Lena Gorelik
Die Farbe, in der die Heimat riecht

Birkenwald
Quelle: unsplash.com; Foto: John Price

Jede Heimat hat ihre eigene Farbe, ihren Geruch und Geschmack. Meine Heimat ist schwarz-weiß wie die Birkenrinde und grau wie Beton-Hochhäuser. In meiner Heimat waren graue Hochhäuser Geborgenheit und Gemeinschaft, und da, wo ich zu Hause bin, werden ihnen sozialer Abstieg und Trostlosigkeit angedichtet.

Von Lena Gorelik

Es gibt diese großen Begriffe: Liebe. Freiheit. Heimat. Sie hängen miteinander zusammen, und sie tun es nicht, sie haben einen großen Klang, aber sie erzählen so viele verschiedene Geschichten. Jede Erzählung von Liebe wird immer eine einzigartige sein, jedes Gefühl von Freiheit sich wie das erste der Welt anführen, jede Heimat hat ihren eigenen Geruch, Geschmack, dieses besondere Gefühl von Zuhause.

Heimat ist Schwarz-Weiß, und sie ist grau, aber sie ist nicht dieses Grau, das aus der Mischung von Schwarz und Weiß entsteht. Sie ist subjektiv, sie ist die meine, und sie braucht keine Definition, weil sie kein Begriff ist; sie ist ein Gefühl. Das Schwarz-Weiß ist die Birkenrinde, ein schlechtes Klischee, das die russische Seele zu erzählen versucht. Das Grau ist das der Beton-Hochhäuser, ein Symbolbild der inhumanen Städteplanung im Osten. Um die Bedeutung dieser Bilder weiß ich, aber ich fühle sie nicht. Ich fühle Heimat, ist ein großer Satz, den lasse ich also beinahe weg. Heimat ist Gefühl, das darf man sagen, das Gefühl ist subjektiv, es ist privat wie intim, individuell ist es auch. Es hat eine Farbe, einen Geruch, es hat Bilder, die keines Retro-Filters bedürfen, und einen Streitwert hat es aufgrund des Persönlichen nicht.

Ein Haus, ein Ort, ein Land

Heimat – auch wenn der Begriff in der deutschen Sprache den etymologischen Hintergrund hat – muss mit Heim nichts zu tun haben, mehr noch, Heimat und Heim können und dürfen geradezu Antonyme sein. In meiner Heimat waren graue Hochhäuser Geborgenheit, Gemeinschaft und Gefühl, und da, wo ich zu Hause bin, werden ihnen sozialer Abstieg, Kriminalität und Trostlosigkeit angedichtet. Dass Heimat und Heim buchstäblich wie im übertragenen Sinne einander fern wie fremd sein können, ist eine ebenso persönliche These wie jede Definition dieses Begriffs – auf eine konnte man sich im Übrigen bisher nicht einigen – seit jeher war und sein wird. Die Definition verfasse wie fühle ich gleichermaßen in der deutschen Sprache, einer Sprache, die nicht meine Muttersprache, aber mein Zuhause ist. Die Sprache gehört mir: Die Worte geben sich mir hin. Wenn sie es nicht tun, so zwinge ich sie. Sie verzweifeln an mir, wie ich auch an ihnen verzweifle. Man könnte sagen, wir stehen miteinander in einer Beziehung, in einer, in der ich fliegen und fallen kann, und man könnte fragen: Ist Sprache nicht deine Heimat? Und ich würde innehalten, bestimmt. Ich würde innehalten und den Kopf schütteln als Erkenntnis: Zuhause ist, wo ich mich frei und nackt und mit allem, was ich bin, bewege. Aber Zuhause muss nicht zwingend in der Heimat liegen, und Heimat kann manchmal ganz fremd sein. Wenn ich nach Russland fahre, so fahre ich mit den Fingern über schwarz-weiße Rinde der Birke, und ich spüre Geborgenheit, wenn ich gen Himmel schaue und graue Hochhäuser mir den Blick verdecken, aber ich beschreibe beides in einer mir inzwischen fremden Sprache, und die Art, wie ich denke, verstehen die Menschen dort nicht. Diese Ambivalenz ist, was Menschen auf Reisen schickt, denen man nachsagt, jemand begebe sich zu seinen Wurzeln. Ich weiß nicht, ob man das kann, Wurzeln verpflanzen, Wurzeln suchen, Wurzeln wissen. Es hat schon seinen Sinn, dass sie in der Erde vergraben liegen.

Wenn etwas schwer zu fassen ist, versucht man, das Ganze gemeinhin in Einzelteile zu zerlegen. Heimat hat, wenn man diesen Versuch unternimmt, eine räumliche, eine zeitliche, eine soziale, eine emotionale und eine kulturelle Dimension. Das wirft Fragen auf: Ist Heimat ein Haus, ein Ort, ein Land? Hat Heimat somit auch Grenzen, die wer? jemand anders? wann? gezogen hat, einfach so? Ist Heimat da, wo alle die humorvollen Feinheiten meiner Sprache verstehen, ist Heimat da, wo ein Lied das Herz zur Rührung bringt? Ist Heimat, wenn Erinnerungen das Jetzt überlagern, oder ist es da, wo die wichtigen Menschen sind, deren Lachen man einzuordnen weiß? Ist all diesen Dimensionen die Geborgenheit – die der Familie, der Freunde, der Sprache, der Gerüche, der Niederschlagsstärke, der Blätterfarbe an den Bäumen, der Witze, der Höflichkeitsfloskeln – immanent? Lässt sich diese Geborgenheit - wenn sie denn das verbindende Element sein sollte – regional begrenzen, einordnen oder definieren?

Europa als Heimat

Europa ist – ähnlich wie Heimat – ein lautes Wort. Zu meiner Kindheit war Europa ein Ort, ein Kontinent, um genau zu sein, ein Begriff, den ich auswendig lernte zwischen Australien und Nordamerika, einer, der übrigens nach weniger Einheit klang als die beiden anderen genannten, weil er so viele Länder unter seinem Namen versammelte. Zu den Ländern gehörten meines, in dem ich das Schwarz-Weiß der Birkenrinde und das Grau meines Zuhauses hinnahm und nicht als Heimat definieren musste, und all die anderen Länder, die unerreichbar schienen, und die ich mit Reichtum und – unerklärlicherweise – mit Erdbeben verband. Ich hatte offensichtlich ein sehr vages und sehr falsches Wissen über Seismologie, aber eine deutlich schmerzende Ahnung, wie sich politisch gezogene Grenzen anfühlen können.

Die geografischen Grenzen Europas haben sich seit meiner Kindheit nicht ein bisschen verschoben, aber umso mehr das, was der Begriff zu einen oder zu trennen meint. Wenn man von Europa spricht, so meint man eine weltweit agierende politische Kraft, eine, die zum Beispiel wahlweise als Partner oder Gegenakteur den USA an die Seite oder entgegen gesetzt wird. Der Graben, der meine Kindheit – und somit meinen Heimatbegriff prägte – wurde vielleicht um einige hundert Kilometer östlich verschoben, ist aber nach wie vor existent und trennt auch nach wie vor das geografische Europa. Wir sind jetzt alle Europäer, und diejenigen, die sich lieber als Deutsche, Ungarn, Polen, Italiener bezeichnen, spüren, sie müssten, aber erspüren nicht dieses Gefühl: Das Europäische. Sie müssten Europäer sein. Erspüren es nicht, weil die Verbindung zwischen Kroatien und Frankreich eine wirtschaftliche, eine politische, eine rationale, eine geschichtsbewusste und zukunftsorientierte ist, aber keine emotionale. Europa als Heimat ist für die meisten Europäer nur ein Gedanke, bis sie diese Heimat verlassen.

Große Begriffe

Fragen: Wenn Heimat ein persönliches Gefühl ist, wenn es nichts ist, was verordnet werden kann durch neue politische Konstellationen oder Grenzen, muss es dann etwas Statisches sein? Kann und darf sich Heimat nicht auch verändern? Meine hat sich verändert, so sehr, dass ich sie nicht wieder erkenne, und so wie ich sie gerade sehe, auch nicht wieder erkennen will. Muss Heimat ein Singular bleiben, darf es nicht wachsen, ein Plural werden, dürfen wir nicht Heimaten haben? Dürfen wir diese nicht selbst definieren? Das Leben, das meine Eltern gezwungen hat, mit mir und meinem Bruder auszuwandern, hat mich meiner Heimat, der simplen Geborgenheit meiner Kindheit, die keiner großer Begriffe wie Heimat bedurfte, entrissen, und jetzt weiß ich nicht, darf das Land, in dem ich lebe, in dem ich in der Sprache, die ich als meine Heimat bezeichnen würde, schreibe, schimpfe, zweifle und liebe, darf das mehr als mein Zuhause, darf das meine Heimat sein? Nicht die zweite, und nicht die neue, sondern eine, die kein Adjektiv nötig hat? Darf Heimat ein Plural sein, darf der Begriff sich dehnen? Von Dorf zu Dorf, von Bundesland zu Bundesland, von Land zu Europa, von Kontinent zu Kontinent? Dürfen wir ihn dehnen, indem wir ihn in der zeitlichen Dimension dehnen, indem wir ihn vorstellen als ein zu bemalendes Blatt: Es war mal weiß, das ist schon lang vor unserer Zeit gewesen. Nun sind da Farbkleckse drauf, Häuser gezeichnet, Strichmännchen oder Tiere. Ist das Bild ein fertiges für immer, oder können wir uns vorstellen, dass es weiter gemalt werden darf? Mit Kohle statt mit Buntstiften, mit neuen Figuren und Mustern. Darf Heimat ein Prozess sein und damit auch eine Chance, eine Zukunft?

Wie Pubertierende, die gegen alles kämpfen müssen, was das Elternhaus ihnen vorlebt, um sich selbst zu spüren, halten große Teile aller Europäer – beängstigenderweise  in zunehmenden Zahlen – an dem fest, das dem Gefühl der europäischen Heimat widerspricht: An regionalen Traditionen, nationalen Identitäten und jeder einzelnen noch real oder im Kopf existierender Grenze. Europäische Einigkeit wird immer mehr zum Schimpfwort, lange bevor sie zur Farce verkommen kann. In diesen Zeiten wird die Heimat für so viele zu einer, die gegen andere Heimaten kämpft, eine, die nicht betreten werden darf von Fremden. Meins, schreien die Menschen, als würden sie im Sandkasten sitzen und ihr Sandspielzeug verteidigen müssen. Und sie wünschen sich eine Mauer um diesen. Heimat wird zum Kampfbegriff, zu einer dunklen Stimmung, zu einer gegen andere gerichteten Kraft. Sie hat alles Kindliche, das Gefühl der Unschuld, ihre Farben verloren. Schwarz-Weiß. Grau.

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