Gedenkmuseen in Lettland
Orte des Erinnerns
Du kannst dir den Schmerz eines Verlustes nicht vorstellen, wenn du nicht weißt, was du besessen hast. Du kannst über die Vernichtung der jüdischen Mitbürger nicht trauern, wenn du nicht weißt, wer einmal dein Nachbar und Schulfreund war. Die wenigen Museen und Gedenkstätten in Lettland, die an den Holocaust erinnern, sind als Diskussion mit den Vorstellungen und Vorurteilen der Gesellschaft über die Juden und die Vernichtung dieses Volkes während des Zweiten Weltkrieges entstanden.
Es gibt immer weniger Zeitzeugen des Holocaust in Lettland. Diejenigen, die noch leben, lassen uns die Erfahrung nicht vergessen – nach vielen Jahren des Schweigens geben sie Studenten Interviews, schreiben lange aufgeschobene Memoiren, versuchen das Zeugnis dieser tragischen Zeit zu bewahren, weil ihnen bewusst ist, dass sie die letzten Verbliebenen sind. Museen und Gedenkstätten sind Vermittler, die eine sinnvolle Verzahnung des Besuchers, seines Wissens oder seiner Vorstellung mit der Erfahrung schaffen müssen, die es uns nicht erlaubt, diejenigen zu vergessen, die der Besucher bislang oft als „die anderen“ im Gegensatz zu „den eigenen“ aufgefasst hat. Die Rolle der Museen ist nicht nur die Bildung und Verwahrung der Erinnerung an die systematische Vernichtung der Juden, sondern auch an ihr Leben vor dem Krieg, ihre Traditionen, Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, ihren Einfluss und Alltag. Ohne diese Botschaft kann man nicht einmal einen Teil des Umfeldes verstehen, das die Nachkriegskulturen Lettlands und Europas verloren, als sie einen großen Teil ihrer Kulturträger verloren.
Authentische Gedenkstätten – Museen, Synagogen und Denkmale
Damit der Gedenktag an den Holocaust am 4. Juli nicht nur eine feierliche Trauerveranstaltung von Staatsmännern und jüdischer Gemeinschaft ist, an der die örtlichen Einwohner kaum teilnehmen, suchen die Museen und Gedenkstätten in Lettland verschiedene Zugänge für die Besucher, um dieses Gedächtnis zu aktualisieren. Die Einwohner Lettlands verbinden die Zeit des Holocaust eher mit Oświęcim (Auschwitz), mit der Todesindustrie der Konzentrationslager, als mit Gruben in Wäldern, in denen unbewaffnete, erniedrigte lettische Juden erschossen wurden, ihre Nachbarn, ganz in der Nähe der Dörfer und Städte. Die Gedenkstätten für die Opfer – das Mahnmal von Rumbula, der Wald von Biķernieki und der Alte jüdische Friedhof in Riga, ebenso die Dünen von Šķēde, der Wald von Kaziņi in Ventspils und andere Orte des Mordes an den Juden – versammeln an den Jahrestagen diejenigen, die mit den jüdischen Gemeinschaften verbunden sind. Von Bedeutung ist derzeit die Restauration und Einrichtung von Museen in der Grünen Synagoge von Rēzekne und der Synagoge von Ludza, weil diese die örtlichen Einwohner einbeziehen und die Kluft zwischen den Besuchern verschiedener ethnischer Herkunft verringern.Nach dem Holocaust verschwand in Lettland eine ganze Kulturschicht – das Leben der kleinen jüdischen Schtetl in Kleinstädten, die jüdischen Viertel in größeren Städten. Bei der Ausstellung in der Grünen Synagoge von Rēzekne liegt ein Schwerpunkt auf der Erfahrung des Zusammenlebens verschiedener Gemeinschaften. An den Wänden der Synagoge sind Projektionen zu sehen, von denen die Besucher etwas über Traditionen des Judaismus sowie die jüdische Alltagsgemeinschaft erfahren können: Friseure, Musikanten, Bäcker – diejenigen, die nach dem Krieg nicht mehr anzutreffen waren. Ein Teil der Besucher, die sich die erneuerte Synagoge ansehen wollen, ist zum ersten Mal in einem geistlichen Gebäude der Juden.
Das älteste Museum und Archiv „Juden in Lettland“, das sich mit dem Thema des Holocaust befasst, führt die Besucher in die Geschichte einer über mehrere Jahrhunderte lebensfähigen und komplizierten Koexistenz, beleuchtet die jüdische Anwesenheit in der lettischen Folklore und Literatur. Schtetl, die jüdischen Siedlungen, waren nicht nur Orte der Armut und Hoffnungslosigkeit – dort lebte ein vitaler und kreativer Bevölkerungsteil. Was es damals hieß, ein Jude zu sein, was ein jüdischer Gläubiger ist, welches die religiösen Unterschiede waren, welche Einstellung die örtlichen Letten gegenüber ihren jüdischen Nachbarn hatten – darüber hat der Museumsbesucher heutzutage sehr oft eine unklare Vorstellung, darum müssen die Museumsführer in allen den Holocaust thematisierenden Museen bereit sein, auf solche grundsätzlichen Fragen zu antworten.
Unweit vom ehemaligen Rigaer Ghetto in der „Moskauer Vorstadt“ befindet sich das Ghetto- und Holocaustmuseum Rigas. Das heutige Viertel hat seine geschichtliche Einzigartigkeit behalten: Das Gebiet des ehemaligen Ghettos von Riga ist fast das einzige in Europa, das architektonisch nicht verändert wurde und so als Geschichts- und Architekturdenkmal für die Geschehnisse des Holocaust im Zweiten Weltkrieg dient. Die Nachkommen der im Ghetto Internierten sowie Touristen gehen durch die Vorstadt und suchen die letzten Wohnorte der ihnen Nahestehenden. Das Museum befindet sich nicht auf dem Gebiet des Ghettos, doch die Erfahrung des Museumsbesuchs lässt selbst einen oberflächlichen Betrachter bei einem kurzen Spaziergang im Viertel Spīķeri die Tragödie der Juden in Riga erkennen. Der Standort des Museums ist besonders gut gewählt, da der Besucher seinen Weg in das ehemalige Ghetto fortsetzen kann, außerdem ermöglicht es die hervorragende Homepage des Rigaer Ghetto-Museums, die Moskauer Vorstadt in Begleitung von Augenzeugenberichten zu durchschreiten.
Judenretter – eine Minderheit, die der Mehrheit Hoffnung gibt
Die Retter waren sowohl Bauern und Kindermädchen als auch Intellektuelle und Geistliche, Ärzte und Geschäftsleute. Sie nahmen Menschen auf, die sich von ihnen in ihrem Glauben oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit unterschieden, eine andere Sprache sprachen. Die Retter von Juden befinden sich derzeit im Kern des Holocaust-Erinnerungsraumes; das ist verständlich, denn es ist eine schwere Aufgabe, sich dem erbarmungslosen Thema des Holocaust anzunähern, das mit den brutalen Zeugnissen dieser Zeit verbunden ist. Sie geben der Gesellschaft Hoffnung, sie sind wie Apostel oder Begleiter, die mit ihrem Beispiel zeigen: Ein Mensch oder eine Familie kann entscheidend sein; ihre Entscheidung, das Leben und die Selbstachtung eines verfolgten Menschen zu retten, ist eine Heldentat. Die Retter sind ein Vorbild dafür, dass man auch anders hätte handeln können.Die Žanis-Lipke-Gedenkstätte ist einer solchen lettischen Familie gewidmet, die während des Krieges im Bunker unter ihrem Haus und in anderen Verstecken etwa 50 Menschen das Leben rettete. Sie ist auf einer Halbinsel im Garten der Lipkes errichtet, das Museumsgebäude ist ein asketischer, schwarzer Holzbau, in dem man die Geschichte der Retter und Geretteten nachleben kann. Im Museum gibt es sehr wenige Gegenstände, denn das Halbdunkel, die Geräusche und der Geruch lassen den Besucher schweigen und in die Erzählung von einem einfachen Hafenarbeiter und Schmuggler eintauchen und etwas über die geretteten Juden aus Riga und Berlin, das Ghetto und verschiedene Fluchtwege erfahren. Dem Besucher fällt die Berührung mit solch schmerzhaften Themen leichter, wenn der Retter sich als Schmuggler am Hafen von Riga erweist, dessen Vorstellungskraft und Mut es in Momenten unglaublicher Not schafften, verfolgte Menschen in Sicherheit zu bringen. Retter waren diejenigen, die von passiven Beobachtern zu aktiven Teilnehmern wurden, indem sie in einer unbekannten, nicht dagewesenen Situation Menschlichkeit zeigten und ihr Leben riskierten, weil nichts zu tun unmöglich war. Die Motivation einzugreifen, dem Völkermord an den Nachbarn nicht untätig zuzusehen, bedeutet, dass etwas sie berührt, bewegt hatte. Das Retterphänomen wird in der Lipke-Gedenkstätte erweitert, auch als Aufforderung genutzt, eine tolerante Gesellschaft zu bilden, die gegen Vorurteile und die Brandmarkung gesellschaftlicher Minderheiten kämpft. Für ein modernes Museum ist es wichtig, auch ein Ort zu sein, der die Diskussion in der Gesellschaft fördert; aber ein Museum, das sich mit dem Holocaust beschäftigt, muss ganz besonders versuchen, Hass und Intoleranz im Kulturraum zu vermindern.