Theaterautor, Regisseur, Schriftsteller und Gründer der Kompanie Chelfitsch
Toshiki Okada: Die Erfahrung der Interkontextualisierung

Toshiki Okada
Toshiki Okada | © Kikuko Usuyama

Toshiki Okada, Theaterautor, Regisseur, Schriftsteller und Gründer der Kompanie Chelfitsch im Interview mit Makiko Yamaguchi, Kommunikation & Öffentlichkeitsarbeit, Goethe-Institut Tokyo.
 

Begegnung mit Theater in Deutschland

The Vacuum Cleaner
The Vacuum Cleaner | © Julian Baumann

Makiko Yamaguchi (MY): Toshiki, Du hast unter der Intendanz von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen vier Inszenierungen erarbeitet. Die vierte Arbeit The Vacuum Cleaner wurde als eine der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des Jahres zum Berliner Theatertreffen 2020 eingeladen. Einige Regisseure*innen in Deutschland sagen, sie seien Fans Deiner Arbeit. Wann kamst Du eigentlich zum ersten Mal mit dem Theater und der Theaterwelt in Deutschland in Kontakt?

Toshiki Okada (TO): Ich glaube, ich habe während des „Deutschland in Japan“-Jahres 2005 in Tokyo zum ersten Mal Theater aus Deutschland gesehen. Es war die Berliner Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz mit Endstation Amerika, inszeniert von Frank Castorf. Weil man mit einer ganz anderen Haltung an die Produktion eines Werkes herangeht, fand ich das sehr spannend. Ich hatte den Eindruck, dass man mit dem Schaffensprozess ganz anders umgeht.

MY: Es gab sogar Leute, die sagten, das sei wie bei der japanischen Komikergruppe The Drifters.

TO: Ja, das kann ich nachvollziehen. Du meinst, weil eine wahnsinnig aufwändige Bühnenmaschinerie auf alberne Weise eingesetzt wird? (lacht) Ich habe auch Soylent Green ist Menschenfleisch, sagt es allen weiter! (2006, tpt) gesehen, eine Inszenierung von René Pollesch mit japanischen Schauspieler*innen. In einer japanischen Theaterzeitschrift habe ich außerdem die Übersetzung eines Theatertextes von Pollesch gelesen - Stadt als Beute. Bis dahin war ich noch nie in Deutschland gewesen und hatte mich auch nicht besonders für Deutschland interessiert. In diesem Sinne war „Deutschland in Japan“ ein guter Anlass.

MY: 2006 wurdest Du zu den Mühlheimer Theatertagen eingeladen.

TO: Das war das Jahr, in dem in Deutschland die Fußballweltmeisterschaft ausgetragen wurde. Die Mühlheimer Theatertage haben in einem Sonderprojekt jeweils einen Vertreter aus jedem der 32 WM-Länder eingeladen. Aus irgendeinem Grund habe ich damals Japan repräsentiert. Das war mein erster Deutschlandaufenthalt.

MY: Hast Du die 32 Theaterautor*innen auch alle wirklich getroffen?

TO: Ja. Wir haben zum Beispiel die Rollen im Endspiel von Samuel Beckett aufgeteilt und jeder in der Sprache seines Landes gelesen, Präsentationen über die eigene Arbeit gemacht oder dieses Fußball-Spiel gespielt, wo die Spieler auf Stangen aufgespießt sind...

MY: Tischfußball?

TO: Genau! Wir waren analog zu den WM-Gruppen in Teams aufgeteilt und sind gegeneinander angetreten (lacht). Das war das erste Mal, dass ich überhaupt mit einem Kickertisch in Berührung kam, deshalb fand ich es extrem schwierig! Es gibt mehrere Griffstangen, die man alleine bedienen muss. Die anderen konnten das alle total gut! Wahrscheinlich spielen sie das in den Kneipen zur Unterhaltung, so wie Billard. Ich habe auf jeden Fall haushoch verloren (lacht). Ich wurde auch zu einer Exkursion mitgenommen, in eine ehemalige Kohlegrube im Ruhrgebiet. Das war das erste Mal, dass ich an einem internationalen Programm teilgenommen habe.

MY: Im Jahr darauf wurde in Brüssel Five Days in March gezeigt und hat einen regelrechten Boom ausgelöst. Auch Matthias Lilienthal hat das Stück damals gesehen.

TO: Ja, ich glaube, er hat die Aufführung am zweiten Tag gesehen. Damals habe ich ihn zum ersten Mal getroffen und mich ein bisschen mit ihm unterhalten. Er sagte zu mir, dass ihm die Vorstellung sehr gefallen habe.

Uraufführungen 2009 am HAU Berlin und 2014 Theater der Welt in Mannheim

MY: Ein Jahr später wurde Five Days in March nach Berlin ins HAU eingeladen, dessen Intendant Matthias damals war.

TO: Damals war ich zum ersten Mal in Berlin. Vor europäischem Publikum habe ich ab 2007 regelmäßig Aufführungen gezeigt. Das Gastspiel am HAU war mein erstes in Deutschland, und ich hatte das Gefühl, dass das Publikum in Deutschland irgendwie anders ist - die Konzentration oder Haltung, mit der man Dinge aufsaugen will. Weil ich meine Stücke seitdem oft in Deutschland gezeigt habe, weiß ich in der Rückschau nicht mehr, was ich beim allerersten Mal gespürt habe, aber ich merkte, dass irgendetwas anders war.

MY: Du bist begeistert aufgenommen worden. Das Berliner Publikum ist eigentlich sehr kritisch und kennt kein Pardon. Du hast dann für das folgende Jahr den Auftrag für ein neues Stück erhalten.

TO: 2008 haben wir im Büro über das nächste Jahr gesprochen, und ich sollte Matthias meine neueren Arbeiten zeigen. Air Conditioner gefiel ihm besonders, woraus dann die Idee zu Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech entstand.

MY: Das Stück hatte im Herbst 2009 seine Weltpremiere in Berlin. Ich kann mich gut erinnern, dass die Kolleg*innen vom HAU nach der Generalprobe ganz aufgeregt waren.

TO: Ich dagegen kann mich gar nicht daran erinnern... Damals begannen die Gastspiele von Five Days in March in Europa, und alles war für mich neu und eine Wahnsinns-Chance. Andererseits habe ich mich selbst sehr unter Druck gesetzt. Ich glaube, das war eine Art Feuerprobe für mich. Ich hatte riesiges Glück, dass ich damals diese Inszenierung machen konnte.

MY: Die Premiere war ein großer Erfolg. Danach wurdest Du von vielen Festivals und Theatern eingeladen. 2014 gab Matthias für das Festival „Theater der Welt“ in Mannheim ein neues Stück in Auftrag. Aus der Idee, das Stück in einem Convenience Store spielen zu lassen, entstand Super Premium Soft Double Vanilla Rich.

TO: So etwas wie Convenience Stores existieren in Deutschland nicht. Combinis kann man als eine Art von Supermärkten beschreiben, aber von unserem Gefühl her, naja oder eigentlich in unserer Seele (lacht), sind die beiden grundverschieden. Ich habe damals mit Absicht einen Ort mit einem sehr spezifischen Charakter als Schauplatz für mein Stück ausgewählt. Freetime, das 2008 in Brüssel und Wien aufgeführt wurde, war in einem sogenannten Family Restaurant angesiedelt. Dem dortigen Publikum hat sich dieser Ort aber nicht wirklich erzählt. Natürlich schließe ich nicht komplett aus, dass sich etwas transportiert hat. Es ist so, als wollte man mit japanischen Yen in Europa einkaufen, das geht einfach nicht. Bei Super Premium Soft Double Vanilla Rich hingegen hat das aus meiner Sicht funktioniert. Das ist für mich sehr wichtig.

MY: Wieso hat es beim Convenience Store funktioniert und beim Family Restaurant nicht?

TO: Es liegt nicht am Unterschied zwischen den beiden (lacht). Es ist nicht einfach, das konkret zu beschreiben. Es hat vermutlich damit zu tun, dass ich in der Zwischenzeit einiges an Erfahrungen gesammelt hatte. In gewisser Weise war das vor und nach einem Wachstumsprozess.

MY: Sozusagen Kontextualisierung?

TO: Ja, ganz genau!

MY: Also aufgrund der Erfahrungen, die Du durch die künstlerische Arbeit in Europa und bei den Aufführungen Deiner Stücke vor unterschiedlichsten Zuschauer*innen gesammelt hast?

TO: Ja, das stimmt. Am wichtigsten war, dass ich bei diesen Aufführungen anwesend war und viele Seherfahrungen gesammelt habe. Eine Vorstellung gemeinsam mit dem Publikum sehen. Ich finde es beim Sehen einer Aufführung spannend, dass ich in gewisser Weise mit dem Publikum des Abends verschmelze. Es ist bei mir nicht so, dass ich einfach immer ich bin, unabhängig davon wann, wo und mit wem ich ein Stück sehe. Aber zugleich bin ich der Regisseur, der das Stück inszeniert hat. Für mich ist das logischerweise nicht so, als würde ich etwas Neues sehen, natürlich kenne ich das Stück in- und auswendig. Ich sehe mir die Aufführung an, um die Performance zu verbessern, um Feedback zu geben. Interessanter und wichtiger für mich ist aber, dass ich dabei mit dem Publikum verschmelze. Die Ansammlung dieser Einzelerfahrungen bewirkt etwas in mir. Wenn wir am selben Ort in derselben Spielzeit ein Stück zehn oder zwanzig Mal spielen, ist es trotzdem garantiert jedes Mal anders. Mit der Zeit und wechselnden Orten verändern sich Theaterarbeiten sehr stark. Ein gut verständliches Beispiel ist, dass das Publikum an verschiedenen Orten jeweils an ganz anderen Stellen lacht. Wenn ich ein Stück an verschiedenen Orten sehe und merke, dass an unterschiedlichen Stellen gelacht wird, zeigt mir das, dass weniger ich es bin, der die Menschen zum Lachen bringt. Schließlich ist es ja das Publikum, das lacht. Etwas in den Zuschauer*innen entscheidet, was sie lustig finden. Das ist der Kontext. Warum lachen sie an dieser Stelle? Das weiß ich nicht. Es könnten auch die Untertitel sein. Auf jeden Fall ist der Kontext in seiner Gesamtheit ganz entscheidend. Das gilt ganz besonders in Bezug auf das Lachen. Aber nicht allein dafür. Solche Erfahrungen lösen etwas aus. Aber dieses Etwas kann ich nur abstrakt beschreiben. Freetime war auf jeden Fall VOR und Super Premium Soft Double Vanilla Rich NACH dieser Erfahrung.

Arbeiten an den Münchner Kammerspielen

MY: Auch Super Premium Soft Double Vanilla Rich in Mannheim war sehr erfolgreich. Danach wurde Matthias zum Intendanten der Münchner Kammerspiele berufen, einem der renommiertesten Theater Deutschlands. Bei der Pressekonferenz anlässlich seiner Ernennung sagte er, dass er die Tradition seines Vorgängers, auch Regisseur*innen außerhalb des deutschsprachigen Raums einzuladen und ein internationales Programm zusammenzustellen, noch weiter ausbauen wolle und seine Kontakte nach Paris, Teheran und Japan nutzen wolle. Da dachte ich: „Oh, damit meint er Toshiki!“. Aber dass Du nicht an einem freien Theater wie dem HAU oder bei einem Festival arbeiten würdest, sondern Dich in den Rahmen eines deutschen Stadttheaters mit einem festen Ensemble begeben wolltest, hat vielen Menschen große Sorgen bereitet.

TO: Oh ja, viele waren sehr besorgt um mich (lacht). Einige waren wirklich sehr nett zu mir und haben sich Sorgen gemacht. Ich dagegen habe das ziemlich locker gesehen: wenn es schiefgeht, dann geht es eben schief.
Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech
Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech | © Julian Baumann

MY: Matthias sagte, dass Du Dich am Anfang nicht übernehmen und lieber mit einem Deiner bestehenden Stücke beginnen solltest. Die erste Inszenierung wurde daher Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech. Ich merkte, dass Matthias sehr darauf bedacht ist, die Künstler zu schützen.

TO: Ja, das glaube ich auch. Auch was die Menschen angeht, mit denen ich am Theater zusammengearbeitet habe, waren wir von Anfang ein Team: mit dem Dramaturgen Tarun Kade von den Kammerspielen und den beiden Externen, dem Bühnenbildner Dominic Huber und der Kostümbildnerin Tutia Schaad, mit denen ich letztlich bei allen vier Inszenierungen zusammenarbeiten konnte. Für mich waren sie wunderbare Kollegen. Ich glaube, auch das hat er gewusst. Es war ein gutes Gefühl, und es hat Spaß gemacht.

MY: Als ich Matthias fragte, warum es notwendig ist, dass deutsche Schauspieler*innen dem Münchner Publikum über das Büroleben in Japan erzählen, antwortete er, die japanische Gesellschaft würde die Situation in Deutschland nur ein kleines bisschen vorwegnehmen. Es seien Geschichten, die auch für das Publikum in Deutschland einen Bezug haben, und keine Geschichten vom „Wunderland Japan“.

TO: Das ist eine gut verständliche Erklärung für Kontextualisierung.
NO THEATER
NO THEATER | © Julian Baumann
MY: In München hast Du vier Inszenierungen gemacht. Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech, NO Theater, No Sex und The Vacuum Cleaner. Wie siehst Du diese Arbeiten heute im Rückblick?

TO: Wichtiger als die Bewertung jeder einzelnen Produktion ist das Gefühl, dass die Reihenfolge der vier Produktionen stimmte und schließlich dazu führte, dass nicht nur ich, sondern wir als Team einen Wachstumsprozess durchlaufen haben. Wenn alles nur in meiner Verantwortung gelegen hätte, müsste ich eigentlich besser nachvollziehen können, warum No Sex oder The Vacuum Cleaner so erfolgreich waren. Natürlich ist ein Ergebnis entstanden, mit dem ich zufrieden bin! Gerade weil die Inszenierungen im Team entstehen, kann dieser Prozess der Kontextualisierung stattfinden. Sie führt dazu, dass die Stücke sich auch in einem Kontext erzählen, den ich selbst gar nicht besonders gut kenne. Ob das dann letztlich funktioniert hat oder nicht, kann ich eigentlich am wenigsten beurteilen (lacht.) Nach der Premiere von No Sex zum Beispiel sagten mir einige Zuschauer*innen, dass das ein trauriges Stück sei. Ich habe nicht verstanden, was daran traurig sein soll. (lacht).
No Sex
No Sex | © Julian Baumann
MY: Vielleicht wegen der Tiefe der Kluft zwischen der älteren und der jüngeren Generation?

TO: Wenn ich auf Japanisch darüber nachdenke, würde ich es als Verzweiflung beschreiben. Wenn ich gefragt würde, ob ich es traurig fände, würde ich antworten: Ich empfinde Verzweiflung.

Auf Japanisch geschriebene Stücke auf Deutsch aufführen

MY: Wie denkst Du über das Münchner Publikum?

TO: Ich sehe mir meine eigenen Inszenierungen an, aber auch die Arbeiten anderer Regisseur*innen aus dem Repertoire. Ich sehe mir Aufführungen an, und zugleich auch das Publikum. Durch die Erfahrung, selbst Zuschauer zu sein, lerne ich etwas über sie. Ich gewinne dadurch auf jeden Fall etwas. Diese Erfahrung gibt mir natürlich, auch als jemand, der an diesem Theater inszeniert, bewusst oder unbewusst ein Feedback. Bevor ich mit Five Days in March meine Arbeit bei Festivals in verschiedenen Ländern zeigen konnte, habe ich nicht einmal im Traum ans Ausland gedacht, noch nicht einmal an Regionen in Japan außerhalb Tokyos. Inzwischen ist es eine selbstverständliche Voraussetzung, wenn ich mit meiner Kompagnie Chelfitsch ein neues Stück inszeniere, dass die Produktion an verschiedenen Orten aufgeführt und von unterschiedlichem Publikum gesehen wird. In München war es so, dass ich die Stücke im Bewusstsein inszeniert habe, dass sie an den Münchner Kammerspielen vom Münchner Publikum gesehen werden. In dem Sinne kann man sagen, dass ich einen Schritt zurückgegangen bin. Das war sehr interessant und wichtig. Und natürlich schaffe ich das nicht aus eigener Kraft, denn zuallererst spreche ja kein Deutsch. Das ist vor allem der Tatsache zu verdanken, dass ich in einem tollen Team arbeiten durfte. Es war total interessant, den Unterschied zu erleben: Ein Stück in japanischer Sprache vor einem Publikum zu zeigen, das wahrscheinlich kein Japanisch versteht. Oder auf Deutsch zu proben und die Schauspieler*innen auf der Bühne Deutsch vor einem deutschsprachigen Publikum sprechen zu lassen.

MY: Aber vom Prozess her schreibst Du Deine Stücke doch auf Japanisch. Fühlt sich das für Dich nicht sonderbar an?

TO: Nein. Früher fand ich das ein bisschen komisch, aber jetzt nicht mehr. Ich denke weniger an den japanischen Originaltext, sondern es mir inzwischen wichtiger, ob die Inszenierung für ein Publikum in München bzw. in Deutschland relevant ist. Ersteres ist ein Mittel für Letzteres. Ich glaube, dass ich hier eine klare Priorität gefunden habe. Ich denke nicht, dass alle Aspekte auch bei einer Aufführung in deutscher Sprache vollständig umgesetzt werden müssen. Oder besser gesagt – das geht gar nicht. Allein im japanischen Text kann ich meine persönliche Wahrnehmung und meine Werte festschreiben. Danach arbeiten wir zwar entlang des Textes, es ist dabei aber nicht immer die beste Lösung, meine Werte durchdrücken zu wollen. Dazu ist das Team notwendig.

MY: Das stimmt. Aber da Du aus einem anderen kulturellen Kontext kommst und keine direkte sprachliche Verständigung möglich war, wollten im Probenprozess alle Beteiligten mehr von Dir wissen, Dich besser verstehen und eine gemeinsame Sprache finden. Du sagst, Du bestimmst nicht alles. Aber wenn ein Schauspieler oder eine Schauspielerin bei einer Probe etwas zeigt, bist Du es, der entscheidet, ob das gut oder schlecht ist. Natürlich ist dieser Prozess der Suche nach einer Ausdrucksform anders, als wenn alle dieselbe Sprache sprechen. Alle haben Deinem inszenatorischen Urteil aber vollständig vertraut.

TO: Ja. Die Richtung gebe ich schon vor. Aber auch da spielt der Kontext eine wichtige Rolle, dass ich an einem Stadttheater in München inszeniere. Auf dieser Basis habe ich meine Entscheidungskriterien angelegt.

MY: Du hast einmal eine Rakete als Beispiel genannt. Wenn eine Rakete von der Erde aus startet, ist sie riesengroß. Auf dem Flug wird dann Stück für Stück abgetrennt, so dass sie schließlich immer leichter wird.

TO: Meine Erfahrungen bei den Kammerspielen sind auch ein wichtiger Grund, warum sich das so entwickelt hat. Dass man einen Kontext nicht bis ins Detail kennt, ist ein sehr bestimmend und in diesem Sinne auch eine Schwäche, weil es vieles gibt, was man nicht vollkommen versteht. Aber: Schwäche ist okay. Ich halte es für trügerisch zu glauben, dass man stark sein muss, um Regie zu führen. Inszenieren kann man auch, wenn man gar nichts kann. Es ist wie mit der Rakete. Der Teil, den ich letztlich in den Weltraum schießen möchte, ist im Vergleich zur Größe der Rakete beim Start nur ganz klein. In diesem Sinne habe ich gedacht, dass es ausreicht, das Wesentliche zu vermitteln.

MY: Ich habe Dich bei drei Produktionen in München als Dramaturgin und Dolmetscherin begleitet. Du bist wirklich gut darin, solche Parabeln zu finden.

TO: Ein Regisseur hat während einer Aufführung letztlich eigentlich nichts zu tun. Daher muss der Regisseur denen, die die Aufführung tragen, verständlich machen, was er umsetzen möchte. Dabei kann er sich von dem Grad ihres Verständnisses abhängig machen. Wenn das funktioniert, ist es natürlich gut. Ich persönlich finde es wichtiger, meine Fähigkeit weiterzuentwickeln, mich möglichst gut verständlich zu machen. Das funktioniert letztlich besser. Ich kann ja nicht befehlen, dass man mich gefälligst zu verstehen hat. Es ist viel wirksamer, wenn ich mich so ausdrücke, dass mein Gegenüber mich versteht. Und um diese Worte zu finden, schieße ich aus mehreren Kanonen. Bei dem einen kommt diese Erklärung oder jene Formulierung an, jemand anderes versteht es mit einer anderen Ausdrucksweise besser. Es ist egal, wenn einige Schüsse danebengehen, Hauptsache, einer davon geht ins Ziel, darauf achte ich bei der Arbeit. Ich mache das nun schon eine Zeit lang, daher bin ich schon etwas besser darin geworden. Mir ist durchaus bewusst, dass es keineswegs einfach ist, genau das rüberzubringen, was ich mitteilen möchte.

MY: Ist das in Japan auch so?

TO: Ich glaube nicht, dass sich Dinge einfacher mitteilen, weil der Gesprächspartner Japaner*in oder in Japan ist. Aber wenn ich in Japan auf Japanisch erklären kann, dann funktionieren einige Beispiele aus diesem Kontext. Zum Beispiel The Drifters. (lacht).

MY: Das Deutsche Zentrum des ITI bringt jedes Jahr ein Jahrbuch zu einem bestimmten Thema heraus. Das Thema für 2019 war „(R)Übersetzen“ (https://www.iti-germany.de/publikationen/jahrbuch/). Übersetzen im Theater im erweiterten Sinne. Auf Englisch lautet der Titel „Getting Across“. Wir beide wurden dafür interviewt. Du wurdest gefragt, wie es ist, wenn bei den Proben eine Dolmetscherin anwesend ist. Was Du denkst, wenn Du den Inhalt nicht verstehst, während ich dolmetsche. Du hast die Zeit, in der ins Deutsche gedolmetscht wird, mit Bowling verglichen. Man wirft die Kugel und wartet dann ab, ob es ein Treffer wird oder nicht.

TO: Ja, so ungefähr fühle ich mich dabei (lacht).

Interkontextualisierung und Coronakrise
Opening Ceremony
Opening Ceremony | © Julian Baumann

MY: Kommen wir nun zu Opening Ceremony. Ursprünglich war zum Abschied von Matthias Lilienthal eine 24-stündige Aufführung nach dem Roman „2666“ von Roberto Bolaño mit mehreren Regisseur*innen im Münchner Olympiastadion geplant. Du hast Kapitel drei übernommen. Dein Part sollte an einem sehr reizvollen Aufführungsort stattfinden, der VIP-Lounge des Olympiastadions.

TO: Ja, für meinen Teil hatten wir bereits im Januar die Proben abgeschlossen und alles war perfekt vorbereitet.

MY: Dann musste das Projekt wegen der COVID-19-Pandemie abgesagt werden. Daraus entstand ein neues Projekt – Deine Inszenierung der „Opening Ceremony“ im Münchner Olympiastadion im Juli 2020.

TO: Ende Mai 2020 kam von dem Dramaturgen Tarun eine Nachricht, dass er auf eine unglaubliche Idee gekommen sei! Was könnte das nur sein, dachte ich, und er fragte, ob ich nicht im Juli nach München kommen und im Olympiastadion ein Stück inszenieren wollte. Ich dachte: „Was? Ich soll nach Deutschland fliegen? In diesen Zeiten?“ Natürlich habe ich sofort zugesagt! Denn ist das nicht toll, wenn man in diesen schweren Zeiten ein Angebot bekommt? Und das obwohl doch die Formalitäten und die Verhandlungen mit allen möglichen Behörden wahnsinnig aufwendig sind, um mich aus Japan nach Deutschland zu holen. Und dennoch will man mich einladen! Da will man natürlich hinfahren! Ich hatte in dieser Zeit seit März mein Haus in Kumamoto kaum verlassen. Ich hatte überlegt, wohin mich meine erste Reise wohl verschlagen würde. Und als ich so nachdachte, wann ich wohl wieder einmal bis nach Tokyo fahren würde, da kam dann völlig unerwartet die Einladung nach Deutschland! Echt lustig!! Da das Stück im Münchner Olympiastation gespielt werden sollte, und ich zwar ein unbedeutender, aber ein Regisseur aus dem Land bin, in dem 2020 die Olympischen Spiele stattfinden sollten, und für mich daher die Chancen, die Eröffnungsfeier der Spiele inszenieren zu dürfen, zumindest nicht ganz bei null stehen, kam ich auf die Idee, zu diesem Anlass eine Eröffnungsfeier zu inszenieren. Als die Olympischen Spiele in Tokyo dann verschoben wurden, habe ich vorgeschlagen, dass ich das dann in München inszeniere.

MY: Das fanden bestimmt alle lustig!

TO: Ja. Eine Eröffnungszeremonie fand ich auch gerade deshalb gut, weil es ja der Abschied von Matthias an den Kammerspielen war. Eine Eröffnungsfeier fand ich viel interessanter und auch passender als eine Schlussfeier. Am Münchner Olympiastadion und seiner Umgebung ist immer noch die damalige Stimmung des demokratischen Ideals zu spüren - wobei es natürlich traurig ist, „immer noch“ sagen zu müssen -, aber dieser Kontext war für mich sehr wichtig. Als ich den Ort zum ersten Mal besuchte, fand ich auch, dass er von der Atmosphäre her dem aus Anlass der Olympischen Spiele 1964 in Tokyo erbauten Nationalstadion und seiner Umgebung ähnelte.
Opening Ceremony
Opening Ceremony | © Julian Baumann
MY: Der Text wurde in weniger als einem Monat geschrieben und übersetzt. Die Proben dauerten nur etwa eine Woche.

TO: Wir hatten nicht einmal fünf Tage geprobt!

MY: Es gab nur eine Aufführung mit 600 Zuschauer*innen. In dem Mitschnitt der Aufführung sieht man, dass Julia Riedler, die den Super Mario spielt, von einem sehr hohen Punkt aus am Drahtseil über Rollen nach unten schlittert.

TO: Julia sagte, dass sie das machen wollte. Ich selbst hätte bei so etwas viel zu viel Angst und würde so etwas nie machen wollen oder von jemandem verlangen. (lacht)

MY: Es war sicher eine Reaktion auf die Pandemie und geht eigentlich auch um demokratische Ideale.

TO: Wie ich auch in der Publikation „Why Theatre?“ des Theaters NTGent in Belgien geschrieben habe, haben die Kammerspiele unter Matthias die Interkontextualisierung konsequent vorangetrieben. Er hat aktiv und konsequent dafür gesorgt, dass sich Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen kontinuierlich vermischten. Auch ich habe an diesem Vorhaben teilnehmen dürfen. Ich empfinde das als Ehre und kann den Wert dieses Prozesses gar nicht ermessen. Ich finde es bedenklich, dass solche Experimente in der Corona-Krise abnehmen und ihr Wert nicht mehr wahrgenommen wird. Opening Ceremony drückt meinen Dank an die Münchner Kammerspiele aus, und meinen Wunsch, dass diese Art des Zugriffs auf Theater in Zukunft nicht verschwinden möge!!

MY: Mobilität, die Basis für internationalen Austausch und internationale Kooperation, ist derzeit stark eingeschränkt. Andererseits wird auch gefordert, die Belastung der Umwelt zu verringern.

TO: Auch ohne die Covid-19-Pandemie gab es schon einen Trend hin zu einem zunehmendes Umweltbewusstsein. Dieser Trend könnte ebenso zu einer Schwächung der Interkontextualisierungsprozesse führen. Die Perspektive, die ich mir durch meine bisherigen Erfahrungen erworben habe, und die Interkontextualisierung, an der ich mit meinen bescheidenen Mitteln beteiligt war, sind mir unglaublich wichtig und wiegen für mich die CO2-Emissionen der Flugzeuge, die ich dafür habe besteigen müssen, im Endeffekt auf.

MY: Reisen im großen Stil sind schwieriger geworden. Anstatt fertige Produktionen einzuladen, wird man wohl dazu übergehen, vor Ort zu produzieren und vor Ort zusammenzuarbeiten. Für das Gastspiel der Berliner Volksbühne in Japan 2005, das Du auch gesehen hast, kamen etwa 40 Personen plus Bühnenbild nach Japan. Aber gerade durch die Einladung von Frank Castorfs Inszenierung, wurde in Japan das Interesse für das zeitgenössische Theater Deutschlands geweckt.

TO: Es ist immer noch besser, wenn nur der Regisseur/die Regisseurin reist, als dass gar nichts stattfindet. Ich sehe dabei aber die Gefahr, dass die Erfahrung der Interkontextualisierung nur einem besonderen, begrenzten Personenkreis vorbehalten bleibt.

Theater online aufführen
Unfulfilled Ghost and Monster_ZAHA
Unfulfilled Ghost and Monster_ZAHA | © KAAT Kanagawa Arts Theatre

MY: Deine vielfältigen Erfahrungen auf diesem Gebiet haben Dich zu dem gemacht, was Du heute bist. Ist es möglich, das durch das Streaming von Videos zu kompensieren? Beim Streaming der Aufführung von Unfulfilled Ghost and Monster am Kanagawa Arts Theatre (KAAT) hast Du ja Einiges ausprobiert.

TO: Ich finde es sehr gut, dass jetzt viele Menschen sehr radikal darüber nachdenken, was Theater eigentlich leisten kann. Vorher haben wir die Notwendigkeit, darüber nachzudenken, gar nicht gespürt. Zur Zeit der Gebrüder Wright wollten alle Leute Flugzeuge bauen, haben Prototypen hergestellt und versucht mit denen zu fliegen. Es gibt ja diese alten Videos, in denen sie kurz abheben, um dann sofort wieder herunterzufallen und das wiederholt sich endlos. Ich mag diese Bilder so sehr, dass ich beim Sehen fast weinen könnte. Sie bemühen sich mit ganzer Kraft und scheitern. Ich habe das Gefühl, wir sind in eine ähnliche Situation geraten. Keiner weiß, wie Online-Theater geht, aber wir versuchen alles Mögliche – und scheitern. Ich möchte auch zu denen gehören, die unter großen Mühen abstürzen. Die Grundidee für Unfulfilled Ghost and Monster war sofort da. Das Stück arbeitet mit der Struktur des Noh-Dramas. Dafür braucht man aber unbedingt eine Bühne. Eine Bühne, die eine Fiktion des Ortes herstellt, zum Beispiel Sendagaya, das Viertel, in dem sich das Olympiastadion befindet. Dazu muss ich noch eine weitere Dimension der Fiktion erschaffen, in der sich die Schauspieler*innen und Musiker*innen alle auf einer Bühne aufhalten. Und das habe ich gemacht, indem ich die Technik solcher Videoprojektionen eingesetzt habe. Dabei habe ich mich kontinuierlich mit Shimpei Yamada beraten, mit dem ich in den letzten Jahren zusammen Versuche mit „Film-Theater“ unternommen habe.

MY: Das war sehenswert. Es wirkte auf eine bestimmte Weise sehr real.

TO: Theater ist etwas Sonderbares. An einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit begibt man sich ins Theater und erlebt dort eine Fiktion, die die Zuschauer*innen gemeinsam als ‚wahr‘ annehmen. Fiktion und Realität koexistieren. Es war sehr spannend für mich, dass ich das klarer als bei einer gewöhnlichen Aufführung in einem Theaterraum herausarbeiten konnte.

MY: Übermorgen verlässt Du Japan und fliegst nach Berlin. Ich habe gehört, Du hältst einen Workshop für Studierende an der Freien Uni Berlin?

TO: Ja, ich gebe einen Praxis-Workshop für Studierende des Seminars für Theater- und Tanzwissenschaft. Am Japanischen Kulturinstitut in Köln gibt es auch einen Workshop und ein Symposium. Außerdem ist noch ein Workshop an der Schule geplant, an der Tutia Schaad unterrichtet. Nach meiner Rückkehr sind in Tokyo Aufführungen von Eraser Mountain geplant. Im Frühjahr plane ich auch nach Wien zu gehen. Das eigentlich für Frühjahr 2020 geplante Gastspiel von Eraser Mountain soll dort gezeigt werden.

MY: Ich habe gehört, dass Du danach auch Musiktheater oder Opern inszenieren wirst. Ich freue mich jetzt schon darauf.
Toshiki Okada

Geboren 1973 in Yokohama. Dramatiker / Regisseur. Er gründete die Theatergruppe chelfitsch im Jahr 1997. Seitdem hat er alle Produktionen des Ensembles geschrieben und inszeniert, wobei er eine besondere Methodik für die Schaffung von Stücken praktiziert und für seine Verwendung von hyperkolloquialem Japanisch und einzigartigen Choreographien bekannt geworden ist. Ab 2016 führte er in vier Spielzeiten Regie an den Münchner Kammerspielen. Die vierte Produktion "The Vacuum Cleaner" wurde zum Berliner Theatertreffen 2020 eingeladen. 2018 brachte er in Zusammenarbeit mit den Künstlern aus Thailand "Pratthana - A Portrait of Possession" auf die Bühne in Bangkok, eine Adaption eines Romans des Autors Uthis Haemamool, die danach in Paris und Tokyo aufgeführt und 2020 mit dem Yomiuri Theater Awards Selection Committee Special Prize ausgezeichnet wurde.

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