Reportagen aus Südasien

„VERSschmuggel in Karachi“

Poets translating Poets Goethe-Institut; Foto: Madiha Aijaz Foto: Goethe-Institut / Madiha Aijaz

Auf dem ersten Blick mag Karachi wie ein unaufhaltsam wachsendes Gewusel von Menschen, Autos, Rikshaws und Farben, durchzogen von Verkehrslärm und Fischgeruch wirken. Auf dem Dach eines bunten Touristenbusses sitzend, sehen Deutsche und pakistanische DichterInnen, ÜbersetzerInnen, eine Fotografin und MitarbeiterInnen des Goethe-Instituts dem Treiben Karachis von oben zu.

Dicht unter der Oberfläche dieses Treibens ereignen sich zahlreiche Transformationsprozesse, nebeneinander, übereinander und untereinander, die alltäglich miteinander verhandeln, friedlich oder auch nicht. In dieser „geordneten Unordnung“, wie Laurent Gayer 1 , diese höchst multiethnische und -religiöse Megametropole und die damit zusammenhängende (politische und kriminelle) Gewalt beschreibt, gründen und gestalten die Einwohner dieser Stadt ihre Zufluchtsorte und Räume zum (Er)Leben.

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So finden sich die zwei deutschen, zwei Sindhi-sprachigen und zwei Urdu-sprachigen DichterInnen in genau so einem Raum des Schaffens, im „The Second Floor“ (T2F), zusammen. Es ist ein sehr bekanntes alternatives Café, in dem regelmäßig sozialkritische und kulturelle Veranstaltungen, unter anderem zu Literatur und Poesie, stattfinden 2.

Die beiden aus Ostdeutschland stammenden Dichter, Daniela Danz und Andreas Altmann, kamen mit entsprechender Neugierde und Offenheit nach Pakistan, um ihre Verse auf „die andere Seite zu schmuggeln“. Sie trafen auf sehr verschiedene Charaktere: den in Karachi lebenden Afzal Ahmed Syed, einer der bekanntesten zeitgenössischen Urdu-sprachigen Dichter, der unter anderem seine Erlebnisse aus zwei Bürgerkriegen (1971 in Dhaka und 80er Jahre in Beirut) in seinen Gedichten verarbeitet hat. Ali Akbar Natiq gehört zu den jüngeren ungewöhnlichen Stimmen Pakistans. Er kommt aus einfachen Verhältnissen zwischen Bauern und Handwerkern in einem Dorf aus Punjab und unterrichtet heute kreatives Schreiben in Islamabad. Die zwei Sindhi-Dichterinnen, Attiya Dawood, deren Gedichte von der berühmten Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel übersetzt worden sind, und Amar Sindhu, Philosophie-Professorin an der Universität des Sindh in Jamshoro, gehören zu den gewichtigen Stimmen der Frauenbewegung in Pakistan, vor allem im Sindh. Beide thematisieren die Rolle der Frau in Gesellschaft und Liebe in ihren Werken.

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Vor dem Hintergrund der großen sprachlichen Vielfalt und der vielen bedeutsamen DichterInnen in Pakistan war es naheliegend, neben der Staatssprache Urdu auch Sindhi zu wählen. Nach Punjabi ist Sindhi die am häufigsten gesprochene lokale Sprache in Pakistan. Auch wenn selbst in Karachi, der Hauptstadt der Provinz Sindhs und dem Sitz des Goethe-Instituts Pakistan, nur noch wenige Menschen Sindhi sprechen. So gibt es doch zahlreiche literarische Veranstaltungen, Magazine und Bücher in dieser Sprache, die ihren Namen dem gewaltigen Indusfluss, der durch sie fließt, verdankt. In Deutschland hat sich nach Annemarie Schimmel leider kaum jemand mit dieser Sprache befasst. Auch während der Begegnung in Karachi stellte sich der Übersetzungsprozess zwischen Sindhi-Deutsch/Deutsch-Sindhi als Herausforderung dar. So behalfen sich die DichterInnen, indem sie zum Teil auf Englisch oder Urdu auswichen.

Durch diesen einzigartigen Übersetzungsprozess des „VERSschmuggels“ haben die DichterInnen, die der jeweiligen anderen Sprache nicht mächtig waren, mit der Unterstützung der ÜbersetzerInnen bzw. SprachmittlerInnen, nicht nur die Geschichte und den Kontext des jeweiligen anderen Gedichts erfahren. Sie haben auch ihre eigenen Gedichte aus anderen Blickwinkeln neu entdeckt. Alle DichterInnen berichteten, wie sie einige ihrer Zeilen oder Verse im Zuge dieses intensiven Arbeits-und Austauschprozesses (manchmal auch kritisch) hinterfragten. Vielleicht liegt der „unendlich kleine Punkt“ aus dem Zitat von Walter Benjamin auf der Zunge des/der Übersetzers/in.

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Auf der öffentlichen Lesung zum Ende des Übersetzungsworkshops in T2F war eine der meist gestellten Fragen, ob bei der Übersetzung von der einen zur anderen Sprache etwas oder mehr verloren oder gewonnen wurde? „Gedichte verwandeln sich immer bei der Überfahrt von einem zum anderen Sprachufer. Man kann ihnen nachschauen und winken und sich nicht sicher sein, ob sie zurückwinken. Aber dadurch, dass der übersetzende Dichter und ein Dolmetscher mit im Boot sitzen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich die beiden Gedichte in die Augen sehen können, sich wiedererkennen und einander vertrauen.“, so reflektierte Andreas Altmann für sich. Und alle waren sich einig. Auch wenn es sehr verschiedene sozio-kulturelle Kontexte sind, aus denen die DichterInnen stammen, so verbindet die „Poesie als Weltsprache die Menschen in ihren existenziellsten Dingen miteinander“, da sehr ähnliche bis gleiche Themen aufgegriffen werden, wenn auch in anderen Sprachen, Bildern und Formen.

In seinem Gedicht „Flucht“, beschreibt Ali Akbar Natiq die Erfahrung von Geflüchteten und ihr Schicksal im Exil: „Als die Armee der kalten Winde das fernliegende Land belagerte,/floh die Sonne mit ihren vom Nebel eingewickelten Speeren nach Süden./ Die Vögel der weit entfernten Berge gewahrten die Niederlage/ und zogen, in dieser oder jener Stadt rastend, in die Fremde.(…)“. Vielleicht spricht er von den Geflüchteten 1947, als Indien geteilt wurde und Pakistan entstand, vielleicht von den Geflüchteten 1971, als sich Ostpakistan von Westpakistan abspaltete und Bangladesch entstand, oder vielleicht von den vielen afghanischen Flüchtlingen nach Pakistan in den 90er Jahren oder heute. Daniela Danz, die auch selbst gerne Naturmotive in ihren Gedichten verwendet und diesem Gedicht seine poetische Form gab, empfand es auch für die heutige Flüchtlingssituation in Deutschland und Europa als aktuell. Beim gegenseitigen Vorlesen und Vortragen der Gedichte entwickelte sich eine Diskussion zu Form und Reim, Klang und Rhythmus sowie über die Tradition des Vortragens und der Bedeutung von Dichtung im Alltag in den jeweiligen Ländern. In Südasien gehört Poesie immer noch zum Alltag, als spontane Verschönerung von Momenten und Gesprächen. Die Beziehung zwischen DichterIn und ZuhörerIn ist geprägt von einer intensiven Kommunikation und einer lebendigen Atmosphäre, in der die besonders schönen Stellen eines Gedichts mit lobenden Ausrufen („wah wah!“) bedacht werden.

Unterschiede in der Themenfindung in den Gedichten wurden auch offenbar, denn sie spiegeln die sozio-kulturellen und politischen Bedingungen der jeweiligen Kontexte wider. So meint Daniela Danz, dass die pakistanische Dichtung, die sie bisher kennengelernt hat, im Vergleich zur heutigen deutschen Dichtung „weniger experimentell und mehr vom Bewusstsein gesellschaftlicher Wirksamkeit getragen ist.“ Attiya Dawood z.B., thematisiert in ihrem Gedicht „Ein Bild ohne Farben“ die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau in der Liebe und Partnerschaft, und Afzal Ahmed Syed verarbeitet seine Erfahrungen in kriegsgeschüttelten Zeiten.

Mit viel Liebe zum Detail und Geduld brachten die SprachmittlerInnen den DichterInnen das jeweilige Gegenüber und dessen Selbstverständnis näher. Durch die enge Zusammenarbeit entstand während der sechs Tage ein vertrauensvoller Austausch zwischen DichterInnen und SprachmittlerInnen, die sich in etwa zueinander verhalten wie Original zu Übersetzung. Ähnlich zwar und doch so anders. Eigen, ein jedes und doch nicht ohne Bezug zueinander.

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Verweise

  1. Gayer, Laurent (2014) Karachi: Ordered Disorder and the Struggle for the City, New Delhi: Hurst & Co. Publishers.
  2. T2F ist zuletzt im Frühjahr 2015 in die Schlagzeilen geraten, als die ehemalige couragierte Leiterin des Begegnungscafés offenbar aufgrund ihrer politisch kritischen und aufklärerischen Haltung ermordet worden war.

Nusrat Sheikh