Zukunft der Demokratie
"Kritik ist nicht reserviert für Corona-freie Zeiten"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Boston
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Boston | Foto: Mark Römisch

Von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Unser Grundgesetz – das "Lieblingsbuch der Deutschen". So hieß es voller Stolz und Freude vor genau einem Jahr, als wir landauf, landab den siebzigsten Geburtstag unserer Verfassung feierten. Ich erinnere mich gern an einen sonnigen Nachmittag und an eine festliche Geburtstagskaffeetafel im Park von Schloss Bellevue, an der 250 Bürgerinnen und Bürger aus allen Teilen der Republik Platz genommen hatten, um mit Politikern und Prominenten über die Lage der Demokratie in Deutschland zu diskutieren. Eine kritische, in Teilen selbstkritische Debatte war das, siebzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung. Aber auch ein Austausch voller Selbstbewusstsein und Zuversicht, mit vielen guten Ideen für die Zukunft. Ja, dieser Verfassungs-Geburtstag war eine echte Ermutigung.

Zwölf Monate ist das her, und vieles scheint heute anders. Wie bei vielen Geburtstagskindern in Corona-Zeiten, gibt es auch für das Grundgesetz dieses Jahr keine Party. Mehr noch: Rund um den Verfassungstag ist die Debatte geprägt von Zweifeln und Skepsis. Zweifel darüber, ob Demokratie und föderaler Staat ebenso entschieden mit den Herausforderungen einer weltweiten Pandemie umgehen können wie autokratische Staaten es angeblich tun. Skepsis, ob uns die Maßnahmen zur Pandemiebeschränkung dauerhaft Freiheit kosten werden. Und manch einer stimmt gar die Totenklage an, wittert staatlichen Missbrauch und sieht dunkle Mächte am Werk, die Fragen unterdrücken, Antworten verweigern, um Kasse zu machen oder eine Unrechtsherrschaft zu etablieren.

Ein Jahr nach einem ermutigenden siebzigsten Geburtstag unserer Verfassung also Anlass für Kleinmut, Vertrauensentzug oder gar Apokalypse? Ganz und gar nicht!

Wie lebendig unsere Demokratie, wie tief verankert und wie hoch geschätzt ihre Grundwerte sind, das zeigt sich doch gerade jetzt in dieser Krise. Denn so sinnvoll und maßvoll die Entscheidungen von Bundes- und Landesregierungen aus meiner Sicht sind: Ich freue mich darüber, dass sie lebhaft diskutiert werden, dass über sie gestritten wird, beinah vom ersten Tag an. Kritik ist nicht reserviert für Corona-freie Zeiten! Wenn die Corona-Krise ein Test für die Demokratie ist, der Gesellschaften und politische Systeme weltweit auf die Probe stellt, dann sind viele autokratisch regierte Staaten den Beweis für ihre vorgebliche Effizienz und Schnelligkeit bislang schuldig geblieben. Unsere demokratische Grundordnung hingegen bewährt sich auch in der Pandemie. Unserem Land, uns allen gemeinsam ist es gelungen, die Infektionskurve abzuflachen, so dass wir schmerzhafte Beschränkungen bereits wieder lockern können. Und diesen gesamtgesellschaftlichen Kraftakt leisten wir nicht etwa, weil eine eiserne Hand uns dazu zwingt. Sondern weil wir eine lebendige Demokratie mit verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürgern sind. Eine lebendige Demokratie, in der die Parlamente die Maßnahmen von Regierung und Verwaltung kontrollieren, in der unabhängige Gerichte jeder und jedem – auch jetzt – die Möglichkeit geben, Recht einzuklagen, und in der die föderale Ordnung es in der jetzigen Phase des Infektionsverlaufs möglich macht, regional angepasst zu reagieren.

Ja, die gegenwärtigen Einschnitte in unsere Freiheitsrechte spüren wir alle, sie sind massiv und sie sind einmalig in unserer Geschichte. Doch sie sind kein Selbstzweck. Sie dienen dem Schutz von Gesundheit und Leben. Nur deshalb sind sie beschlossen worden, nur deshalb können wir sie ertragen. Das Grundgesetz stellt beides unter hohen Schutz: unsere Freiheit und unser Leben. Beides kann durchaus in Widerstreit geraten. Aber dass das Grundrecht des einen dort seine Grenze findet, wo das Grundrecht eines anderen beginnt – das ist verfassungsrechtliche Normalität, nicht schon eine Krise des freiheitlichen Verfassungsstaats. Ich bin überzeugt: Das Grundgesetz wird diese Pandemie überdauern, ohne Schaden zu nehmen. Es spricht nichts für die Befürchtung, dass die Beschränkungen nicht wieder aufgehoben werden, sobald die Entwicklung der Pandemie das erlaubt. Das Grundgesetz gehört in keine Risikogruppe – nicht nur, weil 71 Jahre für eine Verfassung kein Alter sind.

Freiheit und staatlicher Schutzauftrag gehören untrennbar zusammen. Den Ausgleich zwischen ihnen zu finden, ist Aufgabe der Politik. Ich würde sagen: Es ist zurzeit eine ihrer schwersten Aufgaben. Denn es gibt in dieser Krise kein Drehbuch und keine Gebrauchsanleitung, weder eine epidemiologische noch eine rechtliche. Wir wissen weiterhin nicht genug über das Virus. Und wir können nicht abschätzen, wann die Pandemie überwunden ist. Aber auch wo die Umstände nicht eindeutig sind, muss die Politik trotz aller Ungewissheiten entscheiden – nach bestem Wissen und Gewissen. Sie muss entscheiden zwischen der Angst vieler Menschen um ihre Gesundheit und der Angst anderer um ihren Arbeitsplatz; zwischen den Abstandsgeboten und den Sorgen vor Vereinsamung; zwischen der Sehnsucht nach Normalität der Gesunden und dem Schutz der Kranken. Ich bin froh, dass unsere Regierungen in Bund und Ländern diese Verantwortung wahrnehmen. Dass sie ihre Entscheidungen an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren, die sich stetig weiterentwickeln, dass sie flexibel bleiben, auf neues Wissen und veränderte Empfehlungen zu reagieren. Dass sie gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen der verhängten Maßnahmen ermessen und widerstreitende Interessen einbeziehen. Völlig klar: Dabei werden auch Fehler gemacht. Im Zweifel müssen diese korrigiert werden. Auch dafür brauchen wir eine lebendige, strittige Debatte, eine starke Opposition im Parlament und eine kritische Öffentlichkeit. Politik kann nur besser werden, wenn sie herausgefordert ist, sich zu erklären, zu rechtfertigen, neu abzuwägen.

Dieses Ringen um den besten Weg aus der Krise hat aber nichts gemein mit denen, die Verunsicherung und Unzufriedenheit nutzen, um Stimmung gegen "die da oben" zu machen. Die ihre vergifteten Ideen in die Debatten einträufeln, um Zweifel am Sinn und der Rechtmäßigkeit demokratischer Verfahren zu säen. Die berechtigte Sorgen vor der Zukunft für ihre eigenen politischen Zwecke instrumentalisieren. So spinnert manche Verschwörungstheorie auch daher kommen mag – vergessen wir nicht, dass hinter ihr harte politische Ziele stehen, die wir nicht ignorieren dürfen. Die Diskreditierung von gewählten Volksvertretern und der seriösen Berichterstattung, von demokratischen Verfahren, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Vernunft: Das ist nichts weniger als ein Angriff auf unsere Demokratie, und just auf die Freiheit, die sie angeblich verteidigt. Diesen Angriff müssen wir gemeinsam abwehren – gerade, aber nicht nur am 71. Geburtstag des Grundgesetzes.

Ohne Vertrauen kann ein demokratisches Gemeinwesen nicht funktionieren. Die Menschen in Deutschland vertrauen auf das Grundgesetz. Sie können es, weil der Schutz der Grundrechte in unserem Land seit 71 Jahren höchste Priorität hat. Das bleibt bis heute ein Ansporn für unsere Demokratie. Eine Verfassung ist ein Versprechen; und wenn die Wirklichkeit hinter diesem Versprechen zurückbleibt, dann ist jeder Demokrat und jede Demokratin aufgerufen: Es möge noch besser werden! Ja, gemeinsam können wir die Dinge zum Besseren wenden.

Und das ist auch mein Wunsch zum 71. Geburtstag unserer Verfassung. Bauen wir gemeinsam auf unsere starken Institutionen, auf unsere Grundwerte und das Versprechen, das unser Grundgesetz gibt: ein Leben in Würde und Freiheit, in einem vereinten, freien und demokratischen Europa. Seien wir solidarisch, mit den Kranken und von der Krise Gebeutelten im eigenen Land ebenso wie mit unseren Nachbarn in Europa, die teilweise weit härter getroffen sind als wir. Und vor allem: Bewahren wir uns unsere Zuversicht! Wir sind als wohlhabende, soziale Volkswirtschaft, als starke Demokratie, als wiedervereintes Land, in Freundschaft mit unseren Nachbarn und der Welt in diese Krise hineingegangen. Und als solche können wir auch aus ihr hinausgehen. Es möge besser werden – machen wir es besser.

Der Text erschien zuerst am 23. Mai 2020 als Namensbeitrag in der Süddeutschen Zeitung. Das Goethe-Institut Tokyo verwendet ihn mit freundlicher Genehmigung der Pressestelle des Bundespräsidialamts. 
 

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