Demokratie
Auf der Liste der Gefährdeten Arten
Von Michael Ignatieff
Hinterher weiß man es immer besser? Was wir aus dem Untergang der Weimarer Republik für die Gegenwart lernen können.
Während wir uns dem 90. Jahrestag des historisch am besten untersuchten Zusammenbruchs einer Demokratie in der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert nähern, ist Dank an die Geschichtswissenschaft angebracht. Wir verstehen heute besser, wie es passieren kann, dass Demokratien sterben.
Der Zusammenbruch der Weimarer Republik war nicht unvermeidlich. Die Vorstellung, dass die Demokratie dem erlag, was Isaiah Berlin einst als »vast impersonal forces« bezeichnete – dem deutschen Charakter, der deutschen Begegnung mit der Moderne, der Krise des Kapitalismus, sogar der deutschen Männlichkeit – hat der Forschung nicht standgehalten. Das Experiment Weimar scheiterte nicht aus Schicksalhaftigkeit.
Ja, Weimars Gründung war mit dem Schock der Niederlage im November 1918 verbunden. Und von Anfang an hassten die Kommunisten auf der Linken, die radikalen Konservativen auf der Rechten und Teile der Bevölkerung in der Mitte die spaltenden parlamentarischen Querelen, die für Weimar so bezeichnend waren. Sie mochten die Demokratie nicht, weil sie das war, was sie immer sein wird: ein unaufhörlicher Kampf um die Macht, geführt von Politikern, die nur selten Vertrauen und Zuversicht wecken. Da dies der endemische Zustand einer reifen Demokratie ist, ist es kein Wunder, dass eine Verfassungsordnung, die gerade erst entstand, nach Autokratie, Krieg und Niederlage darum kämpfen musste, eine Wählerschaft für sich zu gewinnen, die verfassungstreu ist.
Doch um 1928, nach fünf goldenen Jahren unter Gustav Stresemann, als die deutsche Gesellschaft ein explosives ökonomisches, kreatives, kulturelles und soziales Wachstum erlebte, hatte sie sich um die neuen Institutionen herum stabilisiert. So war der sich anschließende Zusammenbruch der Demokratie ein kontingentes, ein den Zufällen ausgesetztes politisches Ereignis, und die Ergebnisse hingen, wie immer, von den einzelnen Machthabern, ihren Entscheidungen, ihren Persönlichkeiten, ihren Stärken und Schwächen ab. Selbst als alle Mitspieler auf der Bühne standen und ihren Text sprachen, diktierte nichts das Ergebnis des Stücks: nicht ihre Torheiten, nicht der wirtschaftliche Zusammenbruch von 1929, nicht Versailles, nicht die Reparationszahlungen, nicht die Absprachen der Konservativen mit Hitler – nicht einmal Hitler selbst, so unnachgiebig, radikal rücksichtslos und genialisch er auch war. Er und Goebbels waren genauso überrascht wie alle anderen, als ihm die Kanzlerschaft übertragen wurde. Es hätte alles auch ganz anders kommen können.
»Was wäre, wenn?« Diese Frage wird immer wieder gestellt. Wenn Hindenburg nicht … Wenn Papen nicht … Wenn alle verstanden hätten, dass Hitler jedes Wort in »Mein Kampf« ernst meinte … Wenn die deutsche Linke stärker gewesen wäre … Wenn die deutsche Rechte nicht so gespalten gewesen wäre … Ja, dann wäre die Geschichte vielleicht andersausgegangen. Im Spätherbst 1932 wussten Hitler und Goebbels, dass ihre Partei an die Grenzen ihrer Mobilisierungsfähigkeit stieß. Wenn es einen anderen Parteivorsitzenden mit einer entsprechenden Zahl von Wählerstimmen und Sitzen im Reichstag gegeben hätte, der die Kanzlerschaft hätte beanspruchen können, dann hätte Hindenburg, der Hitler nicht mochte und ihm misstraute, vielleicht jemand anderen ernannt. Um es noch einmal zu sagen: Es hätte alles auch anders kommen können.
Wenn wir also heute unter dem Eindruck der prekären Lage von Demokratien in unserer Welt zurückblicken, ist Weimars Botschaft klar: Wenn wir das Schlimmste vermeiden und die Demokratie retten wollen, brauchen wir Tatkraft, Verantwortungsbewusstsein, Charakter und Zivilcourage, heute wie damals.
Politik ist wichtig. Was wir tun – wir alle, als Bürgerinnen, Journalisten, Politikerinnen –, entscheidet über die Ergebnisse. Wir sind kein passives Publikum bei diesem Stück, sondern Schauspieler, die einen Text zu sprechen und Rollen zu spielen haben. Die Politikwissenschaft kann uns sagen, wie Demokratien sterben, aber nur wir können kämpfen, um sie am Leben zu erhalten. Es gibt kein Schicksal, das darüber bestimmt, ob die Zukunft den Autoritären im Ausland oder den populistischen Betrügern im Inland gehört. Die Geschichte steht nicht auf der Seite von Putin oder Xi Jinping. Sie bevorzugt niemanden, nicht uns, nicht sie. Die Zukunft der Demokratie ist nicht gesichert, wir halten sie selbst in der Hand. Sie ist eine zerbrechliche Form der Selbstverwaltung, abhängig davon, dass viele Dinge gleichzeitig richtig laufen. Und wer sie verteidigen will, muss wissen, wann der Moment gekommen ist, eine Grenze zu ziehen und zu kämpfen.
In den Vereinigten Staaten wurde die Grenze am 6. Januar2021 mit dem Sturm auf das Kapitol überschritten. Auch in der Ukraine wurde eine Grenze gezogen: Wie unvollkommen die Demokratie dort auch sein mag, sie ist eine, und Putin hat sich vorgenommen, sie zu zerstören. Die Ukrainer sind bereit, für ihre Demokratie zu kämpfen, und der Rest von uns Demokraten hat gute Gründe, ihnen dabei zu helfen. Wir wissen, was uns der Verrat an der Demokratie anderer gekostet hat. Nach Weimar kam München.
In Gesellschaften mit langer demokratischer Tradition ist der Jahrestag von Weimars Zusammenbruch am 30. Januar 1933 eine Chance für Menschen zu verstehen, was sie dem System schulden, das ihre Freiheit ermöglicht. Demokratie ist nicht nur ein Entscheidungsverfahren: Sie ist eine Lebensweise, basierend auf einem erkenntnisbasierten Vertrauen in Fakten, auf einer Soziologie der Toleranz gegenüber Unterschieden, auf einer Kultur aktiver und engagierter Bürgerinnen und Bürger, auf einer Ökonomie des regulierten Marktes und auf einem Kardinalverbot der Anwendung von Gewalt oder Einschüchterung in der Politik. Das ist ein ziemliches Paket, und zu jedem Zeitpunkt können jeder gegebenen Demokratie einige dieser wichtigen Eigenschaften fehlen. In Krisenzeiten sind unsere Gesellschaften möglicherweise weniger offen für Fakten, weniger tolerant, weniger glücklich mit der Marktwirtschaft oder neigen stärker dazu, Streitigkeiten mit Fäusten und Waffen auszutragen, als es jedem von uns lieb ist. Demokratie ist ein instabiles Gleichgewicht, das leicht außer Kontrolle geraten kann. Es geriet im späten Weimar außer Kontrolle, und wir können es uns kaum leisten zu glauben, dass uns das nicht passieren könnte. Weimar zu verstehen kann uns helfen, unser Gleichgewicht zu halten oderwiederherzustellen, bevor wir es verlieren.
Die Geschichte der Weimarer Republik zeigt, dass eine demokratische Ordnung, die unter Druck gerät, darauf angewiesen ist, Unterstützer für die Verfassung auf beiden Seiten der politischen Lager zu haben. Gespaltene Gesellschaften – und die meisten demokratischen Gesellschaften liegen im Streit – können die Spaltung eindämmen, wenn sie von breit angelegten politischen Gruppen im gesamten Spektrum sowohl vertreten als auch eingedämmt wird. Es ist nicht die Spaltung selbst – sei es nach Klasse, Ethnie, Herkunft oder Religion –, die die Demokratie tötet, sondern das Versagen der politischen Gruppierungen, die Spaltung zu repräsentieren und einzudämmen, indem sie Unzufriedenheit kanalisieren, besänftigen oder auflösen.
Die Totengräber der Demokratie sprechen oft die Sprache der Demokratie.
Die Nationalsozialisten waren nicht nur die gewalttätigsten und bösartigsten aller Herausforderer der Macht: Sie waren auch die einfallsreichsten politischen Unternehmer, diejenigen, die besser verstanden als ihre Konkurrenten, wie man eine urbane Massenpartei organisiert und wie man Propaganda einsetzt. Und genau deshalb waren sie die Partei mit der größten Unterstützung durch die Jugend. Hitler ist ohne das allgemeine Wahlrecht und die Weimarer Verfassung, die er hasste, undenkbar. Der Faschismus ist daher eine Schöpfung der Demokratie des 20. Jahrhunderts, und die Faschisten verstanden ihre Möglichkeiten besser als die Verteidiger dieser Demokratie. Sie benutzten das demokratische Mantra, dass die Macht vom Volk ausgeht, um die Unterstützung der Bevölkerung gegen die in Ungnade gefallenen und korrupten Eliten zu mobilisieren, die das Land im Ersten Weltkrieg in die Niederlage geführt hatten. Einmal an der Macht, ließ Hitler bei jedem Schritt in die Diktatur Volksabstimmungen abhalten, um seine Tyrannei mit dem Volkswillen zu begründen. Die Totengräber der Demokratie sprechen oft die Sprache der Demokratie. Wenn die Demokratie aber starke Parteien über das gesamte Spektrum hinweg braucht, dann sollten wir uns Sorgen machen. Die Schwäche der politischen Parteien in der demokratischen Welt ist spürbar: sinkende Parteimitgliedschaften, starke Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung oder von Großspendern, Instrumentalisierung durch politische Führer. Die Weimarer Geschichte zeigt, warum Parteien wichtig sind.
Eine entscheidende Funktion starker politischer Parteien besteht darin, dass sie zusammen mit der Polizei, der Armee und den Geheimdiensten das staatliche Gewaltmonopol durchsetzen, das konstitutiv für demokratisch legitimierte Politik ist. Demokratische Politik schließt Gewalt aus, sie ist die einzig gangbare Alternative zur Gewalt. Demokratische Politik ist also keine Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln, sondern die Alternative zum Krieg. So lässt sich der politische Wettbewerb in einer Demokratie am besten als Kampf nicht zwischen Feinden, sondern zwischen Gegnern beschreiben.
Ein Gegner spielt nach denselben Regeln wie man selbst und kann morgen ein Verbündeter sein. Ein Feind ist jemand, der nach seinen eigenen Regeln kämpft und sein Gegenüber zerstören will. Ein demokratisches System, in dem die Spielregeln der Politik von dem Gedanken geleitet werden, dass Konkurrenten Feinde sind, wird Schwierigkeiten haben, Gewalt zu kontrollieren. Das 1949 von den westdeutschen Ländern ratifizierte Grundgesetz hatte die Lehren Weimars verstanden. Diese Nachkriegsverfassung, mit ihrer Verpflichtung auf Menschenrechte und Menschenwürde, trug dazu bei, aus dem demokratischen Wettbewerb jene Dämonisierung des anderen zu verbannen, die Weimar ruinierte. Das Grundgesetz geht davon aus, dass es im demokratischen Haus keine Feinde gibt, sondern nur Gegner, solange sie sich an die Verfassung halten. Natürlich ist es heilsam, dass das Grundgesetz von 1949 der Politik diese moralischen Leitplanken gab, aber es gibt keine Garantien, dass diese halten werden. »Die Demokratie ist in Gefahr« ist immer der Schlachtruf für eine autoritäre Abkehr vom Rechtsstaat.
Organisierte, uniformierte Gewalt auf beiden Seiten der Spaltung, vor allem aber auf der Rechten, hat die Weimarer Politik nicht zerstört, sondern die Extreme radikalisiert. Viele Linke kämpften auf den Straßen, so dachten sie, um die Demokratie vor den Faschisten zu retten, während die Rechte Gewalt anwandte, um den demokratischen Widerstand gegen die autoritäre Machtübernahme zu schwächen. Hitler brauchte Gewalt, um politische Stärke aufzubauen, aber am Ende brauchte er keine Gewalt, um die Macht zu ergreifen. Sie wurde ihm von einem Präsidenten übergeben, dem die Alternativen ausgegangen waren. Die Lehren für die Gegenwart lauten: Selbst wenn Gewalt sich auf die Ränder des Systems beschränkt, schafft sie eine Atmosphäre der Einschüchterung, die den freien Meinungsaustausch immer schwieriger macht. Sie entfremdet auch die vorsichtige Mitte vom System und kann sie wie in Weimar dazu bringen, autoritäre Ordnung dem demokratischen Chaos vorzuziehen.
Wir dachten, dass die Lektionen der Weimarer Republik gelernt worden seien, dass Torheiten nicht wiederholt werden würden, und wir konnten auf eine Konsolidierung der Demokratie im Nachkriegsdeutschland und in Italien zurückblicken und auch glauben, dass der Albtraum vorbei ist. Im Jahr 2023 ist dieses Vertrauen leider dahin. Wir blicken 90 Jahre zurück und fragen uns, ob wir die demokratische Freiheit wieder verlieren könnten, wie es die Deutschen 1933 getan haben.
Es gibt keine Braunhemden auf den Straßen, keine Fackelzüge, aber wir ziehen daraus einen falschen Trost: Denn Geschichte wiederholt sich nicht, es gibt viele Möglichkeiten, wie eine Demokratie stirbt. Manchmal schleicht sich der Tod auf leisen Sohlen an. Wir sehen ihn nicht, nicht einmal in Europa, bis er neben anderen Ministerpräsidenten im Europarat sitzt.
Eine Demokratie in Europa wurde über mehr als ein Jahrzehnt hinweg langsam und vorsätzlich von einem autoritären Populisten ausgehöhlt. Viktor Orbán hat fünf Wahlsiege errungen: Damit wurde einem systematischen Abbau all jener Institutionen demokratische Legitimität verliehen, die verhindern sollen, dass plebiszitäre Mehrheitsherrschaft in Tyrannei umschlägt. Amerikanische Rechtspopulisten strömen nach Budapest, um vom Meister zu lernen, und wenn Amerika behauptet, es habe die älteste und erfolgreichste Demokratie der Welt, eine, die unmöglich der autoritären Versuchung erliegen könne, sollte uns der 6. Januar 2021 zu denken geben. Nichts ist unvermeidlich. Es gibt keine schicksalhaften Ereignisse. Aber gerade weil Geschichte kontingent ist, so abhängig von Persönlichkeiten, Zufall, Tugend und Zivilcourage oder dem Mangel daran, können wir auch eine bösartige Kontingenz nicht ausschließen.
Solange wir uns den Glauben gestatten, die Lehren von Weimar seien gelernt, haben wir eine Lektion nicht erfasst, die uns demütig machen sollte. Ex post, in der wissenschaftlichen Rückschau, ist der Niedergang Weimars nachvollziehbar. Exante, während sich die Ereignisse abspielten, war den Protagonisten gar nichts klar, nicht einmal den späteren Siegern. Unser Ex-post-Wissen ist geeignet, uns zur Hybris zu verführen: Da wir wissen, wie das Schlimmste passiert ist, müssten wir auch wissen, wie wir das Schlimmste in Zukunft vermeiden können. Die am meisten beunruhigende Lehre aus der Geschichte Weimars aber ist die unverbesserliche Blindheit der entscheidenden Teilnehmer.
Der Philosoph Isaiah Berlin schrieb einmal einen wunderbaren Aufsatz mit dem Titel »The Sense of Reality«, über den Realitätssinn großer Politiker als eine der höchsten Formen menschlicher Intelligenz. Dieser Realitätssinn ließ beispielsweise Bismarck alle möglichen Züge auf dem Spielbrett der Machtpolitik verstehen, aber er gab ihm auch Feedback einen sechsten Sinn für das, was in einer bestimmten politischen Situation möglich und unmöglich war. In Weimars Schlusskrise besaß niemand, vielleicht mit Ausnahme von Hitler selbst, einen solchen Realitätssinn. Und selbst Hitler war erstaunt, dass sein kompromissloses Spiel erfolgreich war. Fast alle anderen, vor allem im rechten Spektrum der deutschen Politik, waren im Blindflug unterwegs. Ihr blinder Fleck war die Illusion, dass der Autoritarismus der Ausweg aus der demokratischen Krise sei, und die daraus abgeleitete Illusion, wenn man einen Autoritären unterstütze, könne man kontrollieren, was er tut.
Erst als Hitler 1934 begann, viele seiner rechts gerichteten Kollaborateure zu töten oder einzusperren, verstanden sie, wie blind sie gewesen waren, aber da war es zu spät. Diese Illusion – der Autoritarismus löse die Krise der Demokratie, ohne dass es zu einem offenen Faschismus komme – ist heute lebendig und wohlauf. Weimar hält viele Lektionen für uns bereit. Unsere eigene Blindheit ist die am meisten beunruhigende und relevanteste Lektion.
Die Erstpublikation des Artikels: Spiegel 48/2022. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.