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Die junge schweizerische Schriftstellerin Gianna Molinari hat in ihrem Debütroman eine umfangreiche poetische Paraphrasierung der Gedanken und Stimmungen des heutigen Europa geschaffen. Die Themen – Identität, Grenzen, Überwachung, Menschlichkeit, Industrie und Natur sowie Unsicherheit und die Zerbrechlichkeit und Veränderlichkeit des Erfassten – werden nicht nur mit verbalen, sondern auch mit grafischen, fototechnischen und mathematischen Ausdrucksmitteln dargestellt. Gerade durch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Modalitäten der Botschaft, die die Variabilität der Realitätsauffassung unterstreichen, nähert sich das Werk besonders den psychologischen Zuständen des modernen Menschen an, in denen die Erkenntnisse, dass es schwierig ist, das Reelle streng vom Scheinbaren zu trennen, und dass der Überwacher das Überwachen enthüllt, eine Störung hervorrufen.
Die Bedeutung des überwachenden Blicks ist im Zentrum des Romans – die Protagonistin findet sich in einer fast verlassenen Fabrik ein, um dort eine Arbeit als Wächterin zu beginnen. Ihre ersten Aufgaben drehen sich um einen Wolf (ein mächtiges Bild in den Mythologien verschiedener europäischer Völker), der auf dem Unternehmensgelände gesichtet wurde und dessen vermeintliche Anwesenheit von großer Bedeutung für die Schaffung der Perspektive ist. Mit der vergleichsweise lakonischen Erzählung, Bildhaftigkeit und Sprache kontrastiert noch ein merkwürdiges Ereignis, um das sich die Gedanken der Protagonistin drehen – ein mystischer Unfall, der sich am beschriebenen Ort ereignet hat: Ein vermeintlicher Flüchtling ist vermutlich aus einem Flugzeug gefallen. Trotzdem wird der Roman nicht zu einem Krimi, sondern ist eher eine feinfühlige philosophische Darstellung, die mit ihrer Stimmung und einzelnen Methoden ein wenig an die Prosa von W. G. Sebald erinnert.