Zeitzeugenportale
Lebendige Erinnerungen gegen das Vergessen
Zeitzeugenportale spielen für die deutsche Erinnerungskultur eine zentrale Rolle: Die persönlichen Schilderungen von Vertriebenen, Unterdrückten und ihrer Freiheit beraubten Menschen sollen öffentlich zugänglich sein, damit die nächsten Generationen ihre Lehren daraus ziehen können.
Sigrid Otto lebte gerne in der DDR. Die 1925 geborene Lehrerin stammt aus Mittelsachsen und arbeitete von 1949 bis 1952 als stellvertretende Schulleiterin an einer Grundschule in Lunzenau. Trotz der „großen Unterschiede zwischen Ost und West“ zog es Sigrid Otto nie in den Westen. „Mein Leben und mein Beruf füllten mich zufrieden aus.“ Gerne wäre sie ihrem Beruf noch länger nachgegangen, doch als ein Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zum neuen Schulleiter berufen wurde, gab es plötzlich militärische Reformen, wie die vom kommunistischen Jugendverband FDJ initiierten „Schießzirkel“, die zur sogenannten vormilitärischen Ausbildung gehörten. Als die Kollegen im Schuljahr 1951/52 unterschreiben sollten, dass sie auch bereit seien „mit der Waffe in der Hand die Errungenschaften der DDR gegen Westdeutschland zu verteidigen“, weigerte sich Sigrid Otto, genau wie einige Kollegen. Bald wurde ihr mitgeteilt, dass ihr Vertrag an der Schule nach Ende des Schuljahres auslaufe.
LeMo – Lebendiges Museum online
„Sofort begann ich meine Flucht nach Westdeutschland vorzubereiten“, schreibt Sigrid Otto in einem ihrer fünf Berichte, die sie dem Zeitzeugenportal des Lebendigen Museum Online (LeMo) zur Verfügung gestellt hat. Das Deutsche Historische Museum und die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben das digitale Portal aufgesetzt, um deutsche Geschichte aus dem 19. und 20. Jahrhundert zu dokumentieren und anschaulich zugänglich zu machen; die behandelten Epochen reichen vom Kaiserreich über die zwei Weltkriege und das geteilte Deutschland bis hin zum Zeitalter der Globalisierung. Zeitzeugen dürfen sich beim Museum melden, um persönlich zu berichten oder Schriftstücke wie Briefe oder Tagebucheinträge einzureichen. Die Texte werden für das Portal redaktionell aufbereitet und zusammen mit weiteren Quellen wie Bildern und einordnenden Infokästen veröffentlicht.
Ruth Rosenberger ist Abteilungsleiterin für Digitale Dienste bei der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. „Wir engagieren uns mit mehreren Projekten zu unterschiedlichen Epochen in der Zeitzeugenarbeit“, erklärt sie. Ihre Funktion sei die einer „Service- und Koordinierungsstelle zur Rettung, Sammlung und Erschließung aller Zeitzeugenbestände vom Bund geförderter Institutionen.“ Zentrale Dokumentationsstelle ist die Seite www.zeitzeugen-portal.de, eine Video-Sammlung von Zeitzeugeninterviews, die seit Juli 2017 online ist. Sie soll die Bestände mehrerer staatlich geförderter Institutionen bündeln und archivieren. Rund 1.000 Interviews zur deutschen Geschichte sind hier bereits in etwa 8.000 einzelnen Clips aufbereitet. Darüber hinaus bietet das Portal Material aus dem Archivbestand des ZDF (Zweites Deutsches Fernsehen), darunter auch Interviews mit bedeutenden historischen Persönlichkeiten. In Zukunft sollen auf www.zeitzeugen-portal.de auch die Zeitzeugeninterviews der Stiftung erscheinen. „Seit Jahren führt die Stiftung Haus der Geschichte selbst Zeitzeugeninterviews durch“, sagt Ruth Rosenberger. „Wir nutzen sie in unseren Ausstellungen, da Zeitzeugen sich besonders gut zur Vermittlung von historischen Inhalten eignen.“ Dadurch sichere man „individuelle Erfahrungen als historische Quellen.“ Inzwischen umfasst der Bestand an Zeitzeugen mehr als 100 Interviews.
Hörfunk vertont Geschichte
Doch nicht nur die historischen Museen und Stiftungen engagieren sich für die Erinnerung an Zeitzeugen. Auch der Bayrische Rundfunk, die öffentlich-rechtliche Landesrundfunkanstalt, stemmt sich mit einer dokumentarischen Höredition gegen das Vergessen von Leid und Unterdrückung. Auf der Seite www.die-quellen-sprechen.de und im Radio auf dem Sender Bayern 2 wird Opfern des Nationalsozialismus eine Stimme verliehen. In Interview-Podcasts, die im Radio gesendet und online aufrufbar sind, berichten Juden in anrührenden Gesprächen von ihrem Leben und Überleben in der Zeit des Nationalsozialismus. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte sollen von 2013 bis 2019 insgesamt 16 thematische Teile angelegt werden.
Nicht auf digitale Dokumentation beschränken will sich die Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ): Sie engagiert sich für „Gesten der Versöhnung“, vor allem durch Begegnungen junger Menschen mit Überlebenden aus der Zeit des Nationalsozialismus. Das laut eigenen Angaben einzige bundesweite Förderprogramm für Zeitzeugenbegegnungen organisierte im Jahr 2016 insgesamt 59 Treffen mit 176 Zeitzeugen.
Sigrid Otto gelang 1952 die Flucht in den Westen. Mit kirchlicher Hilfe konnte sie über die Stationen Berlin-Zehlendorf und ein Flüchtlingslager in Hamburg ins Haus der ältesten Schwester ihres Vaters ziehen, das ihr einen Neubeginn in Freiheit ermöglichte. Nicht jeder DDR-Bürger hat damals so viel Glück gehabt.