Virtuelle Realität
Eintauchen und mitfühlen

Aus der interaktiven Nachrichtensendung „Mission Mars“ von ZDF und Trotzkind
Aus der interaktiven Nachrichtensendung „Mission Mars“ von ZDF und Trotzkind | Foto (Ausschnitt): © Natasha Szabo

Die Möglichkeiten von Virtueller Realität (VR) könnten den Journalismus umkrempeln. Deutsche Medien experimentieren bereits mit der neuen Technologie.

Von Astrid Herbold

Noch ist der Petersplatz in Rom menschenleer. Die aufgehende Sonne lässt nur den Petersdom in goldgelbem Licht erstrahlen. Während der Blick von rechts nach links schweift, füllen sich Platz und Säulengänge, zwei weiß gekleidete Nonnen schlendern vorbei. Die Reportage des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) erzählt ohne Hektik von einem der berühmtesten Plätze der Welt, die Macher vertrauen ganz auf die Ausstrahlung der jahrhundertealten Architektur. Nicht ohne Grund, denn der Beitrag wurde mit einer 360-Grad-Kamera aufgenommen. Wer die dazugehörige App herunterlädt und eine VR-Brille aufsetzt, kann das Video nicht nur in 3-D gucken, sondern auch den Kopf in alle Himmelsrichtungen bewegen und den entsprechenden Ausschnitt sehen.
 


Dieses Mittendrin-Gefühl ist, was Virtuelle Realität so attraktiv macht: Dank der Videos kann der Betrachter sogar  Orte oder Ereignisse sehen, die er wahrscheinlich nicht besuchen würde – steile Berghänge oder den dichten Urwald. Der intensive Klang und der überwältigende Rundum-Blick entfalten dabei eine viel stärkere emotionale Wirkung als ein klassischer Fernsehbericht. Immersiver Journalismus nennt sich das – alle Sinne umfassend. Der Zuschauer soll eintauchen und mitfühlen.

„Kein oberflächlicher Hype mehr“

Schon in den 1990er-Jahren galten die VR-Brillen, die das gesamte Gesichtsfeld bedecken, als der nächste große Trend der Spieleindustrie. Sie setzten sich dann aber doch nicht durch. Heute, mit leistungsstarken Smartphones und mobilem Internet, scheint die Zeit endlich reif. Viele deutsche Unternehmen setzen auf Virtuelle Realität, sehen interessante Anwendungsmöglichkeiten im Bereich Unterhaltung, Werbung oder Weiterbildung. Kein Zufall also, dass im September 2016 in Köln die Messe Digility stattfand, die erste Fachmesse für Virtuelle Realität mit 70 Sprechern und mehr als tausend Besuchern. „Virtuelle Realität ist kein oberflächlicher Hype mehr“, sagt Arne Ludwig, Vorsitzender des Ersten Deutschen Fachverbands für Virtual Reality, der sich 2014 gegründet hat. „Das Thema ist im Mainstream angekommen.“
 
Dass die Technik nun endlich zu den Endnutzern gelangt, hat zwei Gründe. Zum einen sind mittlerweile Videos für jeden Geschmack und jedes Interesse verfügbar. Fußballfans etwa können in 360-Grad-Filmen die Stadien ihrer Lieblingsvereine hautnah erleben. Reisebegeisterte können sich mitnehmen lassen nach Brasilien oder Indien. Der deutsch-französische Kultursender arte experimentiert ebenso mit 360-Grad-Reportagen wie die Süddeutsche Zeitung.

Komplexe Drehbücher mit Dutzenden Varianten

Doch mit dem Eintauchen allein sind die Möglichkeiten von VR keineswegs ausgeschöpft. Denn der Zuschauer kann in einem 360-Grad-Video zwar den Kopf drehen und das Live-Gefühl genießen, bleibt aber ansonsten passiv. Anders bei „echten“ VR-Formaten: Hier wird der Betrachter selbst zum Akteur. Er bewegt sich eigenständig durch virtuelle Räume und kann dort mit Personen oder Gegenständen interagieren. Nötig sind dafür sowohl eine VR-Brille als auch ein sogenannter Controller, also ein Steuerungselement, das man in der Hand hält.
 
Klingt aufwendig – und ist es auch. Nicht nur die benötigte Hardware stellt eine hohe Hürde dar. VR-Journalismus, der zugleich immersiv und interaktiv sein will, steht auch dramaturgisch vor großen Herausforderungen. Im Vorfeld müssen komplexe Drehbücher mit Dutzenden Varianten geschrieben werden. Denn jeder Eingriff des Zuschauers in die virtuelle Szenerie hat Einfluss auf den weiteren Verlauf der Erzählung.

Nachrichtensendung zu fiktiver Marslandung

Das Berliner Start-up-Unternehmen Trotzkind hat ein solches Format bereits produziert. In Zusammenarbeit mit dem ZDF entwickelte Trotzkind eine interaktive Nachrichtensendung anlässlich der (fiktiven) Marslandung im Jahr 2042. Die Zuschauer sehen zunächst ein futuristisches 3-D-Fernsehstudio, durch das ein kleines Raumschiff fliegt. Dann beginnt die vermeintliche Liveschaltung ins Cockpit. Der Betrachter wird zum Copiloten und muss am Ende sogar helfen, das Raumschiff sicher zu landen. Zehn Minuten dauert das VR-Experiment, an dem 14 Mitarbeiter mehrere Monate gefeilt haben.
 


Bislang war Mission Mars nur auf Veranstaltungen und Konferenzen zu erleben. Bis solche Formate wirklich die Medienlandschaft verändern, wird es noch Jahre, möglicherweise Jahrzehnte dauern. „Im Moment ist es für Nachrichtensender technisch noch sehr aufwendig und kaum möglich, tagesaktuell begehbare, interaktive Welten zu bauen“, erklärt Trotzkind-Gründer Sven Haeberlein. Dennoch glaubt er fest an das Potenzial von Virtueller Realität. „Die Entwicklung ist mit den 360-Grad-Videos noch lange nicht zu Ende.“

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