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„Individualisierung“ hieß ein Hauptwort der Soziologie seit den 1980er-Jahren, mit dem Ulrich Beck und andere eine neue, auf postmaterialistischem Wertewandel beruhende Gesellschaft beschreiben wollten. In der groß angelegten Studie des Soziologen Andreas Reckwitz liegt nun eine umfassendere gesellschaftstheoretische Antwort auf die Frage vor, wie wir den seit einer Generation zu beobachtenden „Strukturwandel der Moderne“ in den reichen westlichen Gesellschaften verstehen können. „Singularisierung“ ist dabei viel mehr als die Vielfalt von Lebensläufen im Gegensatz zur Konformität von Klassen und Schichten der alten Industriegesellschaft. Sie betrifft die grundsätzliche Umformatierung der Orientierungen: Objekte, Subjekte, Räume, Zeiten und Kollektive werden nach dem Prinzip der Einzigartigkeit gewählt und zum sinn- und zielgebenden Hauptmoment einer neuen, „kreativen“ Mittelklasse.
Die Kultur der Singularisierung als prägendes Phänomen unserer Zeit löst folglich den ökonomisch dominierten Gesellschaftstyp der klassischen Moderne ab, der einer Logik der kulturellen Verallgemeinerung folgte. In diesem Sinne ist die Gesellschaft unserer Zeit mehr als je zuvor von Kultur geprägt, die Gesellschaftstheorie entsprechend mehr denn je Soziologie der Kultur.
Dass dieses, vor allem in seinem theoretischen Anfangsteil streckenweise nicht unanstrengende Buch ein großer Wurf ist, erweist sich auf darin, dass der Autor im zweiten Teil, der der Anwendung der Theorie auf eine Vielzahl aktueller sozialer, politischer und kultureller Phänomene gewidmet ist, reiche Ernte einfährt. Nicht nur eine griffige Sozialtheorie der Spätmoderne liegt hier also vor, sondern die überzeugende Beschreibung einer neuen Klassenstruktur. Darüber hinaus liefert Reckwitz hellsichtige Analysen, etwa der kulturellen Revolution durch die Digitalisierung und der neuen autoritär-nationalistischen politischen Bewegungen.