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Der Titel des Romans von Katerina Poladjan – Hier sind Löwen – knüpft an die lateinische Formel „Hic sunt leones“ an, mit der die antiken Kartografen ferne, unbekannte Gebiete bezeichneten. Hier aber erzählt eine in Moskau geborene deutsche Autorin vom Land ihrer Vorfahren: Armenien. Die Hauptfigur des Romans, Helen Mazavian, in deren Adern armenisches, russisches und deutsches Blut fließt, scheint ein Alter Ego der Schriftstellerin zu sein. Als Restauratorin von Handschriften reist sie von Deutschland nach Armenien, um sich mit der Konservierung alter Familienbibeln zu beschäftigen. In Jerewan, im Schatten des mythischen Berges Ararat, beugt Helen sich über ein Evangeliar, in der sie den geheimnisvollen Vermerk findet: „Hrant will nicht aufwachen“. Damit eröffnet sich ihr die Geschichte eines armenischen Geschwisterpaars, das im Jahr 1915 vor dem von den Türken begangenen Völkermord fliehen muss.
In diesem Roman überlagern sich die menschlichen Geschichten und bilden ein ganz eigenes Palimpsest, einen verdichteten Text, der eine vielschichtige und vielstimmige Erzählung über Armenien und die Armenier vermittelt, die immer wieder aufs Neue ihre dramatische Geschichte durchleben. Tatsächlich erinnert er an jene Familienbibel, in der sich auf die große Erzählung von Irren und Erlösung immer weitere Mikroerzählungen auflagern – von Leben und Tod der in den Strudel der Geschichte geworfenen Menschen. Hier sind Löwen ist ein hervorragendes Beispiel für die kulturelle Offenheit der deutschen Gegenwartsliteratur. Ihre Wege der Selbsterkenntnis führen durch das, was fern und fremd ist, zugleich aber universal, wichtig und schön.
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