Gegenwarten reformieren
Säkularisierung und Globalisierung
Ausgehend vom Begriff der Säkularisierung beschreibt Giacomo Marramao die gegenwärtige Ersatzfunktion von Religion. In einer polarisierten Weltmodernität setzt der Philosoph auf den Universalismus der Unterschiede und eine Politik der Übersetzung zwischen verschiedenen Ethiken und Lebensformen.
Wir stehen hier vor einer entscheidenden Etappe im Entwicklungsprozess von der mittelalterlichen zur modernen Mentalität. Seit Luther wird die Person zum Gegenstand einer ganz besonderen Aufmerksamkeit. Priester und Pastor müssen auf neue, andere Weise „disziplinierend“ eingreifen, und man beginnt sich zu fragen, auf welche inneren Bereiche sich die von Michel Foucault so genannte christliche „Pastoralmacht“ richten muss. Die augustinische Lehre erlangt in diesem historischen Moment dank Luther wieder eine zentrale Stellung im europäischen Christentum.
Ohne die „Gutenberg-Galaxis“ und die Revolution, die sie bei den Urhebern wie den Adressaten der Kontrollinstrumente bewirkte, hätte das alles nie geschehen können. Die Herausbildung des modernen Intellektuellen im 16. Jahrhundert besiegelte den Niedergang der großen Prediger – Trumpfkarten des klösterlichen Einflusses – und führte zur Überlegenheit des Buches, dem entscheidenden Medium des modernen Bewusstseins. Ein Wissen, das nicht mehr aufgerufen war, den trockenen, abstrakten Mustern der Scholastik zu entsprechen, sondern die Wege des Heils selbst erkundete, benötigte kaum mehr die auctoritas des Bischofs von Rom und seiner bevollmächtigten Prediger, sondern in weit größerem Maße das Buch als Hilfsmittel.
Prüfung durch das geschriebene Wort
Auf katholischer Seite stellt die Lehre und die Bildung der Jesuiten die wirkungsvollste Antwort der katholischen Kirche auf die lutherische Herausforderung dar. Ihre großartige Anleitung zum Lernen, die Ratio studiorum, bestätigt das Prinzip der zweifachen Kontrolle über beide Bereiche, das Äußere und das Innere: eine kühne Widerlegung der – als künstlich angesehenen – Dichotomie, welche die Protestanten zwischen Individuum und Gemeinde, Glauben und Ritus errichtet hatten.
Unter diesem Gesichtspunkt bildet der barocke Synkretismus die effektvolle Darstellung des jesuitischen Programms einer Wiederversöhnung der protestantischen Dualismen im Schoß der Volksfrömmigkeit. Während Luther „Provinzen und Reiche umstürzte“, wie einer der bedeutendsten Historiker der Gesellschaft Jesu, der Jesuit Daniello Bartoli, schreibt, „wurden jene gebraucht, die durch Predigt und Unterricht, schreibend und disputierend Schulen gegen Schulen wenden, Kanzeln gegen Kanzeln, und indem sie dergestalt Stimme gegen Stimme, Wissen gegen Wissen und Bücher gegen Bücher stellen, die Katheder der Ketzerei umstürzen und ihre Lehrer niederschlagen.“ Gemäß dem Plan der Jesuiten musste die Autorität der Kirche von der bloßen Wiederholung ritualisierter Formen befreit werden, damit sie der Macht des Wissens anvertraut werden konnte.
SäKulARISIERUNG UND vERWELTLICHUNG
Das Lemma „Säkularisierung“ erhält jetzt die Bedeutung einer Aneignung kirchlicher Güter und Besitztümer durch einen laizistischen, konfessionslosen Staat, der nach dem Prinzip territorialer Souveränität strukturiert ist. So führte die von der Reformation erzeugte Spaltung der Christenheit zu einer neuen politischen Ordnung des Kontinents: das paneuropäische System souveräner Staaten, das an die Stelle des einheitlichen Gefüges des Heiligen Römischen Reiches trat.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts sollte sich mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie und dem Begriff der „Verweltlichung“ jedoch eine noch weitere Ausdehnung der Bedeutung von Säkularisierung durchsetzen, bis Max Weber die Säkularisierung dann zum Indikator eines komplexen Prozesses der Modernisierung und Rationalisierung der Gesellschaft machte.
POLARISIERTE wELTMODERNITÄT
Radikal verändert hat sich die Beziehung zwischen den einst entgegengesetzten Polen der katholischen und der protestantischen Christenheit. Denn beide sehen sich heute mit demselben Szenarium konfrontiert: Die Prozesse der Säkularisierung schließen die Religionen als konstitutive Momente jener Ethiken, die Grundsätze für das menschliche Handeln in der Wirtschaft wie in der Politik liefern, nicht mehr aus, sondern problematisieren sie neu.
Das große vergleichende Bild, das Max Weber in seiner Religionssoziologie entwarf, gewinnt damit wieder Aktualität. Ein noch immer unverzichtbarer Vergleich. Dennoch muss auch er korrigiert und aktualisiert werden, angesichts einer Welt-Modernität, die zwar sehr viel komplexer ist als die Nationen-Modernität, aber – im Gegensatz zur landläufigen Meinung – alles andere als beweglich ist. Eben weil sie von ethisch-religiösen Gruppierungen polarisiert wird, die durch das Verschwinden der Ideologien wieder aus den Tiefen der Geschichte aufgetaucht sind.
RELIGION ALS sURROGAT / MAX wEBER ÜBERDENKEN
Als solche fördern sie Prozesse symbolischer Identifikation, die hochgradig differenziert und in ihren Zielen teilweise drastisch entgegengesetzt sind. Es handelt sich nicht um das Phänomen des clash of civilizations, von dem Samuel Huntington sprach, sondern um die Rolle, die die Religion heute als Surrogat von Ideologie und Bindemittel unterschiedlicher Identitäten spielt. Man denke nur an den Islam, vor allem aber an die Funktion, die der (freilich neu definierte und modernisierte) Konfuzianismus für das Wirtschaftswachstums Chinas hatte – ein Phänomen, das heute mit Blick auf den Religionsvergleich von Weber gründlich überdacht werden muss. Denn Weber zufolge war die konfuzianische Ethik mit ihrem anti-individualistischen und paternalistisch-gemeinschaftlichen Geist ungeeignet für die Entwicklung einer dynamischen, produktiven Wirtschaft. So paradox es denjenigen erscheinen mag, die noch immer der These von der prästabilierten Harmonie zwischen protestantischer Ethik und Genese des Kapitalismus anhängen, der chinesische Kommunitarismus scheint den Imperativen der Produktivität und des globalen Wettstreits heute sehr viel besser zu entsprechen als das individualistische Konkurrenzprinzip des Westens.
In dieser Phase eines „Interregnums“ zwischen dem Nicht-Mehr der alten internationalen Ordnung souveräner Staaten und dem Noch-Nicht einer neuen, supranationalen Ordnung, die sich noch nicht abzeichnen will, zeigt sich das globale Szenarium als Aufgliederung der Welt in große Gebiete. Es sind nicht nur und nicht zwingend geopolitische Räume (obwohl manche Philosophen mit ihrer Behauptung, uns stünden die Dreißiger Jahre bevor, eine Rückkehr der Großraumpolitik beschwören), nein, eher „geoökonomische“ und „geokulturelle“ Regionen, die nicht mehr mit Nationen-Staaten, sondern mit Kontinent-Staaten zusammenfallen: von den USA bis China, von Russland bis Indien und Brasilien.
Und Europa?
Eine solche Alternative zu verfolgen, würde bedeuten, einer „großen Politik“ den Weg zu bahnen, die das Problem der Migration meistern kann, indem sie eine mögliche Form der Staatsbürgerschaft jenseits des Dualismus zwischen dem republikanischen Assimilationsmodell und dem multikulturellen „Mosaikmodell“, also zwischen dem neutralen Universalismus des Modells „République“ nach französischem Vorbild und dem Antiuniversalismus des „Londonistan-Modells“ entwirft. Nur eine solche Politik hätte die Kraft, das universelle Potential der Religionen zu nutzen, indem sie das destruktive, exkludierende Moment ihrer Identitären Obsessionen durch die Aussicht auf einen Universalismus der Unterschiede und eine Politik der Übersetzung zwischen verschiedenen Ethiken und Lebensformen entschärft (vgl. dazu G. Marramao, The Passage West: Philosophy After the Age of the Nation State, Verso, London/New York 2012).
Doch abgesehen von ein paar bedeutsamen Ausnahmen in Deutschland und Italien, scheint die politische Klasse Europas derzeit Lichtjahre von einer solchen Aufgabe entfernt.
Giacomo Marramao, Professor für Philosophie an der Universität Rom III, studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Universität Florenz und der Frankfurter Goethe-Universität. Er war zudem Humboldt-Stipendiat in Frankfurt (in den 70er Jahren) und in Berlin (in den 80er Jahren) sowie Gastprofessor an verschiedenen europäischen, amerikanischen und asiatischen Universitäten. Vom französischen Präsidenten erhielt er im Jahre 2005 die Auszeichnung „Palmes Académiques“ und von der Universität Bukarest den Titel „professor honoris causa“. 2013 wurde er von der Universität Córdoba mit dem Titel „doctor honoris causa“ ausgezeichnet.
Zu seinen in die deutsche Sprache übersetzten Bücher zählen:
„Macht und Säkularisierung“ (Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main), „Minima temporalia: Zeit, Raum, Erfahrung“ (Passagen Verlag, Wien), „Die Säkularisierung der westlichen Welt“ (Insel Verlag, Frankfurt am Main-Leipzig).
Die jüngst erschienenen Bücher in englischer Sprache lauten:
„Kairós: Towards an Ontology of Due Time“ (Davies), „The Passage West: Philosophy After the Age of the Nation State“ (Verso), „Against Power: For an Overhaul of Critical Theory“ (John Cabot University Press).
The Bewitched World of Capital (Brill - forthcoming).