Es ist nicht das Haff, dass die Netze schluckt
Kurische Nehrung
Foto: Rūta Žukė
Um 5:45 Uhr morgens sitze ich auf der Fähre von Klaipėda nach Smiltynė. Karolis Tamulis, ein junger Fischer aus Juodkrantė, holt mich dort ab. Vom Bernsteinbusen aus fahren wir in das Kurische Haff, um den Sonnenaufgang zu erleben.
Aber unser Ziel ist es nicht, die Sonne zu beobachten, sondern die Reusen aus dem Wasser zu ziehen und den Fang einzusammeln, der sich über Nacht in den Netzen verfangen hat. Die Fischerei ist Karolis‘ Leidenschaft, seine tägliche Arbeit und seine Einkommensquelle. Wie viele Fischer hat er den Beruf von seinen Eltern und Großeltern geerbt. Wie ich jedoch während der Vorbereitung dieser Fotostory erfuhr, verschwindet das Gewerbe langsam und die Zahl der Fischer geht zurück. Viele Fischer des Kurischen Haffs glauben, dass es in Zukunft keine kommerzielle Fischerei mehr im Haff geben wird – und auch keine Berufsfischer mehr.
Um die Fischbestände zu erhalten, hat der Seimas (das litauische Parlament) im Jahr 2023 die kommerzielle Fischerei in litauischen Seen und Flüssen mit wenigen Ausnahmen verboten. Ab 2026 sind nur noch die Störfischerei und die Fischereien, die als nationales Erbe gelten, erlaubt.
Im Kurischen Haff wird die kommerzielle Fischerei auch nach 2026 erlaubt sein, aber die Unternehmen werden ermutigt, aus dem Gewerbe auszusteigen: Unternehmen, die die Fischerei in allen Binnengewässern aufgeben, erhalten in den Jahren 2024-2025 eine Entschädigung in Höhe von 100 % und im Jahr 2026 in Höhe von 80 %. Die Entschädigung wird auf der Grundlage der gemeldeten Fangmengen, des Anlagevermögens und der Kosten für die Entlassung von Arbeitnehmern im Zeitraum 2018-2022 berechnet.
Die Fischer befürchten, dass dies der Plan der Regierung ist - nachdem die Entschädigung gezahlt wurde, werden die großen Unternehmen abwandern und damit die Fischereiintensität verringern. „Uns, den Fischern und Gemeinden, wurde in den Ausschüssen angedeutet, dass sie die kleine handwerkliche Fischerei beibehalten wollen, um den Bedarf der Küstengemeinden zu decken. Aber wie eine solche Fischerei aussehen könnte, können wir nicht beantworten“, sagt Karolis Tamulis.
Nach Angaben des Verbands der Fischereiunternehmen „Lampetra“ gibt es derzeit 49 Unternehmen, die im Kurischen Haff fischen. Vor 2008, als die Fischereibeschränkungen begannen, waren es etwa 70 Unternehmen.
Laut Karolis ist es heute nicht mehr möglich, allein von der Fischerei zu leben. Er muss sich zusätzlich nach anderen Einkommensquellen umsehen. Karolis selbst engagiert sich in der Fischereiaufklärung - er organisiert Informationsveranstaltungen, bei denen er über die Fischerei im Kurischen Haff spricht. „Ich zeige Geräte, Netze und Reusen. Ich zeige, wie ich Löcher für Reusen nähe und webe, und erkläre das Prinzip der Reusen“, erklärt Karolis.
Neben der Fischerei entstanden auf der Kurischen Nehrung um das Jahr 2000 durch den zunehmenden deutschen Tourismus verschiedene andere Unternehmen. „Früher haben die Einheimischen zu Hause Brot gebacken, Brassen geräuchert, eine Thermoskanne aufgestellt und Kaffee auf dem Hexenberg verkauft. Dann kamen andere Unternehmen hinzu - Unterkünfte, Bootsfahrten in der Lagune, Cafés. Und andere blieben einfach beim Angeln. Sie sind diejenigen, die es jetzt am schwersten haben“, sagt Karolis.
Karolis beschloss, mit der Fischerei zu beginnen, als einige Fischer bereits aus dem Geschäft ausstiegen. Karolis verliebte sich in die Fischerei, als er seinen Großvater in Juodkrantė fischen sah. Im Sommer 2016 kam Karolis zu seinen Großeltern nach Juodkrantė, um zu fischen, und blieb bis November. „Wir haben die Fangsaison mit den Reusen beendet, alles aufgeräumt, die Reusen getrocknet, eingelagert - wir freuen uns auf die Stintsaison. Dann ging ich zurück nach Vilnius, blieb ein paar Monate und kam im Februar zurück, um das Unternehmen zu leiten.“
Foto: Rūta Žukė
Foto: Rūta Žukė
Foto: Rūta Žukė
„Wenn man hier den Müll rausbringt, verbringt man manchmal eine Stunde mit seinen Nachbarn. Gott bewahre, wenn du nicht jemanden grüßt. Hier läuft man barfuß oder mit Crocs, man kennt die Kinder der anderen. Es gibt hier sehr wenig Privatsphäre, dafür aber ein großes Gefühl der Sicherheit“, sagt Karolis.
„Damals wollten nicht viele Leute hierher kommen. Alle wollten in die Städte gehen, wo sie in halblegalen Netzwerken wirtschaften können. Aber hier ist es anders: Man braucht eine Genehmigung, um hierher zu kommen, und sie lassen einen nachts nicht ans Meer, weil es Grenzland ist. Hier gibt es viele Leute, aus ganz Litauen. Deshalb gibt es auf der Kurischen Nehrung auch keinen Dialekt: Die kurische Sprache hat nicht überlebt, und das Deutsche ist auch verschwunden“, erklärt Karolis.
An diesem sonnigen Morgen kehrten wir, nachdem wir unseren Fang aus dem Haff geholt und unsere Reusen ausgebracht hatten, an Land zurück. Karolis wog die Fische und reichte mir eine große Brasse. Er verriet mir auch ein altes Rezept: Die Brasse wird über dem Rücken ausgenommen und im Ofen mit geriebenen Kartoffeln gebraten.
Foto: Rūta Žukė
An Sommermorgen stehen die Urlauber ab halb elf vor dem schönen Bauernhaus des Fischers Schlange, um frischen Fisch zu kaufen, der noch warm ist und frisch aus dem Räucherofen kommt. Aber dieser Sommer, so Zolenas, war ein schlechter. „Es waren nicht viele Leute da“, sagt er.
Foto: Rūta Žukė
Foto: Rūta Žukė
Alvidas, Laimis und Robertas Kazlauskas - Vater, Sohn und Enkel fischen gemeinsam. Die Familie macht, wie Robert sagt, „alles Mögliche“. Im Sommer haben sie alle Hände voll zu tun: Angeln, Vermieten und das Restaurantgeschäft, so dass keine Zeit bleibt, zu viel zu reden.
Großvater Alvidas fischt seit 1965 in Neringa, wohin er und seine Familie 1951 aus Kavarskas kamen. Er freut sich, dass sein Enkel, der in Italien studiert und gelebt hat, bevor er sich entschloss, zurückzukehren und die Fischereitradition fortzusetzen, ebenfalls fischt.
„Früher haben wir tagsüber mit großen Booten auf dem Meer gefischt, aber in der Lagune haben wir nur auf der russischen Seite gefischt, weil es eine große Lagune ist - nicht wie hier! Auf unserer Seite haben wir nur Reusen aufgestellt. Wir sind morgens losgefahren und erst nach Einbruch der Dunkelheit zurückgekommen. Wir hatten einen Herd an Bord und haben Fischsuppe gekocht“, erinnert sich Alvidas.
Angesichts dieser Ergebnisse und der Zahl der von Berufsfischern gefangenen Fische haben Wissenschaftler des Naturforschungszentrums eine Reduzierung der Fischereitätigkeit im Kurischen Haff empfohlen. Die wichtigsten Fanggeräte, für die die Grenzwerte entsprechend den Empfehlungen der Wissenschaftler gesenkt wurden, sind bestimmte Netzgrößen und Marlinreusen.
In den Empfehlungen der Studie wird darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen der Beschränkungen auf die Fischerei und die Fischpopulationen weiter beobachtet werden müssen. „Wenn möglich, sollte ein Abkommen mit Russland angestrebt werden, um in Zukunft ähnliche Maßnahmen zur Beschränkung des Fischereiaufwands in der gesamten Lagune anzuwenden“, heißt es abschließend.
Russland besitzt fast drei Viertel des Kurischen Haffs. Im Jahr 2000 wurde ein Abkommen zwischen Litauen und Russland über die Zusammenarbeit in der Fischerei unterzeichnet. „Im Rahmen dieses Abkommens fanden jährliche Treffen mit Fischereispezialisten und Wissenschaftlern aus der Russischen Föderation statt, bei denen Informationen über die Fischerei ausgetauscht und Fangbeschränkungen für einzelne Fischarten im russischen Teil des Kurischen Haffs und im litauischen Teil festgelegt wurden“, erklärt Giedrius Ladukas, Leiter der Gruppe Naturschutzpolitik des Umweltministeriums.
Als Russland jedoch am 24. Februar 2022 die Ukraine angriff, wurde die Zusammenarbeit zwischen Litauen und der Russischen Föderation ausgesetzt. Während Litauen also seinen Teil zum Schutz der Fische im Kurischen Haff beiträgt - und damit eine lange Tradition der Fischerei gefährdet -, ergreift die russische Seite keine ähnlichen Maßnahmen, so dass der Fischbestand des Kurischen Haffs, der nicht an nationale Grenzen gebunden ist, gefährdet ist.
Übersetzung von Roland Begenat
© Goethe-Institut Litauen, 2023