilischen Dichtung in den Sechzigern und Siebzigern – Introspektion und soziales Engagement – mit reflexiver Anmut zu vereinen begann 1. Sukirtharani, eine Dalit-stämmige feministische Dichterin und Lehrerin, die auf tamilisch schreibt, wirkt kantig und rau – ihre Gedichte attackieren das Kastensystem und liefern eine subalterne Sicht der doppelte Unterdrückung, die Dalit-Frauen erleiden müssen. Ihre Gedichte liefern erstaunliche Ansichten des Lebens der Dalit-Frauen und damit Einsichten in eine Welt, die auf dem globalen Schauplatz der Dichtung nicht oft Aufmerksamkeit findet.

Anitha Thampi und Veerankutty repräsentierten die Stimme der Malayalam. Anitha, eine in Mumbai- und Thiruvananthapuram ansässige Dichterin (und Songschreiberin für Malayalam-Filme), kam mit der weitreichenden Erfahrung, in über zwölf Sprachen übersetzt worden zu sein. In ihren Gedichten geht es um das Weibliche, den Körper und ihr subjektives, gegen das Persönlich-Politische in Stellung gebrachtes Bewusstsein. Veerankutty, ein malayalamischer Professor am Government College in Madappally, der mit seiner Dichtung über die Umwelt und Ökologie bekannt geworden ist, komplettierte das Duo aus Malayalam.

Mamta Sagar, eine kannadaische Dichterin, Theaterautorin und Akademikerin brachte ihre performative Strahlkraft in das Projekt ein. In ihren Gedichten spürt man lyrische Leidenschaft und sie verbindet diese mit einer tiefgehenden Sorge um soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Auf der anderen Seite des Spektrums bewegt sich der kannadaische Dichter, Kurzgeschichtenschreiber und Kolumnist Abdul Rasheed. Abdul hat Hemingway, Rilke, Camus, Rumi, Pushkin und weitere Schriftsteller ins Kannadaische übersetzt. In dieser Gemengelage aus neuen politischen und sozialen Kontexten, Bildern und Klängen begann die Übersetzungsbegegnung.

Aufgrund des engen Zeitrahmens zeigte sich die literarische Gruppe hoch konzentriert und entschlossen, bei aller sich aus ihrer Verschiedenheit ergebenden Komplexität der Aufgabe produktiv zu werden. Die Interlinearübersetzungen der Arbeiten der Dichten waren vorab bereits allen zur Verfügung gestellt worden, doch hier erst wurden sie eigentlich zum Leben erweckt – durch mehrfaches Vortragen der jeweiligen Autoren, durch intensives Erörtern und prüfendes Nachfragen. Nachdem Ulf mehr über den Kontext der Dalit-Kultur hatte erfahren wollen, der Sukirtharanis Arbeiten prägt, wurde Orsolya in den daraufhin folgenden und bis weit in die Nacht reichenden Übersetzungssessions von ihren Gefühlen überwältigt, als die Bedeutung von Sukirtharanis Worten sie dann wirklich traf.

Oben am Mast,
der in meine Vagina gepflanzt ist,
soll die Flagge unserer Freiheit wehen,
gemalt im Rot des Blutes.

(aus: The Flag of Freedom von Sukirtharani)

Die Gemüter erhitzten sich, als sich neue Welten auftaten und selbst ungehindert in die intellektuellen Landschaften der Dichter Eingang erhielten. Ausdrucksformen aus dem interkulturellen Dialog durchmischten sich mit neu entdeckten Ansichten. Das nähere Kennenlernen stiftete neue freundschaftliche Bande. An einem der Abende, als Mamta, Sukirtharani und Anitha während eines Bootsausflugs beieinandersaßen und über alles von Dichtungen über weibliche Körper bis hin zu Männern in Gespräch kamen, konnte man sich ein Gewebe von neuen Beziehungen entspinnen und ein gegenseitiges Verstehen entwickeln sehen.

Von der Abwesenheit und Anwesenheit von Sprachen

Es gibt Welten innerhalb der sich offen zeigenden Welten, die die Meta-Erzählungen von Kultur und Identität in den Schatten stellten. Ihren Platz nahmen subjektive Standpunkte und Sprachen innerhalb von Sprachen ein. Die Herausforderung für Orslya, den Spagat zwischen dem Ungarischen und dem Deutschen zu bewerkstelligen, trat in ihren Gedichten wie auch Gesprächen deutlich hervor.

Wer kommt in meine Sprache?
Frag ich dich
frag du mich
du Schlaflose.
Komm
frag mich doch, du mich doch, ich dich dann wieder.
Gibt es das Tor in deiner Sprache
das auf mein Herzklopfen sich öffnet?
Hör mich doch, du mich doch, ich dich dann wieder.
Was können die Tränen in deiner Sprache?

(aus: Die Sprache gibt den Löffel ab von Orsolya Kalász)

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Dieser innere Widerstreit stieß im vielsprachigen Indien auf großen Widerhall. Hier, wo jedes Kind mehr als zwei Sprachen spricht, empfand man großes Verständnis für Orsoyals Dilemma. Sukumaran formulierte es später so: “Orsolyas Gedichte sprachen mehr zu einem – mit ihren vertrauten Themen und einem mitfühlenden Tonfall mit wärmeren Züge. Im Vergleich dazu war die deutsche Dichtung, die ich kennenlernte, eher intellektuell, vergeistigter.” Dennoch hielt ihn dies nicht davon ab, sich für Eingebungen offen zu zeigen, die einem die Transmutationen bieten. Sukumaran spürte von diesen Gedichten eine neue, ihm von den früher gelesenen älteren deutschen Dichtern so nicht bekannte Energie für Experimentelles ausgehen. “Ich hatte bislang kaum zeitgenössische deutsche Dichter gelesen, so war es eine Freude, sich ganz nah und intensiv mit deren Arbeiten zu befassen. An der Art beispielsweise, wie Nicolai Strukturen verwendet, konnte man viel über den Ausdruck von Ideen ablesen. Er weiß seine Zauberei innerhalb von zwei Sphären auszudrücken: der persönlichen Melancholie eines Menschen und seinem gegebenen Raum in einem einsamen Universum. Seine einsame Stimme reflektiert etwas über das Universum und für das Universum.” Diese Einsicht war für ihn auch ein Impuls, selbst zu experimentieren: “Ich werde nochmals zurückgehen und meine Muster neu zu ordnen versuchen, andere Strukturen benutzen. Es ist ein interessantes Experiment gewesen.” So ein Vorgang führte auch zu kulturell glücklichen Zufällen. Im oben angeführten Gedicht verwendet Orsolya das Word ‘Handkehle’ als eine Metapher für den ‘Nacken’ der Hand, jene Stelle, unterhalb der Handfläche, von der die Finger abgehen.

Dir zeigt sie nur ihre Kehle
die Handkehle.


Im Ungarischen gibt es ein Wort für diese ‘Handkehle’, nicht aber im Deutschen. Es fügte sich gut für ein Gedicht über Mehrsprachigkeit, dass die Dichter aus Malayalam in ihrer Sprache ein entsprechendes Wort für jenes fanden, für das Orsolya im Deutschen eigens ein Wort erfunden und mit eigener Bedeutung versehen hatte. Trotz ihrer Abwesenheit war die ungarische Sprache damit im Gespräch präsent und es kamen so noch weitere nicht voraussehbare Zusammenhänge mit ins Spiel. Annakutty Findeis, die malayalamische Interlinearübersetzerin, drückte es so aus: “Es gibt in jeder Sprache so viele stumme Räume, auf die man hinweisen kann.”

Den Interlinearübersetzern ermöglichte die Auswahl der Dichter einen Einblick in zeitgenössische deutsche Kultur. Der Kannada-Übersetzer MP Rajendra erklärte dazu: “Als letzten hatten wir Günter Grass gelesen, der für uns altbekannte Themen behandelte. Diese Dichter nun brachten etwas ‘Neues’, das meinen Blick auf deutsche Kultur, Kunst und Musik verändert hat.” Bei solchen Entdeckungen war Zurückhaltung angesagt, weil das Subjektive mundtot gemacht und das Objektive vorgezogen wurde. “Ich musste mich gänzlich selbst entleeren und mich zwingen, beim Übersetzen nicht zu urteilen,” so der tamilische Übersetzer P. Seralathan, der sich beim Übersetzen von Walter Benjamins Essay Die Aufgabe des Übersetzers inspirieren ließ. Dieses waren ganz grundsätzliche sprachlinguistische Erkundungen. Daneben gab es auch eine eher auditive Sphäre, in der sich Experimentelles abspielte.

Der Reim in der Dichtung

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Bei solch einer Vielzahl von Verhandlungen untereinander war lautliche Entsprechung ein Maß der Dinge. Mamtas Übersetzung seines Gedichts Das Wespennest kommentierte Nicolai so: “Es klingt, als würden die Phrasierung und Haltung stimmen.” Den Versuch, sich dem Rhythmus des Ursprungsgedichts anzupassen, der sicher auch mit Nicolais dokumentierten besonderen Interesse an der Musikalität der Dichtung zu tun hatte, konnte man während der Arbeitsgespräche wiederholt beobachten. Bei der Übersetzung von Anita Thampis Writing, einem kurzen, gewundenen, Haiku-ähnlichen Gedicht, verbog Kobus die deutsche Sprache so, dass sie dem ursprünglichen Gedicht auf Malayalam entsprach. Er beschrieb die Herausforderung: “Im Deutschen verwendet man lange Wörter, um dieselben Dinge bildlich zu beschreiben. So war es hier besonders schwierig, kurze Worte zu finden.”

Die Dissonanz zwischen den rhythmischen Strukturen wurden auch im tamilisch-deutschen Workshop überaus deutlich.

Da das Tamilische (wie auch das Ungarische) eine agglutinierende Sprache ist, so Seralathan, fehlen ihr Präpositionen und sie gestattet enorme Entgegensetzungen. Im Gegensatz zum Deutschen, das eine flektierende Sprache ist, in der jedes einzelne Worte recht lang sein kann. Dies sorgt bei der Übersetzung für Herausforderungen, will man ähnliche rhythmische Strukturen erzeugen.

Am anderen Ende des Spektrums bewegte sich Mamta Sagar, die das Performative in den Arbeiten der anderen wahrzunehmen verstand. Mamta, die selbst eine Performance-Dichterin ist, brachte die vier Dichterinnen des Workshops am letzten Tag im Goethe-Zentrum Trivandrum für eine öffentliche Performance-Lesung von Orsolyas Gedicht Die Sprache… in allen vier Sprachen zusammen.

Für das mehrzählig malayalamische Publikum, das wohl mindestens zwei der auf der Bühne gesprochenen Sprache verstand, war es eine besondere Erfahrung, mitzuerleben, wie eine Stimme sich durch die verschiedenen Sprachen hindurchbewegte.

Und dies war es genau, wodurch die Erwartungen an den Workshop nicht nur erfüllt, sondern sogar übertroffen wurden. Dr. Schippert sprach es aus: “Ich hätte vorher nicht gedacht, dass die Gespräche und Erforschungen der jeweils anderen Sprache so tiefgründig sein und mit einer solchen Intensität geführt würden.” Und obwohl die Dichter ihrer jeweils eigenen Positionen treu blieben, gab es für sie alle untereinander unerwartete Begegnungen. “Trotz der ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten schien niemand außerhalb der Gruppe zu stehen,” beobachtete er.

Auf dem Weg zum Veranstaltungsort der öffentlichen Lesung entschlossen sich die Dichter, ein Gruppenbild zu machen. Auf ein Zeichen sprangen sie hoch und die Kamera erwischte genau den Augenblick, in dem sie alle wie mitten in der Luft zu stehen scheinen. In dieser Leichtigkeit des Seins erkenne ich jenen Moment, in dem sie alle ihre Sprachen und Bilder losließen und die Tür zu neueren Kulturen öffneten. Amara Lakhous, der in Algerien geborene italienische Autor des Buches Der Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio, bezeichnete das Übersetzen einmal als eine Fahrt von einer Küste zur anderen: „Manchmal sehe ich mich als ein Schmuggler: Ich überquere die Grenze der Sprache mit meiner Beute aus Wörtern, Ideen, Bildern und Metaphern.“ Die neun Dichter und Dichterinnen, drei Übersetzer und Übersetzerin, die an diesem Workshop teilnahmen, waren Schmuggler, die mit ihren Schätzen aus Wörtern von einer Kultur zur anderen flitzten. Mit dem Unterschied, dass mit jeder Fahrt der Schatz noch heller leuchtete – und sogar noch eindrucksvoller!

Verweise

  1. aus: The Rapids of a Great River: The Penguin Book of Tamil Poetry, 2009. Eds Lakshmi Holmstrom, Subashree Krishnaswamy, K. Srilata.

Rashmi Dhanwani
Übersetzung Nils Plath