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Vilnius | 12.04–19.05.2018
Global Control & Censorship

In diesem Jahr feiert Litauen den einhundertsten Geburtstag seiner Staatsgründung. Seit seinem Gründungsjahr 1918 hat die junge Republik allerdings ein halbes Jahrhundert Vernichtung, Deportation und Unterdrückung erlitten. Kurz nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde das Land von sowjetischen Truppen überrannt, Teile seiner Bevölkerung wurden deportiert, Widerständler ermordet. Bereits ein Jahr später, 1941, wurde es von deutschen Truppen unter den Terror der Naziherrschaft gestellt, während der fast alle litauischen Juden vernichtet wurden. Und auch nach seiner erneuten Besetzung durch die Rote Armee im Jahr 1944 erlebte das als Litauische Sozialistische Sowjetrepublik wiederbegründete Land schlimmste Massendeportationen und die autoritäre Verfolgung seiner freiheitlichen Kräfte. Selbst nach seiner Erklärung zum souveränen Staat (1990) wurden von prosowjetischen Kräften am Vilniusser Blutsonntag, dem 13. Januar 1991, noch vierzehn mutige Demonstranten bei der Verteidigung des Fernsehturms in Vilnius getötet. Bis zum Wiedererreichen seiner heutigen Unabhängigkeit waren Überwachung, Kontrolle und Zensur durch wechselnde Feinde und angebliche Freunde die bestimmenden gesellschaftlichen und politischen Faktoren in Litauen.


In der Politik aber ist Freundschaft immer nur eine Metapher für eindeutige Interessen. Deshalb gibt es auch heute vielfache Gründe wachsam zu sein, sei dies gegenüber implizierter politischer Einflußnahme oder gegenüber den ausgesprochenen Interessen privatwirtschaftlich global operierender Konzerne.
 
Wissen ist Macht. Noch mehr Macht hat jedoch, wer den Fluss der Informationen beherrscht. Dies gilt vor allem in der heute vorherrschenden digitalen Kultur, in der alle Informationen im weltweiten Netz unkontrollierbar überwacht und manipuliert werden können.
 
Die euphorische Nutzung mobiler Kommunikationsgeräte hat dazu beigetragen, dass heute Milliarden Menschen weltweit miteinander verbunden sind. Inhalte und Daten jeder Art werden täglich milliardenfach erzeugt und sekundenschnell über den ganzen Globus übermittelt. Bereits während ihrer Erzeugung und noch bevor sie ihre Empfänger erreicht haben, werden diese Daten durch private Dienstleister und staatliche Dienste abgegriffen, kontrolliert und anschließend für deren Zwecke weiterverwendet. Die digitalen Kommunikationsformen galten bisher als Hoffnungsträger einer neuen demokratischen Mitwirkung. Sie sind jedoch in jüngster Zeit als ideale Türöffner zur perfekten Überwachung und Steuerung von Milliarden Menschen umgenutzt und pervertiert worden.
 
Wer sie nutzt, wird genutzt.
 
Das ist die Regel, auf die wir alle uns bequem eingelassen haben, um von diesen Kommunikationsformen zu profitieren. Smartphones, die ihre BenutzerInnen auf Schritt und Tritt begleiten, werden mit Spähsoftware infiziert und können ohne unser Wissen als Überwachungskameras und Abhörgeräte eingesetzt werden. Unsere Aufenthaltsorte und Bewegungsprofile sind jederzeit abrufbar. Informationen über unser Surf- und Kaufverhalten, unsere Kontaktdaten, unsere Vorlieben und Schwächen können jederzeit ungefragt abgerufen, analysiert und weitergegeben werden.
 
Überwachung und Zensur bedingen sich gegenseitig; sie können nicht voneinander getrennt betrachtet werden. Überwachung von BürgerInnen sowie von Institutionen und Unternehmen, ja, auch die Überwachung von PolitikerInnen und Parlamenten oder von JournalistInnen und RechtsanwältInnen ist seit jeher der geheime und gleichzeitig offen bekannte Auftrag staatlicher Dienste gewesen. In jüngster Zeit aber ist diese historische Praxis durch das staatlich legitimierte Ausspionieren aller BürgerInnen durch mächtige Dienstleister und Wirtschaftsunternehmen ausgeweitet worden. Gleichzeitig wird die Weitergabe von für die Allgemeinheit wichtigsten Informationen durch mutige JournalistInnen, die Enthüllung illegaler Überwachung, ja sogar das Aufdecken von Zensur und Folter durch staatliche Institutionen aufs Schärfste verfolgt und bestraft. Auch heute werden systemkritische JournalistInnen, KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und WhistleblowerInnen als VerräterInnen gebrandmarkt. Man droht ihnen mit Publikationsverbot, mit Hausarrest und Reiseverbot sowie mit lebenslangen Gefängnisstrafen oder gar dem Tod. Gerade in jüngster Zeit sind viele Fälle grenzüberschreitender Verfolgung von JournalistInnen bis hin zu deren Ermordung auch in demokratisch verfassten Staaten bekannt geworden.
 
Nach der Verfolgung von Millionen von Menschen durch das Naziregime, steht nach dem Zweiten Weltkrieg die durch George Orwell zur Metapher verdichtete, allgegenwärtige gottgleiche Kontrollinstanz Big Brother erstmals für eine totalitäre staatliche Kontrolle mittels elektronischer Medien. In der Diktatur Stalins, kaum anders als während der Kommunistenjagd der McCarthy-Ära in den USA, wurden Millionen von Menschen wegen ihrer freiheitlichen Gesinnung verfolgt, in Gefängnisse und Lager gesperrt, gequält und vernichtet. Dies trifft auch auf die Situation Litauens während der Naziherrschaft sowie während der Stalin-Ära und auch danach zu. Neben den Diktaturen Francos in Spanien und Salazars in Portugal, den Regimen Pinochets, Suhartos und Ceausescus, hatte auch das Regime der Deutschen Demokratischen Republik seinen Fortbestand bis 1989 durch ein allgegenwärtiges Spitzelsystem gesichert. In ähnlicher Form haben in allen ost-europäischen Saaten Geheimdienste weitestgehende Kontrolle ausgeübt.
 
Spätestens seit 1947 ist das von den Five Eyes, von den USA, Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland weltweit betriebene Spionagenetz Echelon darauf ausgerichtet, politische, wirtschaftliche und private Kommunikation abzuhören, im Osten wie im Westen. Seit seiner Besetzung durch die Sowjets im Jahr 1944 bis zur Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit wurde in Litauen der gesamte Post-, Fernmelde- und Funkverkehr überwacht.
 
Seit rund drei Jahrzehnten ermöglicht die digitale Vernetzung nun auch das automatisierte flächendeckende und gezielte Abgreifen, Verarbeiten und Speichern aller über das Internet verfügbaren Informationen sowie das gezielte Ausspionieren der NutzerInnen jederzeit und weltweit. Die mutigen Enthüllungen durch Edward Snowden und andere Wistleblower haben deutlich gemacht, dass diese Möglichkeiten totaler elektronischer Überwachung von Diensten westlicher wie östlicher Staaten auf breitester Basis entwickelt und eingesetzt werden. Die jüngst bekannt gewordenen Manipulationen der öffentlichen Meinung im Vorfeld demokratischer Wahlen durch ganze Armeen eingesetzter "Trolle" gehört ebenso wie das Hacken digitaler Infrastrukturen von Regierungen und nichtstaatlicher Organisationen zum gleichen Repertoire undurchsichtiger Handlungsstrukturen. 
 
Neben die Massenanalyse der kommunikativen Metadaten in elektronischen Netzen und den direkten Zugriff auf private Daten ist die offene oder geheime Zensur durch Störung, Manipulation und Abschaltung getreten. Wo die Angst vor drohender Zensur nicht wirkt, wird die Geheimhaltung von für die Bevölkerung wichtigen Informationen durch die Nicht-Zulassung und Kontrolle von JournalistInnen (embedded journalists), durch gezielte Behinderung einzelner Veröffentlichungen oder einer Berichterstattung über ganze Themenbereiche durchgesetzt. In jüngster Zeit ist die arrogante Lancierung von "alternative news" zu einem weit verbreiteten Instrument der politischen Beeinflussung geworden.
 
Die typische Begründung für Zensur war immer schon die reale oder vorgetäuschte Infragestellung von Sicherheit durch die Enthüllung von Informationen und schließlich die Abwehr terroristischer Bedrohungen. So ist Sicherheit heute der gängige und billige Schlüsselbegriff geworden, mit dem jede noch so autoritäre Maßnahme durchgesetzt werden kann. Dass Kontrolle und Manipulation von Kommunikation und Information sowie Überwachung und Bestrafung letztlich aber nicht in erster Linie dazu dienen, die Sicherheit der BürgerInnen zu garantieren, sondern oft auch dazu, bestehende illegitime Macht aufrecht zu erhalten, wird immer nur dem jeweiligen ideologischen Feind unterstellt.
 
Niemand überblickt heute mehr die technischen Möglichkeiten von Überwachung und Zensur in elektronischen Netzen. Neben der Kenntnis um tief greifende politisch motivierte Spähmanöver von staatlicher Seite aus, wissen wir auch längst um die massive Einflussnahme von Wirtschaftsunternehmen auf den öffentlichen wie auf den privaten Bereich, auf politische und wirtschaftliche Entscheidungen wie auch auf unser konkretes, individuelles Verhalten. Global operierende, an den Börsen hoch gehandelte Konzerne wie Alphabet Inc., Amazon, Facebook, Microsoft, Apple und viele mehr profitieren durch ihre massenhafte Datengewinnung gezielt von der Abhängigkeit ihrer NutzerInnen von allen Formen der social media.
 
So ist das Ausgeliefertsein an übermächtige Instanzen der Überwachung und Zensur zur conditio humana, zur Grundbedingung unserer Kultur geworden.
 
Wir können dies zwar noch ansatzweise erkennen und reflektieren, aber offensichtlich nicht mehr rückgängig machen. Wir haben uns daran gewöhnt, ebenso wie an die unzähligen Videokameras, von denen wir uns auf dem Weg zur Arbeitsstätte oder nach Hause nicht mehr aufhalten lassen. Wir sind auf dem besten Wege, Überwachung und Zensur als allgemein gegeben zu akzeptieren, so wie wir andere Bedingungen unserer modernen Existenz – Verkehrslärm, Allgegenwart von Werbung, Umweltverschmutzung, Bedeutungslosigkeit im politischen Raum – als grundsätzlich gegeben zu akzeptieren gelernt haben.
 
Trotz höchst alarmierender Erkenntnisse hat heute bereits ein großer Teil der Öffentlichkeit vor der Allgegenwart staatlicher und privater Überwachung resigniert. Unsere Enkel werden uns hoffentlich noch fragen können, was wir denn dagegen unternommen haben – in einer gleichgeschalteten Gesellschaft werden auch solche Fragen nicht mehr aufkommen.
 
Die Ausstellung GLOBAL CONTROL AND CENSORSHIP untersucht das unaufhaltsame Eindringen von Überwachung und Zensur in unseren Lebensalltag. Sie stützt sich auf die Partnerschaft mit dem ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe und auf die Kooperation mit der Arbeitsgruppe Netzpolitik am Institut für Politische Wissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und dem Kompetenzzentrum für angewandte Sicherheitstechnologie (KASTEL) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Weitere wichtige Kooperationspartner sind Reporter ohne Grenzen, der Chaos Computer Club e.V. (CCC) sowie netzpolitik.org.
 
Größten Dank schuldet die Ausstellung all jenen Wistleblowern, die den Mut hatten und haben, die Öffentlichkeit über undemokratische Praktiken von Staat und Privatwirtschaft aufzuklären.
 
Die Ausstellung wird vom Goethe-Institut Vilnius und dem Energiemuseum Vilnius veranstaltet. Sie wurde von Bernhard Serexhe und Lívia Rózsás kuratiert.

— Bernhard Serexhe

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