Interview: Fabian Dietrich
Unter Strom

Willkommen im digitalen Kapitalismus. Wie der funktioniert und welche Gefahren drohen, erklärt der IT-Experte Timo Daum.

fluter: Im Internet gibt es heute viele Dinge umsonst oder für sehr wenig Geld. Ich kriege kostenlos Nachrichten und Informationen. Ich kann mit einer monatlichen Flatrate Filme schauen oder fast die gesamte Musik der Welt hören und zahle dafür weniger als für ein einzelnes Album im MP3-Format. Wie kann das eigentlich sein?

Timo Daum: Die digitale Ökonomie verändert unser Leben und unsere Gesellschaft gerade radikal. Auf den ersten Blick ist es wirklich so eine Art Schlaraffenland. Informationen, dazu zähle ich jetzt auch mal Musik und Filme, sind frei verfügbar oder kosten sehr wenig Geld. Technisch gesehen funktioniert alles sehr gut, und auch kulturell ist das eine riesige Errungenschaft. Bloß: Wie können Unternehmen Geld verdienen? Wir haben es beim digitalen Kapitalismus mit einer Neudefinition von Arbeitsprozessen und Ausbeutung zu tun. Eine Plattform wie Facebook hat Milliarden Nutzerinnen und Nutzer, diese sind einerseits so etwas wie Kunden, gleichzeitig aber auch unbezahlte Arbeiter. Denn die User sind es ja, die die Daten liefern, mit denen die Plattform am Ende Geld verdient.

Als Kunde bekomme ich gar nicht mit, was im Maschinenraum passiert. Welche Rolle spielen die Algorithmen im Hintergrund?

Ich vergleiche Algorithmen mit den Maschinen in einer klassischen Fabrik, wie Henry Ford sie erfand. Algorithmen erzeugen aus dem Rohstoff Daten Informationen, die sich im digitalen Kapitalismus verwerten lassen. Das machen Googles Such-Algorithmen, die Matching-Algorithmen eines Fahrvermittlungsdienstes wie Uber oder auch Partnervermittlungen. Das ist der Kernprozess des digitalen Kapitalismus.

„Durch Plattformen wie Uber, Foodora oder Amazon entsteht eine neue Mikroarbeiterklasse, die bei null anfangen muss, was Arbeitnehmerrechte und soziale Absicherung angeht“


Sind Algorithmen denn neutral?

Es ist offensichtlich, dass sie nicht neutral sind. Natürlich dienen all diese Algorithmen und Künstliche-Intelligenz-Anwendungen, die da in unser Haus eindringen, den Konzernen. Sie helfen ihnen, aus Daten verwertbare Informationen zu generieren. Soziale Netzwerke etwa sind so designt, dass wir das Gefühl kriegen: Ich muss die ganze Zeit aktiv sein. Ein Strom von Daten soll generiert werden, was ich sage, ist egal. Dem wird alles andere untergeordnet.

In China wird gerade ein Sozialpunktesystem eingeführt, bei dem die Menschen anhand ihrer Daten bewertet und in gute und schlechte Bürger eingeteilt werden. Wächst mit Big Data die Möglichkeit, Menschen zu kontrollieren?

Selbstverständlich. Interessant ist jedoch zweierlei: Wer bekommt diese Daten, und wer bestimmt, was mit ihnen geschieht und zu welchem Zweck? Was tun wir, wenn eine App uns fragt: Dürfen wir auf deine Kontakte oder deinen aktuellen Standort zugreifen, um dir einen besseren Service, eine bessere User-Experience zu bieten? Nach kurzem Zögern antworten wir meist mit „Ja“. Wir wissen also sehr wohl, dass wir ab sofort getrackt werden, Bewegungsprofile erstellt werden, unsere Sozialkontakte verwertbare Informationen für Werbetreibende oder eben für Regierungsstellen liefern, die ein soziales Scoring veranstalten. Wir wissen es, und wir tun es trotzdem. Weil es so bequem ist. Ich denke, es gibt kein Zurück in die Zeiten vor Big Data und umfassender Echtzeitüberwachung. Die Frage ist vielmehr, ob wir diesen Datenschatz, der zu unserer wichtigsten Ressource überhaupt wird, weiterhin Geheimdiensten und privaten Firmen überlassen wollen. Oder ob wir eine Datenrevolution veranstalten, durch die wir die Souveränität über diese zurückgewinnen, aber nicht als einzelne Individuen im Sinne von „Meine Daten gehören mir“, sondern als Gemeinschaft: „Unsere Daten gehören allen.“

Immer wieder hört man, dass Daten das „Öl“ des 21. Jahrhunderts sind. Mittlerweile gilt das nicht nur für Geschäfte im Internet. Die Hotelbranche, die Autobranche, überall scheint es nur noch um Daten zu gehen.

„Das Modell Festanstellung wird dahinschmelzen wie ein Gletscher in der Sonne“


Ich glaube, der digitale Kapitalismus ist in den letzten zehn Jahren gereift. Jetzt erleben wir so etwas wie eine neue Stufe. Die mächtigsten Unternehmen haben sich in verschiedenen Bereichen etabliert und dringen in neue Gebiete vor. Beim Verkehr in den Städten wird das Auto als Produkt zum Beispiel langfristig an Bedeutung verlieren.

Wichtiger werden hingegen Informationen, die in Echtzeit darüber Auskunft geben, wer unterwegs ist und wohin er will. Im Energiesektor wird die große Fabrik, in der Strom produziert wird, zum Auslaufmodell. Stattdessen speisen viele dezentrale Einheiten erneuerbare Energie ein. Die entscheidende Frage wird sein, wer in Zukunft den Stromhandel mit Daten und Algorithmen managt. Oder nehmen wir den Gesundheitsbereich: Die Firma IBM hat gerade in den USA Analysefirmen gekauft, um an Daten von Patienten zu kommen. IBM will seine künstliche Intelligenz, Watson, in diesem Bereich trainieren und Diagnosewerkzeuge entwickeln.

Viele Branchen haben es durch die Konkurrenz der großen Plattformen zunehmend schwer, zu überleben. Einzelhandel, Journalismus, Taxigewerbe, Hotels und viele andere Branchen werden durch die neuen Geschäftsmodelle herausgefordert und bedroht. Wie verändert die Digitalisierung denn unsere Arbeitswelt?

Gerade im Wirtschaftswunderland Deutschland waren die Arbeitsverhältnisse lange Zeit vergleichsweise idyllisch. Es gab lineare Arbeitsbiografien, Festanstellung, Sozialversicherung, Teilhabe am Wohlstand. In diese Welt sticht der digitale Kapitalismus rein und macht vieles kaputt. Es wird deutlich, dass das eine relativ kurze historische Phase war. Durch Plattformen wie Uber, Foodora oder Amazon entsteht eine neue, fragmentierte Mikroarbeiterklasse, die bei null anfangen muss, was Arbeitnehmerrechte und soziale Absicherung angeht.

Schafft die digitale Ökonomie mehr Ungleichheit?

Ja, die durch Lohnarbeit finanzierten Sozialsysteme geraten definitiv in die Krise. Viele Manager aus dem Silicon Valley glauben, dass sie in Zukunft immer weniger Menschen beschäftigen werden. Genau deswegen finden sie auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens so gut. Der Internetvordenker Jaron Lanier prognostizierte schon vor vielen Jahren, dass die Mittelklasse aussterben wird, weil die neuen Internetfirmen viel weniger Arbeitsplätze anbieten als ihre Vorgänger. Der digitale Kapitalismus erfordert neue sozialpolitische Diskussionen. Das Modell Festanstellung wird meiner Meinung nach dahinschmelzen wie die Gletscher in der Sonne durch die Klimaerwärmung.

Da wünscht man sich ja fast, das Internet wäre nie erfunden worden!

Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich will nicht sagen, der digitale Kapitalismus ist böse, und wir müssen jetzt zum alten Kapitalismus zurück. Früher war auch nicht alles besser. Der alte Kapitalismus hat zum Beispiel eine unverantwortliche Wachstumsideologie propagiert. Er hat Raubbau an der Natur betrieben und ärmere Länder ausgebeutet, um Wohlstand zu generieren. Die alte Arbeitswelt ist durch Gender-Ungerechtigkeit, überkommene Rollenmodelle und Arbeitsfetischismus geprägt. Ich bin froh, dass das gerade abgewickelt wird. Heute gibt es in der Sharing Economy durchaus Ansätze, die besser sind. Zum Beispiel, wenn ein Geschäftsmodell nicht mehr darauf setzt, noch mehr Autos zu produzieren, die dann die meiste Zeit ungenutzt in den Städten stehen, sondern Ideen entwickelt, wie man die bereits existierenden Autos besser auslasten kann.

Die Staaten tun sich bislang schwer, das Geschäft mit den Daten zu regulieren. Es gibt zwar die neue Europäische Datenschutzgrundverordnung, die die EU-Datenschutzrichtlinie ersetzt, aber ihre Wirkung ist noch ungewiss. Kann denn der einzelne Nutzer etwas tun?

Es gibt darauf zwei typische Reaktionen. Die einen sagen: Die haben doch eh meine Daten, jetzt ist es auch schon egal. Die anderen verweigern sich. Sie melden sich bei Facebook ab und treten in den Widerstand. Ich halte beides für falsch. Ich würde dafür plädieren, an den Debatten teilzunehmen. Wir müssen verstehen, wie die Sachen funktionieren, um Alternativen zu entwickeln. Ich denke, es braucht eine neue Bewegung, die sagt: Algorithmen ja, Daten ja, Plattformen ja, aber in öffentlicher Hand, unter öffentlicher Kontrolle.

„Mich inspirieren Städte, die erkannt haben, dass Daten immer wichtiger werden. Barcelona zum Beispiel behält seine Daten in öffentlicher Hand. So kann die Stadt wichtige Daten für die Stadt- und Verkehrsplanung benutzen, etwa über ein kommunales Fahrradverleihsystem“


Wie sieht denn eine öffentliche Kontrolle der Daten konkret aus? Ein soziales Netzwerk als Genossenschaft?

Bisher scheiterten die meisten Alternativmodelle zu kommerziellen sozialen Netzwerken, oder sie dümpeln in der Bedeutungslosigkeit herum. Was ich dagegen inspirierend finde, sind Städte und Kommunen, die erkannt haben, dass Daten immer wichtiger werden. In Barcelona werden Daten, die für die Stadtbewohner wichtig sind, in öffentlicher Hand behalten und nicht kommerziellen Anbietern überlassen. Die Stadt hat zum Beispiel ein kommunales Fahrradverleihsystem. Alle Daten, die daraus generiert werden, werden für Stadt- und Verkehrsplanung benutzt. In Berlin gibt es dagegen viele verschiedene Privatunternehmen, die Leihräder anbieten. Das führt zu Chaos und dazu, dass die Stadtverwaltung überhaupt keine Ahnung von ihrem Verkehr hat. Mag sein, dass das erst mal nach einem kleinen Anfang klingt. Aber ich glaube, dass die Städte in Zukunft mehr Bedeutung bekommen werden und die Macht der Nationalstaaten schrumpft.

In Ihrem Buch stellen Sie sich die Ausgangsfrage, was Karl Marx wohl vom digitalen Kapitalismus halten würde. Was haben Sie herausgefunden? Wäre er ein Gegner oder ein Fan?

Beides. Marx liebte Technologie, wusste aber auch, dass sie zur Ausbeutung der Arbeiter genutzt wurde. Er hat den Kapitalismus für seinen technologischen Fortschritt bewundert und war begeistert davon, wie er alte Ordnungen zerstörte und die Pfaffen und Könige davonjagte. Das wäre heute auch noch so. Marx fände es toll, dass wir uns so leicht weltweit vernetzen und Wissen erwerben können. Er würde sich aber auch die Augen reiben und fragen: Es sind 150 Jahre vergangen, und ihr habt es immer noch nicht geschafft, dieses System durch etwas Rationaleres zu ersetzen? Nachdem er ein Selfie gemacht und verstanden hätte, wie Google funktioniert, wäre er wahrscheinlich in die British Library zurückgekehrt, hätte den vierten Band des „Kapitals“ angefangen und nebenbei versucht, Clickworker zu organisieren und sie zur Revolution aufzurufen.
 
Timo Daum ist Hochschullehrer für IT und digitale Wirtschaft. 2017 erschien sein Buch „Das Kapital sind wir: Zur Kritik der digitalen Ökonomie“.

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