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Litauen in der Fläche
Der magische Realismus von Mažeikiai

Mažeikiai
Aufnahme von Peter Bialobrzeski, aus der fotografischen Recherche von Bialobrzeski und Christina Stohn zu Mažeikiai und Naujoji Akmenė, Juli 2021 | © Goethe-Institut Vilnius

Von Lina Simutytė

Es gibt nichts Fremdes mehr,
die Stadt, die ich hasste, wird größer.
Liūnė Sutema

Seit dem Erscheinen meines Erzählbands „Miesto šventė“ („Stadtfest“) vor einem Jahr habe ich ungewöhnlich oft über Mažeikiai erzählt. Obwohl das Buch nicht von dieser nordlitauischen Stadt an der Grenze zu Lettland handelt, stellte man mir immer wieder die Frage, wie es dort so war. In der Art und Weise, wie man sich nach einer Person und nicht nach einer Stadt erkundigt. Aber ich kann über Mažeikiai nicht anders als über eine Person sprechen. So, wie ich sie kannte, während ich die ersten neunzehn Lebensjahre dort verbrachte. Wie über etwas, das ich ablegen wollte wie einen zu engen Mantel. Mit dem Unterschied, dass man seine Heimatstadt nicht wie Kleidung einfach ablegen, sondern sich aus deren Haut schälen muss. Wahrscheinlich spüre ich aus diesem Grund jedes Mal, wenn ich den Namen Mažeikiai ausspreche, wie der Geschmack von Eisen, Erdöl, Rauch, Vanilleeis von „Ingman Vega“, Bier der Brauerei „Lokys“ und süßem Brot von Mažeikių duona“ daraus hervorquillt. Und einen Menschen kann man zurücklassen, aus dem Gedächtnis löschen, während eine Stadt nicht nur ein Ort ist, an dem man gelebt hat, sondern auch ein Ort in einem selbst, an den man trotz allem immer wieder zurückkehrt. Deshalb spreche ich, wenn ich von Mažeikiai erzähle, im Grunde genommen stets über mich selbst.

Zweifellos existieren so viele verschiedene Versionen von Mažeikiai, wie es Leute mit engem Bezug zu dieser Stadt gibt, aber in keiner Version dürfte die Ölraffinerie „Mažeikiai nafta“ fehlen. Ich schloss an einem wolkenverhangenen Herbsttag mit ihr Bekanntschaft, als der Nebel vor dem Fenster so dicht war, dass er wie feiner Staub wirkte, und die Spielsachen im Haus ihre Farbe verloren hatten. Mein Vater hatte meinen Bruder und mich zum ersten Mal ins Kino eingeladen. Das Kino EOS im kleinen Saal des Raffinerie-„Kulturpalastes“ zog uns an wie ein schwarzer Magnet, dessen Wirkungsweise unser Verständnis damals noch überstieg. In Windeseile waren wir bereit zum Gang ins Kino: Wir trugen kratzende Wollpullover, ließen uns mit dicken Schals umwickeln, die uns fast erstickten – wir taten all das, wogegen wir uns sonst mit Händen und Füßen wehrten. Als wir schon vor dem Eingang zum Kinosaal standen – der Vater mit drei Eintrittskarten in der Hand, mein Bruder und ich versuchten zu erraten, welche Farbe die Stühle hätten und wie groß die Leinwand wäre – verkündete die Kassiererin, dass die Vorstellung nicht stattfinde, wenn bis zu deren Beginn keine fünf Zuschauer kämen. Wir gingen wieder nach draußen. Die Nacht brach herein, der Nebel war jetzt noch dichter, und Papa versuchte die Passanten verzweifelt zum Kinogang zu bewegen. Vermutlich sahen wir lächerlich aus, aber das war unsere geringste Sorge. Auch den Füßen, die in den Schuhen allmählich steif wurden und dem aufkommenden eiskalten Wind schenkten wir keine Beachtung, denn wir wollten den schwarzen, pulsierenden Magneten unbedingt aus der Nähe sehen – die Leinwand, die wir nur aus der Werbung für Großstadtkinos kannten. Regeln sind Regeln, sagte die Kassiererin, als sie Papa das Eintrittsgeld zurückgab.

Ich war felsenfest davon überzeugt, dass der Nebel in dieser Stadt aus dem Teich bei den fünf Hügeln aufsteigt – sie ragen noch immer beim Zentralstadion der Stadt empor, das wir nur ROMAR nannten, weil dort der längst aufgelöste Fußballverein von Mažeikiai gleichen Namens trainierte. Wir fuhren auch damals mit dem Auto daran vorbei, als wir nicht ins Kino eingelassen wurden. In der Abenddämmerung verwandelten sich diese fünf Hügel in fünf Seehügelgeschöpfe mit Augen, wie sie auf dem Gemälde „Ramybė“ (Ruhe) des genialen symbolistischen litauischen Malers und Komponisten Konstantinas Mikalojus Čiurlionis zu sehen sind – selbst aus nächster Nähe wirkten sie unvorstellbar fern.

Auch wir fühlten uns oft weit weg von den großen Städten – als Kinder von Mažeikiai und später als Stadtjugend. Meist trafen wir Metalheads und andere Informelle auf der Tribüne des Altstadt-Stadions, während gegenüber auf Holzbänken vor einer knorrigen Eiche die marozai, die Prolos rumhockten. Was für eine wunderbare Erinnerung, dass auf den Rängen nicht nur die Metalheads, sondern auch die Skins und Raver Platz fanden. Egal, ob Slayer oder Depeche Mode, kein Unterschied, ob 15-Jähriger oder anderthalbmal so alt. Bei Gitarrengeklampfe im Hintergrund und bei Bier waren wir uns mit Jim Morrison einig: „No one here gets out alive“ – niemand kommt hier lebend raus.

Apropos Bier: Als Jugendliche waren nicht wenige der Überzeugung, eine Stadt mit einer Brauerei blicke in eine vielversprechende Zukunft. In jener Brauerei, die sich in der Nähe des Bahnübergangs befand, arbeiteten für einen Sommer zwei der älteren Jungs aus dem Altstadtpark. Sie erzählten mir, bei der Geheimzutat des Lokys-Biers handle es sich um nichts anderes als um Krähenfedern, die man zusammen mit dem Gebräu in einem Fass zum Sieden bringe. Wie hätte ich ihnen denn nicht glauben sollen? Von der anderen Straßenseite aus betrachtet ähnelte der Bär aus Stahlblech auf dem Turm der Brauerei schließlich einer menschlichen Silhouette. Ein erstarrter Ureinwohner, der letzte Heide, ein Bärenmensch – an Mutmaßungen und Inbrunst, die anderen von seiner Geschichte zu überzeugen, mangelte es keineswegs – ganz im Gegensatz zur Zeit, die wie die Vanille-Ingman-Vega-Eiscreme dahinschmolz.

Unsere Familie kaufte diese Eismarke stets an einem ganz besonderen Ort zum Sonderpreis. Während die Luxusausführung namens „Baltija“ damals im normalen Laden mindestens zwei Litas kostete, gab es sie im „Negalia“- also Behindertenladen für 60 Cent zu kaufen. Neben Eis hatte der Laden auch Arbeitskleidung, Hausschuhe, Kunsthandwerk und allerlei Schnickschnack im Angebot, die Behinderte angefertigt hatten. Zugegeben, das Eis wies Mängel auf – bald fehlten die Schokoladenglasur oder die Nüsse, bald hatten die Waffelbecher Dellen. Vielleicht frage ich mich noch heute deshalb jedes Mal, wenn ich eine Portion „Baltija“-Eis kaufe, als erstes, in welcher Hinsicht dieses Eis anders sein würde. Aber in den Großstädten wird nur Ware verkauft, die den allerhöchsten Standards genügt, und ich frage mich immer wieder, warum ich mich damals so für das billige Eis schämte, warum ich es auf dem Heimweg vom „Negalia“ in einer undurchsichtigen Plastiktüte vor der ganzen Welt versteckte. Die Welt von Mažeikiai funktionierte doch zu jener Zeit in der einen oder anderen Weise nach Prinzipien, die in Großstädten nicht galten.

Ich weiß noch, dass Papa an jenem Abend statt drei Kinokarten das Lenkrad des Autos in der Hand hielt. Und aufs Gas drückte. Wir fuhren an der Molkerei und an der inzwischen stillgelegten Großbäckerei „Mažeikių duona“ vorbei. Wir ließen die Stadt und die funkelnden Tankstellen am Straßenrand hinter uns und warteten schweigend auf etwas, das nur einmal im Leben passiert. Die Straße endete im Dorf Juodeikiai, wo Lichter den Nebel lichteten. Tausende, ja abertausende Lichter, von der Art, wie wir sie zuvor nur in Filmen über New York gesehen hatten, hörten nicht auf zu blinken und blitzen. Mein Bruder und ich schwiegen starr, so als schauten nicht wir Mažeikių Nafta an, sondern die Raffinerie uns. So hatte uns Papa an diesem Abend in einen Film mitgenommen, von dem ich heute noch spreche.

Ich frage mich, warum die Leute in Mažeikiai sich nie mit dem Kino anfreunden konnten, aber ich weiß, dass auch das riesige Sommertheater am Altstadtpark, das die Einheimischen nur „Dramblinė“, Elefantenhaus, nannten, in dieser Stadt nie Wurzeln fasste. Als Kind hörte ich von den Erwachsenen immer wieder, dass es in diesem Gebäude spuke. Vermutlich wollten sie damit nur meine aufkeimende Neugier stillen – erweckt von den Teenagern, die ich dort freitags auf dem Nachhauseweg von der Musikschule zelten sah. Der auf allen Seiten mit Graffiti besprühte gewaltige Körper des grünen Gebäudes hatte aus der Ferne wirklich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Elefantenhaus, während die Musik, die durch seine offenen Klappen nach draußen drang, ganz anders klang als die in der Musikschule – wie elektronische, basslastige Schamanengesänge, um den Elefanten herauszulocken. Als ich nach einigen Jahren den Mut aufbrachte, einen näheren Blick auf dieses mystische Ungeheuer von unvorstellbarer Größe zu werfen, kam man nur noch durch die eingeschlagenen Fenster nach drinnen. Dort stieß ich auf rote Sessel, einen zertrampelten Holzboden, Berge von Müll und eine Stille, die jeden, der sie hörte, glauben machte, dass der Elefant, der hier einst lebte, sich nicht von Gras, Pflanzenwurzeln oder Sträuchern, sondern vom Wummern des Rave-Basses ernährt hatte, und nach dessen Verstummen verhungert war. Den Elefanten in der „Dramblinė“ hat es nie gegeben, genau wie den Magneten im EOS-Kino. Aber nur wo nichts ist, kann man erschaffen, was sein könnte.

Mit sechzehn schaute ich zu, als das Gebäude niederbrannte. Ich hörte das Zischen der Flammen, die es verzehrten. Es atmete die neugierigen Schritte der Passanten ein und aus, was sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte – die Melancholie seiner Glanzzeit, die unverkauften Theatereintrittskarten, die Konzerte der litauischen Popstars „Rondo“ und die Discos. Und natürlich die Kränkungen. Ich sah in die Flammen – und wusste noch nicht, dass man die Bänke des Altstadtstadions durch neue ersetzen, dass aus „Mažeikių nafta“ einmal „Orlen Lietuva“ würde. Ich wusste nicht, dass einst vor dem großen „Norfa“-Einkaufszentrum einmal eine Kopie des Eiffelturms stünde, viel kleiner als das Original, doch eine entsprechend den Möglichkeiten getreue Nachbildung, mit der ich mich auf einem Selfie verewigen und dieses unter dem Titel „Realismo mágico“ posten würde, um alle davon zu überzeugen, dass ich in Paris im Urlaub war. Aber damals wie heute glaube ich fest: Wenn Manuskripte nicht brennen, dann tun es auch Städte nicht.

Ich sah, wie schnell das Feuer alles verzehrte – die grüne Haut des hölzernen Elefanten samt Rippen und Eingeweiden – und dachte mir einen Wunsch nach dem anderen aus, als wäre der Elefant ein Kuchen mit Geburtstagskerzen darauf. Ich wollte immer weg von Mažeikiai, ich sagte mir immer, die Gebäude würden hier nicht mit Farbe, sondern mit Langeweile besprüht. Ich sagte mir, ich fühlte mich in dieser Stadt fremd und die Gehwegplatten bestünden hier aus Leere. Aber mit jeder Rückkehr in meine Stadt sehe ich sie gewachsen und werde mir bewusst, dass mehr von Mažeikiai in mir steckt, als man aufschreiben kann. Und mit jedem Jahr gibt es weniger, das mir Grund gibt zu schweigen. So sehr, dass ich beinahe glaube – wenn man nur will, ist Mažeikiai eine Verschmelzung von New York und Paris, in dessen Teich beim ROMAR-Stadion fünf „Ramybės“ von Čiurlionis eingetaucht sind.

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