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Nette ist eine Nervensäge! Darin ist sich vor allem ihre Verwandtschaft einig. Dünn und glotzäugig mischt sie sich in Männergespräche ein, will sich partout nicht in ihre Handarbeit vertiefen und widmet sich stattdessen gar unziemlichen Interessen wie Mineralogie, Literatur und Politik. Karen Duve erzählt in Fräulein Nettes kurzer Sommer die Geschichte der zum Horror ihrer männlichen Zeitgenossen mit einem scharfen Verstand und einem losen Mundwerk ausgestatteten deutschen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Im Fokus von Duves Geschichte stehen die Jahre 1817 bis 1821. Das stets etwas kränkliche Freifräulein von Droste-Hülshoff tingelt von Familiengut zu Familiengut. Immer dabei ein winziger Berghammer, die Schreibfeder und eine auffällige Lorgnette. Denn die Nette, wie sie alle nennen, ist überaus kurzsichtig und besitzt darüber hinaus für ein Fräulein ihres Standes unangemessene Hobbys sowie zahllose weitere Qualitäten, die sie in den Augen ihrer Sippschaft auf dem Stammsitz der von Haxthausen, dem Bökerhof, zu einer wenig attraktiven Partie machen.
Für widerspenstig, besserwisserisch und viel zu sehr von sich selbst überzeugt, hält sie vor allem ihr gerade einmal fünf Jahre älterer Onkel August von Haxthausen. Ebenso eifersüchtig auf das lyrische Talent der Nichte wie auch von seiner eigenen Überlegenheit überzeugt, drangsaliert er die zu ihm aufschauende Nette wie kein Zweiter. Bekannten rät er sogar dazu, die junge Frau gleich bei erster Gelegenheit nur ordentlich zu demütigen, nur so könne man mit ihr fertigwerden. Seine Ansichten teilen jedoch nicht alle, ausgerechnet des Onkels guter Freund, das verarmte Dichtergenie Heinrich Straube, fühlt sich zu der ihrer Zeit „im schnellen, viel zu männlichen Schritte“ vorauseilenden Frau hingezogen. Zum wachsenden Unmut der Tanten und Onkel bleibt es jedoch nicht bei Straube. Plötzlich stehen der jungen Nette, die mit Mitte Zwanzig zum ersten Mal richtig aufblüht, die Verehrer scharenweise ins Haus. Obwohl es anfangs so scheint, als erhalte die vielfach begabte junge Frau nun endlich die ihr gebührende Aufmerksamkeit, führen Eifersucht, Intrige und das Unvermögen, sich zu entscheiden, letztendlich zum familiären Bruch und dem Verlust ihres Ansehens.
Karen Duve beschreibt in Fräulein Nettes kurzer Sommer nichts anderes als die Jugendkatastrophe der Annette von Droste-Hülshoff. Deren Auswirkungen die Dichterin nicht nur aufs Tiefste erschütterten, sondern auch dazu führten, dass sie sich weitestgehend zurückzog und den Rest ihrer verbliebenen Jugend abgeschieden im Elternhaus zubrachte. Dies, so klingt es auch bei Duve an, veränderte ihr Schaffen entscheidend: So ließ die Krise ihre literarischen Bestrebungen reifen und führte dazu, dass sich Annette von Droste-Hülshoff mehr der Musik zuwandte. Die vielen Widerstände, gegen die eine Frau wie „die Droste“ im 19. Jahrhundert zu kämpfen hatte, die geistige Enge und die den Konventionen der Zeit geschuldeten Einschränkungen, schildert Karen Duve mit scharfem Witz. Plastisch und packend beschreibt sie auch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die gravierende Auswirkungen in allen Lebensbereichen mit sich brachten. Die Rückbesinnung auf alles Deutsche, die progressive Idee einer deutschen Nation, aber auch die Sehnsucht nach der „alten Zeit“, die in Literatur und Mode dieser Epoche teils seltsame Blüten trieb, geben der Autorin genügend Angriffsfläche für pointierte Beobachtungen. Was Fräulein Nettes kurzer Sommer in diesem Zusammenhang ebenfalls zu einer unterhaltsamen Lektüre macht, ist, dass alle paar Seiten eine neue bekannte Geistesgröße auftritt. Achim von Arnim, Clemens Brentano, Heinrich Hoffmann von Fallersleben gehen auf dem Bökerhof ein und aus. Goethe ist in aller Munde und auch einer der Gebrüder Grimm ist niemals fern.
Der farbenfroh geschilderten, historischen Tapisserie, vor der sich die Handlung des Romans entfaltet, ist anzumerken, dass Karen Duve ihre Hausaufgaben gemacht hat. Wichtige Ereignisse wie die Ermordung August von Kotzebues durch den Burschenschaftler Karl Ludwig Sand oder die Karlsbader Beschlüsse webt die Autorin – wenn auch nicht nahtlos – in ihre Erzählung ein. Für Fräulein Nettes kurzer Sommer studierte Duve Geschichts- und Tagebücher sowie zahlreiche Korrespondenzen. Allein das dem Roman angehängte Literaturverzeichnis umfasst 15 eng bedruckte Seiten. Allerdings schreibt die Schriftstellerin mit einem heutigen Blick. An mancher Stelle wirkt der Roman gar zu modern. Zu perfekt sind die Parallelen zu den Herausforderungen unserer Zeit, gar zu einfach fällt es etwa in den Bemerkungen der Figur Hassenpflug, der sich darüber beschwert, dass man sich neuerdings nur noch „daran ausrichte, was wissenschaftlich bewiesen, mathematisch möglich oder wirtschaftlich vorteilhaft“ ist, einen Seitenhieb auf die heutige Faktenmüdigkeit in Gesellschaft und Politik zu erkennen.
Für die 1961 in Hamburg geborene Karen Duve ist Fräulein Nettes kurzer Sommer der sechste Roman seit ihrem Debüt Regenroman 1999. In der Vergangenheit überraschte die Autorin immer wieder durch ihre Wandlungsfähigkeit, tauchte in verschiedene Genre ein, experimentierte mit unterschiedlichen Stilen, brachte zum Lachen, klärte auf und regte zum Nachdenken an. Auch wenn ihr neustes Werk nicht unbedingt zu tiefsinnigen Betrachtungen einlädt – zu offensichtlich ist die Borniertheit der einen Seite und allzu augenfällig der Opferstatus der anderen – so ist es doch überaus unterhaltsam! Ohne übertrieben belehrend zu wirken, tragen die historischen Details, die bei Duve viel Raum einnehmen, nochmal alles zusammen, was seit der Schulzeit an Wissen zur Geschichte und Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verloren gegangen ist. Und auch dem Andenken „der Droste“ erweist der Roman einen Dienst. Denn es zeigt die zu Lebzeiten nie richtig geschätzte Dichterin in einem neuen Licht. Manche Leserinnen und Leser mögen dadurch Lust bekommen sich nochmal Die Judenbuche oder auch eines ihrer schaurig-empfindsamen Gedichte zur Hand nehmen.
Galiani Verlag