Stigmatisierung der Peripherie
Making Heimat

Tor Pignattara in Rom und Veddel in Hamburg. Stadtteile zweier Metropolen, gebrandmarkt als schwierige Viertel, als soziale Brennpunkte, in die man am besten keinen Fuß setzt, die in der Hand von Einwanderern und Verbrechern sind. Aber jetzt wollen eben diese Viertel diese Wahrnehmung widerlegen, und gerade dank ihrer Einwohner schaffen sie das auch.

Viertel mit sehr schwierigen Situationen

Viertel, die mit sehr schwierigen Situationen konfrontiert waren und teilweise noch sind, die aber nach und nach zu Beispielen für Integration und Zusammenleben werden. Wo die Einwanderer keine Bedrohung des Lebensstils und der persönlichen Sicherheit darstellen, sondern Mitglieder der Gemeinschaft wie alle anderen sind. Mit ihren Unterschieden und Ähnlichkeiten, mit ihren Einwohnern – allen Einwohnern! – sind Tor Pignattara und Veddel die Protagonisten der Begegnung Making Heimat, die das Goethe-Institut als erste im Rahmen seiner neu aufgelegten Diskussionsreihe Auf dem grünen Sofa/Sul divano verde organisiert. Moderiert wird sie von Chiara Nielsen, Vizedirektorin der Zeitschrift Internazionale, Teilnehmer sind Vertreter der beiden Stadtviertel. „Der Titel beschreibt schon den Zweck der Begegnung“, sagt Chiara Nielsen und versucht das schwierig zu übersetzende deutsche Wort „Heimat“ als den Ort zu erklären, wo man sich zu Hause fühlt, der mit dem Gefühl von Glück und der Sicherheit unserer Ursprünge verbunden ist.    

Veddel

Veddel ist eine Insel, auch unter physischem Gesichtspunkt, die mitten in der Stadt liegt. Malte Jelden, Dramaturg und Regisseur, beschreibt sie für uns. Er ist einer der Schöpfer von The Veddel Embassy, einer auf der Biennale in Venedig gezeigten Installation, wo sechzig der fünftausend Einwohner des Multikulti-Stadtteils ihre Geschichte erzählen, über Einwanderung  und Integration in einer Wohngegend mit sehr schwieriger Vergangenheit sprechen und versuchen, die Wahrnehmung ihres Stadtteils zu verändern. Es spricht Fatoumata Aidara, Aktivistin des Viertels, die all seine Veränderungen miterlebt hat, die verschiedenen Communities, die früher streng getrennt voneinander lebten und nun ein neues Gleichgewicht suchen. Oder Uschi Hoffmann, evangelische Diakonin, die ihre Kirche, die einzige in Veddel, zu einem kulturellen Treffpunkt für die verschiedenen Ethnien gemacht hat; er steht allen offen, besonders den Frauen, die oft unter der ihnen aufgezwungenen Abschottung leiden. Veddel ist ihre Botschaft, hier können sie sich entwickeln. Es ist auch der Initiative The Veddel Embassy zu verdanken, dass die Einwohner sich mit der Außenwelt gemessen, mehr Bewusstsein erlangt und gemerkt haben, dass ihr Leben so schlecht nicht ist. Dass das Zusammenleben funktionieren kann.           

Tor Pignattara 

Tor Pignattara hingegen hat fünfzigtausend Einwohner, und hier ist alles schwieriger, auch weil in Hamburg die Institutionen sehr präsent und aktiv sind, während in Rom alles den Bürgerversammlungen überlassen scheint, mit allen Auswirkungen wirtschaftlicher Art, aber auch, was die Anerkennung derer anbelangt, die nicht hier wohnen.
 
Für die Historikerin Stefania Ficacci ist Tor Pignattara seit jeher ein Einwandererviertel, schon seit es sich unter dem faschistischen Regime entwickelte und 1931 schon dreitausend Einwohner hatte. Tor Pignattara war immer schon ein Einfallstor zur Stadt, sagt sie, eine Art Limbo, wo man eine unbestimmte Zeit lang wartet, bevor man nach Rom hineingelassen wird. Der Unterschied war nur, dass es bis vor wenigen Jahrzehnten Italiener aus den anderen Landesteilen waren, die in Tor Pignattara warteten. Heute kommen Menschen aus dem Süden der Welt, und ihr Problem ist weniger, dass sie ausgegrenzt, sondern dass sie unwichtig sind.
 
Die anderen Geschichten aus Tor Pignattara erzählt beispielsweise die Lehrerein und Kulturmittlerin Vania Borsetti; sie spricht über die Schule Pisacane, die wegen des hohen Ausländeranteils erst von italienischen Schülern kaum mehr besucht wurde, um dann ein Beispiel für interkulturelle Integration zu werden. Und über die ausländischen Familien, die sich um die Sicherheit auf den Straßen rund um die Schule „kümmern“, die seit jeher ein Tummelplatz der organisierten Kriminalität sind. Igiaba Scego, Schriftstellerin und Journalistin mit somalischen Wurzeln, berichtet vom Kino Impero, das gerade gegenüber der Schule liegt und seit Jahren geschlossen ist: Es hat einen „Zwilling“ im eritreischen Asmara, und man würde es gern renovieren und wieder eröffnen, vielleicht als Museum zur Aufarbeitung der 60 Jahre, die der italienische Kolonialismus in Afrika dauerte.     

Ammargine

Aber die Vorstädte Roms sind nicht nur Tor Pignattara. Bis zum 28. Januar 2017 wird im Foyer des Goethe-Instituts in der Via Savoia zusammen mit dem Video L’occhio di Tor Pignattara von Lucia Pappalardo auch Ammargine gezeigt, eine Fotoausstellung der Römerin Sara Camilli. Eine Reihe Fotografien aus dem Alltagsleben von Menschen, die am Rand der Stadt und der Gesellschaft stehen, aufgenommen im Viertel Quarticciolo am östlichen Stadtrand und auf der Via Tiburtina, in den Stadtteilen außerhalb der großen Ringstraße Roms. Die 31-jährige Sara Camilli ist studierte Anthropologin, und das sieht man auch – ihre Fotos sind Studien von Menschen, ob sie nun um einen alten gelben Fiat 500 herumstehen, den Hund ausführen oder wie früher in der Osteria Karten spielen, oder ob sie Gesellschaft suchen beim Grillen vor baufälligen Wohnwagen oder in der Kneipe um die Ecke. Fast alle Fotos sind Nachtaufnahmen: „Ich sehe besser in der Nacht“, sagt Sara, „dann absorbiere und verarbeite ich die Erfahrungen des Tages“.