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Amazonien im Film
Stereotypen und Realitäten

Melicoccus bijugatus, Mamoncillo
Melicoccus bijugatus, Mamoncillo | © Erika Torres, 2019

Von Filmschaffenden zumeist als mythischer und exotischer Raum dargestellt, zeigt sich Amazonien inzwischen auf der Leinwand auch als ein Ort pluraler indigener Identitäten und als kulturell vielfältige Region – insbesondere in lokalen Produktionen.

Von Camila Gonzatto

Erforscht von Reisenden unterschiedlicher Epochen, wie den Deutschen Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Philipp von Martius oder dem Portugiesen Alexandre Rodrigues Ferreira, bevölkert Amazonien schon lange die Vorstellungswelt nicht nur der sogenannten westlichen Länder. Laut der Professorin Selda Vale da Costa, Koordinatorin des Zentrums für Visuelle Anthropologie der Bundesuniversität von Amazonas, beginnt die Konstruktion des „Konzepts Amazonien“ in Europa im 16. Jahrhundert. „Es gab eine intentionale Erfindung Amazoniens, mit Blick auf die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Metropole. Und andererseits reflektierte die Vorstellungswelt auch den Kenntnisstand über die Region ausgehend von anderen Teilen der Welt, wie Afrika oder Asien“.
 
Ähnlich verhält es sich bei der Darstellung Amazoniens im Film. „Bis in die 1970er- und 1980er-Jahre wurde Amazonien ungeachtet der Herkunft der Filmschaffenden als ein exotischer, mythischer Ort angesehen, als unbekannt, aber auch als ein Territorium des Primitiven und Monströsen. Filme über Kannibalen, Kopfjäger, Riesenameisen, mordende Schlangen waren die gängigsten Darstellungen dieses Teils des Planeten, der bisweilen zum letzten Schauplatz des Mythos erklärt wurde“, sagt da Costa.

Gustavo Soranz, Dokumentarfilmer und Film- und Fernsehproduzent, verweist auf The Lost World (Die verlorene Welt; 1925) von Harry O. Hoyt, eine Adaptation des gleichnamigen Buchs von Arthur Conan Doyle (1912), als bezeichnendes Beispiel: „Der Film vereint übliche Elemente dieser Art von Fiktionskino: Die Region ist ein exotisches und gefährliches Reiseziel für ein Team von Wissenschaftlern oder Eroberern; die Reise stellt sich als Abenteuer voller Geheimnisse und Gefahr heraus, in einer feindlichen Natur und umgeben von einer primitiven und wilden Bevölkerung. Praktisch das gleiche Schema finden wir in Anaconda unter der Regie von Luis Llosa aus dem Jahr 1997“, verdeutlicht Soranz.

Doppelt kolonisiert

„Es ist, als hätte Amazonien keine Geschichte oder würde außerhalb der Geschichte stehen. Nach wie vor ist es ein mythischer Ort, an dem wir alle Merkmale der kolonialen Vorstellungswelt vorfinden. Amazonien als Gegenstück zum Westen“, beschreibt es Soranz. Laut da Costa lässt sich diese Perspektive nicht nur im Film anderer Länder erkennen, sondern auch im brasilianischen selbst. „Das Land kennt Amazonien nicht, und noch schlimmer, es glaubt es zu kennen und produziert schiefe Bilder, die oft dem Status quo dienen. Neben der Ignoranz über Geschichte und Leben der Völker findet bei einem Teil der einheimischen  Produktionen eine Art Kolonialismus der Bilder aus ausländischen Filmen und Fernsehsendungen statt, die in der dokumentarischen und Spielfilmproduktion reproduziert werden. Damit werden wir doppelt kolonisiert, visuell und politisch“, stellt da Costa fest.

Perspektivwechsel

Infolge einer wachsenden Aufmerksamkeit gegenüber Umweltthemen seit den 1980er Jahren entstanden Filme, die sich mit Amazonien beschäftigen, aber laut Soranz weiterhin ein idyllisches Bild der Region zeigen. Costa sieht die Veränderung ebenfalls nicht aus einer ökologischen Sensibilisierung heraus entstehen, sondern aufgrund der sozialen und kulturellen Bewegungen im Zuge der Demokratisierung Brasiliens und des Wiedererstarkens des brasilianischen Films. „Im Bundesstaat Acre zum Beispiel war es nicht nur das ökologische Bewusstsein, das die Filmschaffenden aufhorchen ließ, sondern der Kampf der Kautschukzapfer wie [der 1988 von Großgrundbesitzern ermordete Aktivist und Gewerkschafter] Chico Mendes“, verdeutlicht die Professorin.
 
Für sie waren es Dokumentarfilme wie die des Briten Adrian Cowell (The Decade of Destruction) oder des Brasilianers Jorge Bodanski (Iracema, Projeto Jari) sowie die anderer Filmschaffender aus der Region, die den Versuch unternahmen, die amazonischen „Realitäten“ zu erfassen: „Realitäten im Plural, der indigenen Völker, der Flussanrainer, der Kautschukzapfer, Goldsucher, Fischer, der Babassu-Nussknackerinnen.“ Neue Perspektiven, wie sie der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiro de Castro einbringt, beginnen sich in der Filmkritik bemerkbar zu machen. „Jedoch befindet sich das alles noch auf dem Gebiet der akademischen Filmanalyse. Ich sehe nicht, dass die Gedanken Viveiro de Castros sich tatsächlich in Filmproduktion niederschlagen“, sagt Soranz.

Örtliche Produktion

In letzter Zeit haben Filmschaffende aus Manaus und Belém  Filme aus einem anderen Blickwinkel heraus hergestellt. Sérgio Andrade beispielsweise, dessen zweiter Langfilm Antes o tempo não acabava unter der Ko-Regie von  Fábio Andrade auf der Berlinale 2016 Premiere hatte und von einem jungen Tikuna handelt, der sich entschließt, nach Manaus zu gehen und damit Identitätsfragen aufwirft.
Para ter onde ir (2018), der erste Langfilm der Regisseurin Jorane Castro aus dem Bundesstaat Pará, bringt ebenfalls neue Tonlagen und Landschaften auf die Leinwand. „Der Blick scheint ein völlig anderer zu sein, als er typischerweise auf die Region geworfen wird. Ein feministischer Road Trip, wenn man so will“, sagt Soranz und fügt hinzu: „Diese Produktion befindet sich in einem Reifeprozess und dürfte die Möglichkeit stimulieren, das Verhältnis zwischen Natur und Kultur neu zu denken und damit zu einem komplexeren Blick auf Amazonien und seine Bevölkerung beizutragen.“
Auch Produktionen aus anderen lateinamerikanischen Ländern werfen andere Blicke auf Amazonien. So zum Beispiel der  kolumbianische Film Der Schamane und die Schlange (2005) von Ciro Guerra basierend auf den Tagebüchern der Forschungsreisenden Theodor Koch-Grunberg und Richard Evans Schultes. Shipibo, la película de nuestra memoria (Peru, 2011), wiederum spürt als Dokumentarfilm im Volk der Shipibo den Protagonisten des Films Shipibo, Men of the Montaña (1953), des nordamerikanischen Anthropologen Harry Tschopik Jr. nach. Unter der Regie von Fernando Valdivia, diskutiert der Film mit den Indigenen selbst über deren Identität und die kulturellen Veränderungen, denen sie in den letzten Jahrzehnten unterworfen waren.

Raum für Austausch und Vertrauen

Valdivia, der schon für andere Filme mit indigener Thematik verantwortlich zeichnete, wie La travesía de Chumpi (2012) oder Iskobakebo. Un difícil reencuentro (2014), leitet zudem die Escuela de Cine Amazónico. Diese 2014 in Pucallpa (Peru) gegründete Schule hat das Ziel, junge Städter und Indigene in audiovisueller Produktion auszubilden und darüber hinaus Amazonien vom Standpunkt der eingeborenen Bevölkerung aus zu zeigen. „Der unabhängige Film in Ländern mit derart reichen und lebendigen Kulturen wie Peru muss seine Konzepte und Prozesse dekolonisieren. Über Jahrhunderte praktizierten unsere Vorfahren alltägliche Solidarität, in Form von [traditioneller Gemeinschaftsarbeit] Ayni in den Anden oder als Minga im Wald. In der Schule des amazonischen Films versuchen wir diese Mystik wiederzubeleben, um Werke voranzubringen, in denen die unterschiedlichen Kulturen unseres Amazoniens und ihre Erzählungen Protagonisten eines Kinos werden, das wir als Repräsentativ für die Völker ansehen, divers, demokratisch und nahrhaft für die Seele“, sagt Valdivia.
 
 


In Brasilien ist seit 1986 das Projekt Vídeo nas Aldeias Impulsgeber der audiovisuellen Produktion unterschiedlicher indigener Völker. Die Filme werden nicht nur auf Festivals gezeigt, sondern auch in den Dörfern und tragen zu einem kulturellen und Ideenaustausch bei. Für André Brasil, der an der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation der Bundesuniversität von Minas Gerais lehrt, sind solche Projekte Teil eines Filmschaffens, das im Bild einen Raum der Beziehung, des Austauschs, des Konflikts und der Gemeinsamkeiten sieht, im Gegensatz zu einer westlichen Tradition, die das Bild oft als „Einfangen“ und Wissenserwerb über den Anderen verstehe, ausgehend von einer Abgrenzung des Subjekts von seinen Objekten. „Wichtig ist, wie jeder Film sich am Prozess der Selbstzuschreibung und Selbstbestimmung jedes Volks beteiligt, nicht nur als Dokumentation oder Inszenierung, sondern durch die Beteiligung an ihm“, erläutert Brasil. Insofern können diese relativ jungen Filme als Mittel einer „Erweiterung recht reduzierter Vorstellungswelten über die Vielfalt der indigenen Völker“ gesehen werden.
 

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