Litauen in der Fläche
Auf der Suche nach der Identität von Tauragė
Von Darius Kiniulis
Von den zehn Distrikten Litauens, so das Kulturministerium, sei Tauragė (Tauroggen) derjenige mit den wenigsten kulturellen Dienstleistungen, Künstlern und der geringsten Beteiligung der Bevölkerung an kulturellen Aktivitäten. Außerdem weiß das Statistische Amt schon seit vielen Jahren zu berichten, dass dort die Gehälter am niedrigsten sind.
Diese Statistiken dämpfen die Erwartungen sowohl bei Einheimischen auch bei den nicht sehr zahlreichen Touristen, die jedoch bei einem Besuch meist angenehm überrascht sind. Auch wenn es sich beim Distrikt Tauragė um eine wirtschaftlich benachteiligte Region zu handeln scheint, kann man kaum einen Unterschied zum übrigen, insbesondere ländlichen Litauen feststellen. Werfen wir einen genaueren Blick auf die Stadt Tauragė, in der etwa ein Fünftel der Einwohner des Distrikts wohnt, in die viele zur Arbeit fahren und die auch die meisten Sehenswürdigkeiten aufweist.
Jahrhundertelang verbanden Tauragė enge Beziehungen, eine ethnisch gemischte Bevölkerung und der große Anteil von Lutheranern mit Preußen. Noch heute ist die lutherische Gemeinde der Stadt die größte in Litauen. Im Rahmen der Napoleonischen Kriege wurde hier 1812 die Konvention von Tauroggen unterzeichnet, die in Litauen jedoch beinahe unbekannt ist. Von ihrer Bedeutung für Deutschland zeugt beispielsweise die Tauroggener Straße in mindestens vier deutschen Städten: Berlin, Nürnberg, Bremen und Augsburg. Erst die Bemühungen lokaler Historiker nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit vor gut 30 Jahren führten dazu, dass mittlerweile auch die Einheimischen stolz auf dieses Ereignis sind. Anlässlich des 200. Jahrestags der Konventionsunterzeichnung wurde das in der Nachkriegszeit zerstörte Denkmal aus Mitteln des Rotary Clubs restauriert. Das war vermutlich das erste Ereignis dieser Größenordnung, das nur für die Menschen in Tauragė von Bedeutung war. Von der preußischen Vergangenheit zeugen auch die Nachnamen mancher Einwohner.
Der 1886 erschienene und 1974 verfilmte Roman Die Sintflut des polnischen Autors Henryk Sienkiewicz spielt zu einem nicht geringen Teil im angeblichen Schloss der Fürstenfamilie Radziwill in Tauroggen. Polnische Touristen besuchen Tauragė deshalb bis heute in großer Zahl, um nach dem Schloss aus Buch und Film zu suchen. Es gibt zwar ein Schloss in dieser Stadt, das sogar als ihr Symbol gilt, doch dieses wurde erst im 19. Jahrhundert zur Zeit des Zarenreiches erbaut – lange nachdem der Roman spielt. Dennoch hätte es Tauragė als Chance und Touristenmagnet nutzen können, was aber bis heute nicht geschehen ist.
Der Bau einer modernen Fernstraße führte ab 1836 zu einem starken Anstieg des Reise-, Post- und Warenverkehrs. Die Bevölkerung wuchs schnell – wie auch der Anteil jüdischer und russischsprachiger Bewohner. 1823 zählte Tauragė nur etwa 200 Einwohner, 1914 waren es bereits über 10 000 – mehr als in den benachbarten Orten Jurbarkas und Raseiniai mit ihrer langen städtischen Vergangenheit. Im Gegensatz zum übrigen damaligen Litauen fasste die polnische Sprache in Tauragė kaum Fuß; Litauisch und Deutsch dominierten. Das lag vor allem daran, dass es in der Region kaum große Gutshöfe gab und die katholischen und lutherischen Geistlichen auf Augenhöhe miteinander konkurrierten. Nicht einmal Polnisch sprechende Priester hätten die Sprache hier stärker zu verankern vermocht.
Im Gefängnis des Schlosses von Tauroggen wurden viele Knygnešiai (Bücherträger) gefangen gehalten, die zwischen 1866 und 1904 in lateinischen Buchstaben gedruckte litauische Schriften meist aus Preußen nach Litauen schmuggelten. Nach der Aufhebung des Verbots solcher Druckerzeugnisse traten neben den anderen großen Bevölkerungsgruppen der Juden, Russen und Deutschen auch die Litauer stärker hervor. Sie gründeten Chöre und Theater und knüpften enge Beziehungen zu den Litauern, die jenseits der Grenze im deutschen Ostpreußen, etwa in Laugszargen (Lauksargiai) und Tilsit (Tilžė) lebten. In der schnell wachsenden Stadt wurden viele schöne Backsteinhäuser gebaut, bis der Erste Weltkrieg dieser Blüte ein abruptes Ende bereitete. Tauragė gilt als die damals am stärksten zerstörte litauische Stadt. 1919 begann man mit ihrem Wiederaufbau aus einer Ruinenwüste, und die Menschen kehrten in die Geisterstadt zurück. Zwischen den beiden Weltkriegen, als Litauen unabhängig war, boomte der Bau von öffentlichen Gebäuden und Privathäusern. Tauragė gehörte zu den Vorreitern im Land, was die Backsteinhäuser betraf. Der Zweite Weltkrieg setzte jedoch auch dieser erneuten Blüte ein Ende und führte nicht nur zu enormen Schäden in der Stadt, sondern auch dazu, dass kaum mehr Deutsche hier lebten und die jüdische Gemeinde ausgelöscht war.
Nach dem Krieg besserte sich die Lage, wenn auch zu Anfang sehr langsam. Tauragė verwandelte sich in eine Industriestadt mit vielen großen Betrieben, zu denen die Keramikfabrik, das Fleischkombinat, die Fabrik für Rechenmaschinenelemente, das Kombinat für Obst- und Gemüseverarbeitung, die Molkerei oder die Möbelfabrik Tauras gehörten. Aus umliegenden Dörfern und Kleinstädten strömten die Menschen nach Tauragė, Wohnblocks, Schulen, Kindergärten und Straßen wurden gebaut, jedoch nicht geteert (ihr Zustand bereitet den Stadtvätern auch heute noch Kopfzerbrechen, doch das Problem wird erfolgreich angegangen). Trotz der immensen Produktionsmengen waren die Regale der Geschäfte in der Stadt leer, da fast alle Erzeugnisse per Bahn nach Russland verfrachtet wurden. Um etwas Besseres zu bekommen, musste man stundenlang anstehen oder die richtigen Verbindungen haben. Da die Fabriken eine große Anzahl ausgebildeter Arbeitskräfte benötigten, wuchs die Einwohnerzahl bis 1989 auf über 30000 an. Trotz großer Nähe zum Kaliningrader Gebiet zog der rasche Aufschwung kaum Russischsprachige an, und so ist der Distrikt Tauragė in ethnischer Hinsicht beinahe homogen litauisch geblieben. Die sowjetische Realität zwang die Menschen allerdings zum weitverbreiteten Mitlaufenlassen von Waren am Arbeitsplatz sowie zum Anbau des eigenen Gemüse und Fleisch. Zum regen Kulturleben trugen die Chöre und Orchester der großen Fabriken, das Gesangs- und Tanzensemble „Jūra“, benannt nach dem Fluss, an dem die Stadt liegt, oder das Amateurtheater bei.
1988 erreichte die litauische Unabhängigkeitsbewegung „Sąjūdis“ mit einigen Monaten Verspätung die Stadt. Der Wind der Freiheit wehte immer heftiger und die litauische Trikolore wurde immer häufiger und exponierter gehisst. Auf Initiative von Antanas Bagdonas und anderer Künstler wurden die Denkmäler von Vincas Kudirka (Autor der litauischen Nationalhymne) und Vladas Putvinskis (Bücherträger und Begründer der Litauischen Schützenunion) restauriert sowie andere, etwa zum Gedenken der Opfer des Stalinismus, errichtet. Außerdem erhielten die Straßen ihre vorsowjetischen Namen zurück.
Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit wurde das künstliche Wachstum der Stadt gestoppt. Die sowjetischen Truppen zogen ab und die Fahrt zum Einkauf oder auf den Markt nach Sowjetsk (Tilsit) gestaltete sich immer schwieriger. Viele große Fabriken konnten sich nicht an den freien Markt anpassten und gingen bankrott, die Geburtenrate sank und viele Einwohner wanderten in die großen litauischen Städte und ins Ausland ab. Reiche Investoren oder ein kluges und anpassungsfähiges Fabrikmanagement haben einige Industriestädte vor dem Niedergang bewahrt. Tauragė jedoch erlebte einen totalen Zusammenbruch, und so versuchten viele der nun arbeitslosen Einwohner sich als Kleinunternehmer, um zu überleben. Offenbar verfügten sie über einen guten Geschäftssinn, denn Besucher der Stadt berichten von vielen kleinen Geschäften in der Stadt, in denen es Kleidung, Schuhe, Lebensmittel und anderes zu kaufen gibt. Allerdings bereitet den Besitzern die Konkurrenz der großen Marktteilnehmer, die den goldenen Zeiten der Kleinunternehmer ein Ende bereiteten, heute erhebliche Schwierigkeiten. Langfristig erwiesen sich Import und Reparatur von Autos aus Westeuropa als rentabelstes Geschäft. Die Stadt wurde schon bald zu einem Mekka des Gebrauchtwagenhandels und ist es noch heute. Anders als in Kaunas, Marijampolė oder Utena stammen die Autos hier ausschließlich aus Frankreich, wohin erfolgreiche Geschäftskontakte geknüpft werden konnten. Viele Autohändler sprechen deshalb ausgezeichnet Französisch, und man erzählt sich den Witz, die Franzosen würden denken, Le Taurage sei ein Staat. Die Kunden der gewieften Autohändler stammen auch aus Polen, der Ukraine, Weißrussland, Usbekistan und weiteren Ländern. Mehrere Unternehmen im Umfeld des Gebrauchtwagenhandels sind zu großen Logistikunternehmen herangewachsen, und auch die Industrie hat sich erholt. So stellen heute große Unternehmen mit Kapital aus Litauen und Skandinavien, die meisten von ihnen im Industriepark Tauragė, weltweit vertriebene Molkereiprodukte, Teile für Windkraftanlagen, Netze, Arbeitskleidung für den skandinavischen Markt und vieles mehr her. Zwar führt mit der A12 eine Hauptverkehrsachse Richtung Westen durch Tauragė, doch diese durchquert das zu Russland gehörende Kaliningrader Gebiet, das die meisten wegen der damit verbundenen Schwierigkeiten lieber umfahren.
Die Stadt konnte schon immer stolz sein auf ihr reges kulturelles Leben, doch laut der Dichterin und Kulturveranstalterin Renata Karvelis trifft man auf den von ihr organisierten und ähnlichen Anlässen meist auf dasselbe aktive Publikum und neue Besucher sind nur schwer zu gewinnen. Auf der Grundlage ihrer Recherchen verfasste sie einen Artikel mit dem witzigen Titel „Tauragie nieka nie“ (In Tauragė findet nichts statt) – so mundartlich bekommt man es heute eher selten zu hören. Kultureinrichtungen laden immer mehr professionelle Künstler ein, und jedes Jahr finden Festivals statt: ein internationales Musikfestival, Jazztage, ein Festival der Künste. Karvelis hebt jedoch richtigerweise hervor, dass nur ganz wenige Kreative im Distrikt Tauragė von ihrer künstlerischen Arbeit leben können, während andere sich ein wenig vor dem Anderssein fürchten und Menschen mit Autorität bräuchten, die sich für sie einsetzen würden. Die staatliche Kulturförderung berücksichtigt aber in vielen Fällen nur Institutionen, während Privatpersonen nach wie vor kaum an Projekten zur Finanzierung kultureller Aktivitäten beteiligt. Dem Fußballklub „Tauras“, dem Stolz der Stadt, geht es nicht gut, und Basketball, der Nationalsport der Litauer, ist hier nicht stark vertreten.
Die Stadt ist schöner geworden und die touristische Infrastruktur besser ausgebaut, sodass Jahr für Jahr mehr Touristen die Region entdecken. Selbst im Fremdenverkehr tätig, höre ich immer wieder, wie hübsch die Stadt sei, dass sie wie eine große Stadt wirke und den Besuchern viel zu bieten habe – auch im Umkreis der Stadt. Tauragė hat sich in den letzten 6 Jahren zu einem grünen Reiseziel gemausert. In der Stadt mit dem dichtesten Netz kostenloser Ladestationen für Elektroautos sind bereits 5 Elektrobusse in Betrieb und weitere werden folgen. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind kostenlos, die Sonnenkollektoren auf ihren Dächern versorgen viele öffentliche Gebäuden mit Warmwasser, und auch der größte Windpark Litauens befindet sich in Tauragė. Die Gemeinde stellt alljährlich Lernpakete für Schüler und Lehrer kostenlos zur Verfügung und zahlt bei Geburt eines Kindes eine Pauschale in der Höhe von 300 € aus.
Wie ist Tauragė also? Postindustriell, aber wieder industriell, kleiner, aber mit schnell wachsenden neuen Vierteln, ein Autoparadies, eine Unternehmerschmiede, ein Kulturzentrum und ein Modell für grüne Energie. Mit vielen Möglichkeiten!