© Wunderhorn, Heidelberg, 2018
Lyrik zu lesen ist sinnlos. Warum? Weil es nicht möglich ist, in den sinnerfüllten Raum eines anderen Autoren einzutreten – dieser wird unter dem Scherbenhaufen der individuellen Welt versteckt bleiben. Lyrik erlaubt lediglich, durch das Fenster hineinzuschauen, bleibt jedoch im „Rückspiegel“, im Raum der unmöglichen Begegnung. Sie suchen einen Sinn? Lesen Sie moderne Lyrik nicht, weil diese nichts erklärt, nicht auffordert, nicht verurteilt. Lesen Sie sie, um sich selbst im Fenster zu sehen. Die urbane Version des Narzissmus auf dem offenen Feld der Freiheit – das ist für mich die moderne deutsche Dichtung.
Beim Lesen dieser Auswahl an Lyrik ist eine Entfremdung zu spüren, die verschiedene Formen annimmt – der Zerfall des Versmaßes und dessen selten anzutreffenden „Überbleibsel“ sind vor dem Hintergrund neuer barocker Ästhetik zu erkennen, in der die Form selbst ein Objekt unregelmäßiger Form ist (Kornappel, Schloyer).
Wo verweilt die moderne deutsche Muse? Die urbane Umwelt, die einzige Natur des postmodernen Städters, ist in kleine Einsamkeiten zerfallen, die unbemerkten Leben von Großstadtgefangenen, die verschiedene Autoren auf ihre Handybildschirme starrend von Neuem zu entdecken versuchen. Der Dichter entdeckt Vögel, ist über Bienen und Honig verzückt, der sich noch nicht im Plastikglas versteckt hat (Rinck), oder trifft einen Engel auf der Wiese, der mit einem Wunderbrot den Tod von alten Menschen fernhält (Kühn).
Man kann nicht über alle 180 in der Anthologie enthaltenen Autoren nachsinnen. Denken Sie daran: Es ergibt keinen Sinn, Lyrik als erklärendes Wörterbuch darüber zu lesen, was in der Seele des Dichters vor sich ging – die Ermittlungen müssten eingestellt werden, da es an Beweisen fehlt. Die in der Anthologie gesammelte Lyrik bildet einen subjektiven Zeitgeist, der in der Müdigkeit des Postmodernismus nichts mehr dekonstruiert, weil er nur von Dekonstruktionsprodukten umgeben ist – Gleichgültigkeit, Ironie über Ironie, Ebenen der Zersplitterung, die von einem zeugen: Der Tod des Postmodernismus ist ein Gerücht. Er verschlingt sich selbst und lebt von der absoluten Freiheit der Formen und Themen, bietet den Lesern jedoch eine versteckte und schwere Aufgabe an – die totale Fragmentierung zu ertragen, zu erhalten und sich daran zu beteiligen. Versuchen Sie einmal, sich selbst in fremden Texten zu lesen. Die werden sicherlich auf Sie hindeuten.
Übersetzung: David Stasun
Wunderhorn Verlag
Michael Braun, Hans Thill (Hrsg.)
Aus Mangel an Beweisen. Deutsche Lyrik 2008–2018
Wunderhorn, Heidelberg, 2018
ISBN 978-3-88423-601-7
240 Seiten
Rezensionen in deutschen Medien:
Die Rheinhpfalz
Fixpoetry