In Deutschland landen jährlich fast 13 Millionen Tonnen Lebensmittel im Abfall. Das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft möchte bis 2030 die Lebensmittelverschwendung in Deutschland halbieren. Private Initiativen haben das Thema schon früher für sich entdeckt.
Von Petra Schönhöfer
Allein in jedem deutschen Privathaushalt werfen Menschen durchschnittlich rund 75 Kilogramm Essen im Jahr weg. Das zeigen Berechnungen der Universität Stuttgart und des Johann Heinrich von Thünen-Institut aus dem Jahr 2019, die vom Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) in Auftrag gegeben wurden. Wenn Äpfel, Brot oder Käse im Abfall landen, werden auch die verwendeten Ressourcen verschwendet: Ackerboden, Wasser und Dünger, Energie für Ernte, Verarbeitung und Transport. Die Politik will sich deshalb des Themas annehmen: Mit der Informationskampagne Zu gut für die Tonne! möchte das BMEL die Lebensmittelverschwendung in Deutschland pro Kopf bis 2030 halbieren. Doch das Thema ist nicht neu, und viele Initiativen engagieren sich schon lange gegen Verschwendung.
Tafel deck Dich!
Eine der größten sozialen Bewegungen in Deutschland geht mit erprobtem Beispiel voran: Bereits seit 1993 sammelt die spendenfinanzierte, gemeinnützige Organisation Die Tafeln deutschlandweit qualitativ einwandfreie Lebensmittel ein – zumeist nicht verkaufte Lebensmittel aus dem Einzelhandel – und verteilt sie kostenlos oder zu einem symbolischen Betrag an wirtschaftlich benachteiligte Mitmenschen. Derzeit retten die Tafeln in Deutschland jährlich rund 264.000 Tonnen Lebensmittel aus 30.000 Supermärkten. Mithilfe einer App soll die Weitergabe von Lebensmitteln zukünftig noch effektiver werden.
In ganz Deutschland verteilen die Tafeln überschüssige Lebensmittel an benachteiligte Mitmenschen.
| Foto (Detail): © picture alliance/Jörg Carstensen/dpa
Zero Waste: Kochen von Blatt bis Wurzel
Zahlreiche kleinere Initiativen wollen die Wertschätzung für das tägliche Essen in Kochkursen stärken, stehen doch ausgerechnet Obst und Gemüse auf Platz eins der Lebensmittel-Wegwerfliste deutscher Haushalte. In Berlin etwa richtet der 2014 gegründete Verein Restlos Glücklich Workshops zu den Themen Lebensmittelverschwendung und klimafreundliche Ernährung aus. Kreative Resteverwertung wird in Zero-Waste-Kochseminaren vermittelt, in der Online-Kitchen köchelt – live im Internet – ein deliziöses Süppchen aus Blumenkohlblättern. Damit folgen die Resteretter der Idee von Esther Kern, einer Initiatorin der Leaf-to-root-Bewegung in Deutschland. Gemüse verwendet sie in ihrer Küche vom Blatt bis zur Wurzel: Gewürz-Pürree aus Kürbisblättern, Radieschenblattsalat mit Kürbiskernen, Misobrühe aus Schalen und Abschnitten. Da bleibt wenig für den Kompost übrig.
Die Berliner Resteretter vom Verein Restlos Glücklich bieten Workshops zu klimafreundlicher Ernährung und Zero-Waste-Kochseminare an.
| Foto (Detail): © Restlos Glücklich / Joris Felix Patzschke
Verschwenderische Haushalte
Während der Handel in Deutschland nur für vier Prozent der weggeworfenen Lebensmittel verantwortlich ist, stammt mehr als die Hälfte der Abfälle aus privaten Haushalten. Hier fallen jährlich rund sieben Millionen Tonnen an. Circa 40 Prozent davon wären der Stuttgarter Studie zufolge vermeidbar, wenn Verbraucher weniger einkaufen, richtig lagern und Reste nicht bedenkenlos wegwerfen würden. Hier hilft die App der Kampagne
Zu gut für die Tonne! bei Einkauf, Vorratsplanung, Lagerung – und mit mehr als 400 Rezepten beim Verwerten von Resten.
Keine Angst vor dem Haltbarkeitsdatum
Ein weiterer Grund für Lebensmittelverschwendung ist das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD). Entgegen einer weit verbreiteten Annahme ist das MHD kein Wegwerfdatum, sondern lediglich eine Mindestangabe – Lebensmittel können auch noch Tage bis Monate danach genießbar sein. Jeder fünfte Deutsche entsorgt laut Forsa-Studie aber sein Essen, weil das MHD abgelaufen ist. Um dem entgegen zu wirken, arbeitet das Stuttgarter Unternehmen Tsenso an einer neuen App: Fresh Index soll das Echtzeit-Haltbarkeitsdatum ermitteln. Durch Scannen des Barcodes erhalten Endkunden Informationen zur aktuellen Frische eines Lebensmittels. Ebenso wie Restlos Glücklich aus Berlin wurde Tsenso für den
Zu gut für die Tonne-Bundespreis 2020 nominiert.
Foodsharing per Fair-Teiler
Für Resteverwerter und Lebensmittelretter gibt es mittlerweile einen ganzen Strauß an Apps und Onlineinitiativen. Man bestellt etwa bei Sirplus, einem Online-Supermarkt für aussortierte Lebensmittel, oder kauft krummes Gemüse vom Biobauern über Etepetete. Viele nutzen zudem Formate wie Foodsharing. Die Initiative entstand 2012 in Berlin und ist zu einer internationalen Bewegung mit über 200.000 Teilnehmern in Deutschland, Österreich, der Schweiz und weiteren europäischen Ländern herangewachsen. Foodsharer retten ungewollte und überproduzierte Lebensmittel aus privaten Haushalten oder Betrieben und bieten sie auf der Website an. Oder sie bestücken Fair-Teiler damit: Regale oder Kühlschränke an gut zugänglichen Orten, etwa auf einem Uni-Campus oder in Vereinsräumen, wo die übrigen Lebensmittel abgelegt und gratis mitgenommen werden dürfen. Die Fair-Teiler werden auf der Plattform eingetragen und für alle Nutzer auf einer Karte angezeigt. Auch mithilfe der App Uxa können Lebensmittelreste an hungrige Esser verschenkt werden.
In ihren „Rettermärkten“, wie hier in Berlin-Friedrichshain, und im Onlineshop verkauft das Startup Sirplus überschüssige Lebensmittel von Produzenten und Großhändlern.
| Foto (Detail): © Sirplus / Martin Egbert
Wundertüten zu Ladenschluss
Über die in Dänemark entwickelte, kostenlose App
Too Good To Go werden zum reduzierten Preis wahre „Wundertüten“ angeboten: Partnerbetriebe stellen ihre überschüssigen Speisen kurz vor Ladenschluss ein, der Kunde kann sie anschließend reservieren, via Paypal oder Kreditkarte bezahlen und im Restaurant abholen. In einer braunen Papiertüte werden ihm die Reste aus der Auslage einer Bäckerei oder dem Buffet eines Restaurants serviert. Echte Leckerbissen, die ohne Abnehmer im Müll landen würden.