Deutsche Kriminalliteratur
Dark Nights. Crime Novels From Germany
Gut, dass die Zeiten lange vorbei sind, in denen man den deutschen (und deutschsprachigen) Kriminalroman verteidigen musste – meistens mit der Verlegenheitsfloskel „besser als sein Ruf“.
Allerdings steckte darin durchaus ein Gran Wahrheit. Die deutschsprachige Kriminalliteratur kam nach dem kulturpolitischen Kahlschlag der Nazi-Zeit nur schwer aus den Startlöchern. Dadurch war vor allem die Rezeption der internationalen Standards lange blockiert; eine Blockade, die sich bis in die 1950er-Jahre erstreckte, weil die alten Kulturwächter immer noch im Amt waren. Erst in den späten 1960er- und 1970er-Jahren entwickelte sich, als deutsche Variante der zehn Martin-Beck-Romane von Maj Sjöwall und Per Wahlöö, so etwas wie eine deutsche Krimikultur, damals mit dem Schlagwort „Soziokrimi“ versehen, die nicht zufällig mit dem Aufkommen der Fernsehserie Tatort und ihrem DDR-Pendant Polizeiruf 110 synchronisierbar ist. Natürlich gab es Einzelgänger, die aus anderen Traditionen schrieben, Jörg Fauser und Ulf Miehe etwa. Aber es sollte bis in die 1990er-Jahre hineindauern, bis man auch international auf deutsche Kriminalliteratur aufmerksam wurde, wenngleich zunächst auf Autorinnen und Autoren, die man zu der Zeit zur kriminalliterarischen Avantgarde zählte – Pieke Biermann und Jakob Arjouni etwa.
Ab den 2000er-Jahren entdeckte der Buchmarkt den deutschen Kriminalroman erst wirklich. Ein Argument war lange, dass man mit niedrigeren Kosten auskam: Übersetzungshonorare fielen weg, und die Vorschüsse waren am Anfang – das sollte sich später ändern – vergleichsweise moderat. Zudem baute sich allmählich der Boom der sogenannten Regiokrimis auf, der neue Spieler auf dem kriminalliterarischen Feld nach vorne brachte. Verlage wie Emons erhöhten die Schlagzahl, Gmeiner etablierte sich zunehmend. Traditionsverlage wie Rowohlt oder Ullstein rückten von ihren Reihenkonzepten ab und integrierten ihre Kriminalromane in die allgemeinen (Taschenbuch)Reihen. Böse Zungen sprachen schon von „Überproduktion“, aber nachdem sich die Turbulenzen gelegt hatten und „Krimi“ – inspiriert auch durch die Markterfolge von Donna Leon und Henning Mankell – zum Geschmack des Zeitgeistes wurde, entstand ein ziemlich solides Fundament, auf dem sich das Genre zunehmend ausdifferenzieren konnte.
Tatsächlich zeigt der deutsche Kriminalroman heute das Bild eines voll ausgefalteten Segments. Er umspannt vom mehr oder weniger anspruchsvollen Bestseller mit Mord bis zu eher avantgardistischen Texten so ziemlich alle Subgenres, in denen sämtliche literarischen Niveaus von schlicht bis hochkomplex vertreten sind. Trends und Trendchen, Wellen und Dünungen sind, wie in jedem Marktsegment, auch beim deutschsprachigen Kriminalroman abgebildet; die so entstandene Diversität lässt sich mit der berühmten „Quo vadis?“-Frage nur schwerlich beantworten. „Der deutsche Kriminalroman“ ist eine Klammer, die allein durch die gemeinsame Sprache gehalten wird. Nicht einmal durch einen gemeinsamen Schauplatz oder durch spezifisch „deutsche“ Themen.
Regionalität
Wenngleich auf den ersten Blick die Regionalität eine entscheidende Rolle zu spielen scheint ... Das Marketing-Label „Regiokrimi“ überdeckt gern auch signifikante Unterschiede. Es verwischt die Grenzen zwischen eher einfältigen Produkten, die sich aus touristischem Kalkül („Wo machen die Leute Urlaub?“) eine bestimmte Landschaft in deutschen und auch zunehmend ausländischen Provinzen suchen, und sie mit oft komödiantisch daherkommenden Narrativen bestücken – wie beispielsweise mit den bayerischen Schenkelklopfer-Krimis von Rita Falk oder des Autorenduos Volker Klüpfel und Michael Kobr sowie mit den Ostfriesenkrimis von Klaus-Peter Wolf. Jörg Bong alias Jean-Luc Bannalec hat den Übertrag dieses Prinzips in die Bretagne geschafft, während andere Autor*innen zunehmend alle möglichen deutschen Urlaubsziele besetzen. Regionalität kann aber auch bedeuten, dass die Spezifik des Schauplatzes ein seriöses Thema transportiert – wie es Oliver Bottini gerade mit seinem Roman „Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens“ großartig demonstriert hat. Die Verbindung des rumänischen Banats und Mecklenburg-Vorpommerns durch die Brutalität der industriellen Agrarwirtschaft ist ein spannender Thrillerstoff, der die „Location“ braucht. Genauso wie etwa in Ute Cohens „Satans Spielfeld“ die fränkische Provinz der 1970er-Jahre mit ihren kontextuellen Gegebenheiten für ihre böse Missbrauchsgeschichte konstitutiv ist. Regio ist eben nicht immer Regio, insofern plädiere ich dafür, gegen den Generalverdacht der Trivialität stets die Einzelfallprüfung zu setzen.Geschichte
Dies gilt auch für die Welle der historischen Kriminalromane. Nachdem Volker Kutscher das ausgeschrieben hat, was Philip Kerr oder Richard Birkefeld und Göran Hachmeister bereits vor Jahrzenten angelegt hatten, gilt auch hier der alte Grundsatz „Success gives birth to the formula“. Und so tummeln sich im Fahrwasser von Kutschers Gereon-Rath-Romanen eine Menge Narrative, die sich mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Dass der Kriminalroman ein sehr passendes Medium ist, um über Geschichte abseits offizieller Lesarten nachzudenken, Verdrängtes und Vergessenes zu artikulieren, konnte man schon bei den Franzosen und Lateinamerikanern lernen. Insofern sind seriöse historische Thriller wie Robert Bracks Roman aus dem Hamburg der Weimarer Republik oder Andreas Kollenders „Kolbe“ (über einen stillen Helden des Widerstands in der Nazi-Zeit) wichtige Bausteine im Diskurs der „nationalen Selbstversicherung“.Dystopie
Auf der Zeitachse nur leicht nach vorne verschoben, darf man zumindest eine Tendenz zu dystopischen Szenarien notieren. Martin Burckhardt mit „Score“ und Tom Hillenbrand mit „Drohnenland“ hatten vorgelegt; Max Annas artikuliert sein Unbehagen an der politischen Großwetterlage in seinem neuesten Roman „Finsterwalde“, in dem der Rassismus in Deutschland gesiegt hat, während Zoë Becks „Lieferantin“ ein England nach dem Brexit skizziert, das von Klassenkämpfen und einem Schulterschluss zwischen Politik und organisiertem Verbrechen geschüttelt wird.Der Krimi ist politisch
Überhaupt wird der deutsche Kriminalroman peu à peu politischer, auf mancherlei Ebenen. Der Ariadne Verlag hat sich mit Autorinnen wie Monika Geier, Christine Lehmann oder Merle Kröger auf „feministische“ Kriminalliteratur spezialisiert, derweil der Polar-Verlag ein neues Segment „Deutscher Polar“ startet, sich also in der Tradition des französischen politischen Noirs bewegt. Und bei fast allen relevanten deutschen Verlagen gibt es Bücher, die sich direkt mit den großen politischen Themen der Zeit befassen. Bei carl´s books wäre hier Christian von Ditfurth zu nennen, Ullrich Effenhauser bei :transit, Norbert Horst bei Goldmann, Yassin Musharbash bei KiWi oder Leonhard F. Seidl bei Nautilus.Solitäre
Und natürlich dürfen wir die Solitäre nicht vergessen, die wesentlich zur Vielfalt der deutschen Produktion von Kriminalliteratur auf Niveau beitragen: Friedrich Ani, der kreative Melancholiker, Andreas Pflüger, der Actionromane auf internationalem Top-Level schreibt, der nachdenkliche Matthias Wittekindt, die stille, leise und tödlich präzise Regine Nössler oder die eher experimentellen Anne Kuhlmeyer und Uta-Maria Heim.Was man bei dieser Tour de Force auch sehen kann: Fast alle wichtigen Verlage im deutschsprachigen Raum pflegen sehr engagiert deutsche Kriminalliteratur: Das gilt für Suhrkamp, Klett-Cotta, Galiani oder Hanser/Zsolnay genauso wie für die tradierten Imprints der Random-House-Gruppe, für die Konzernverlage Ullstein, Piper oder Rowohlt gleichermaßen wie für die kleineren spezialisierten Häuser Pendragon, KBV oder Grafit. Ebenso erwähnendswert sind die nur sporadisch, dann aber mit umso spannenderen Titeln aufwartenden Verlage wie Steidl, Culturbooks oder Konkursbuch. Eine gänzlich kriminalliterarisch freie Zone zu finden dürfte schwierig sein.