Nida und die Fotografie
Sand, Wasser und Leere
Wer von weiter her auf die litauische Fotografie blickt, mag überrascht sein von so viel Sand, Wasser und Leere. Aber so muss es sein. Seit 1973 finden in Nida (Nidden) Workshops der Fotografie statt, die litauische und ausländische Fotografen sowie Kritiker, Philosophen, Galeristen, Zeitschriftenredakteure u.a. zusammenbringen. Zwischen den Vorträgen und verschiedenen Zusammenkünften wird fotografiert. Auf diese Weise entsteht sozusagen eine eigene Fotografie-Geschichte der kurischen Halbinsel.
Dieselbe „wilde“ Natur der Nehrung, die schon die deutschen Expressionisten und den Schriftsteller Thomas Mann faszinierte, zieht heute die Fotografen nach Nida. Es ist die Freiheit vom Alltag und der offene, nur von Wasser begrenzte, Raum, in dem man sich ganz dem Licht, dem Wind und der Zeit hingeben kann. In seiner Rede vor dem Rotary Club beschrieb Thomas Mann die Kurische Nehrung 1931 so: „Der Eindruck ist elementar und fast beklemmend. Weniger jedoch auf den Höhen, von wo aus man beide Meere sehen kann, als in den tiefen eingeschlossenen Gegenden. Alles ist weglos, nur Sand, Sand und Himmel.“ Diese Elemente und ihre Leere eignen sich ausnehmend gut für die Fotografie. Denn sie bilden eine Leinwand aus Licht, noch frei von gemalten Gegenständen. Um wirklich „mit dem Licht zu schreiben“, konstruierte der Modernist und Bauhaus-Lehrer László Moholy-Nagy Licht-Raum-Modulatoren – kinetische Plastiken aus Metall, Kunststoff und anderen Materialien, die auf unterschiedliche Weise das Licht reflektieren, absorbieren und brechen - das er dann auf Fotogrammen festhielt. Auch an den Dünen in Nida, die der Wind jeden Tag neu gestaltet, und den zwei immer wieder anders gekräuselten Wasserflächen links und rechts würde Moholy-Nagy wie an einem gewaltigen Lichtmodulator Gefallen finden.
Daher sind die Dünen ein großartiger Ort für den Existenzialismus, der ja in der Einsamkeit gedeiht. Lässt man ihnen freien Lauf, so vernichten Sand und Wind jedes Zeichen von Zivilisation: sowohl zusammengewehte Formen als auch menschliches Leben, denn der Sand wandert, schleift mit und begräbt ganze Dörfer unter sich. Die Kurische Nehrung ist wie eine Riesenschlange aus Sand, deren Bauch die Leben längst verstorbener Menschen, die in Zeitschichten daliegen verdaut. Mit ihren Fotografien aus Nida destillieren die Fotografen daher das Sein. Die Dünenlandschaften von Jonas Kalvelis und Kazimieras Mizgiris, in denen der Kosmos jeden Tag seine Hieroglyphen hinterlässt, werden vom Licht der ewigen Vergänglichkeit durchzogen. Der durch die weiße Leere des Sandes gegen den Wind anschreitende Jean Paul Sartre, den Antanas Sutkus in seiner Fotografie einfing, wurde zum Symbol des existenziellen Kampfes mit der Natur und „mit sich selbst“: Nichtsdestotrotz schreitet er über seinen Schatten. Es gab Versuche, den zweiten, ihn begleitenden Schatten, zu politisieren – manche glaubten, der Philosoph werde vom KGB verfolgt. Erst, als die gesamte Fotografie abgedruckt wurde, erkannte man in ihm die Figur Simone de Beauvoirs. Diese schnitt Sutkus immer heraus, um dem Kampf des Menschen gegen die Natur nicht vom Alltäglichen gestört zu wissen.
Die Geschichte dieser Sartre-Aufnahme zeugt heute von der Macht der Fotografie. Zur Sowjetzeit war die Kurische Nehrung Grenzsperrgebiet, das nur mit Sondergenehmigung zu erreichen war. Für viele blieb dieser Landstrich genauso unbekannt wie das hinter dem Meer liegende Schweden. Doch Fotokünstler durften auf der Nehrung Seminare halten, und Filmemacher durften filmen. Mit dem Fotoapparat als Werkzeug war es also möglich, wenigstens ein wenig Freiheit zu erfahren, zu deren Illusion der grenzenlose, vom unbeherrschbaren Wind verwehte Sand und die Horizontgrenze, hinter der das Unbekannte lauert, beitrug. In den Dünen konnte man dem Auge des Aufpassers entfliehen, um den verbotenen nackten Körper zu fotografieren (wie z.B. Rimantas Dichavičius). Oder man tauchte in eine Fantasiewelt aus Sand- und Wasserabstraktionen ein (wie in den Märchen von Vitalijus Butyrinas). Aber auch das Meer selbst war ein möglicher Weg in die Freiheit, den so mancher Mutiger gern ausprobiert hätte, aber doch nur in Gedanken ging. Davon zeugt der Blick von Gintautas Trimakas in seinen „13 Ausgängen zum Meer“. Obwohl er nur die Holzstege zum Strand registriert, handelt es sich doch nicht um ein unschuldiges Landschaftsbild. Der Meereshorizont zieht eine Grenze, hinter der das Unbekannte, die Utopie, das Nirgends, liegt.
Doch das Meer bedeutet nicht nur eine Möglichkeit zur Flucht. Es schwemmt auch Erfahrungen, Erinnerungen und Geschichten anderer Menschen an. Daher wurde der Raum um Nida für die Fotografie in den 1980er Jahren zur sozialen Landschaft. Alvydas Lukys hielt Treibholz und andere Strandfunde als fantasieanregende Zeichen für verlorenen Glauben und Leben fest. Für Virgilijus Šonta wurden jede gefundene Glasscherbe, jedes Seilstück, jeder Handschuh zu Monumenten, die von der Vergangenheit zeugen, deren Zeichen zwar nicht mehr lesbar sind, aber das Licht des Jenseits in das Diesseits bringen. Vytautas Balčytis, Alfonsas Budvytis, Vytautas Pletkus, Remigijus Pačėsa und Gintaras Zinkevičius (der die gleiche Landschaft allerdings in Smiltynė fotografierte) gewahrten hier eine Traurigkeit, eine sich langweilig ausdehnende Alltagszeit mit einem Grau, das sogar auf die Möwen abfärbt.
Auf den heutigen Seminaren oder in der seit 2010 bestehenden Kunstkolonie in Nida entfernen sich die Fotografen in ihren Arbeiten immer mehr von den erhabenen existenziellen Erfahrungen. Sie beschäftigen sich mit der Geschichte des Ortes, den sozialen Beziehungen und den ökologischen Problemen. Aber auch das geschieht anders, ohne die besondere Wirkung dieses Raumes zu zerstören. Stehenbleiben, aber nichts anfassen – wie Jurgita Remeikytė, die 36 kleine, aus Filmschachteln hergestellte Kameras in die Luft steigen ließ, nicht um den Blick, sondern um das Gefühl des Fluges über einem abgebrannten Wald festzuhalten.