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Zeitalter des Menschen
Leben wir im Kapitalozän?

Ripipteryx limbata, Saltamontes
Ripipteryx limbata, Saltamontes | © Erika Torres, 2019

Das Konzept des Anthropozäns stellt den Einfluss des Menschen auf das Erdsystem heraus und benennt den Menschen als Ursache der globalen Umweltprobleme. In Lateinamerika scheint es jedoch an Grenzen zu stoßen, da es die zentrale Rolle von Machtbeziehungen und sozialen Ungleichheiten nicht berücksichtigt. Aber ist das Alternativkonzept des Kapitalozäns dem des Anthropozäns tatsächlich überlegen?

Von Astrid Ulloa

Die aktuellen Debatten über das sogenannte Anthropozän betonen die zentrale Rolle des Menschen bei der historischen Veränderung der Biophysik unseres Planeten und in der globalen Umweltkrise, wodurch er eine neue geologische Epoche einleitet. Über den Anfang dieses Zeitalters wird noch gestritten: Begann es mit der Existenz des Menschen, mit der Eroberung Amerikas ab dem 15. Jahrhundert, mit der Industrialisierung im 19. oder erst Mitte des 20. Jahrhunderts?
 
Allein der Begriff Anthropozän hat weltweit Diskussionen um die Umweltprobleme ausgelöst. Im Ergebnis fand eine Neuorientierung in den Geistes- und Sozialwissenschaften statt, konzeptuelle, methodologische und politische Grundlagen wurden neu formuliert: Die Natur ist nun Teil der Geschichts- und Gesellschaftsanalysen. Diese Neuorientierung ermöglicht eine direkte Einflussnahme des akademischen Wissens auf die Bereiche, in denen globale, nationale und lokale Entscheidungen im Zusammenhang mit den aktuellen Umweltproblemen und den sich daraus ergebenden sozioökologischen Konflikten getroffen werden. Diese Konflikte hängen ihrerseits mit dem Klimawandel, dem Verlust der Biodiversität und der Ressourcenausbeutung zusammen, als direkte Folgen des kapitalistischen Konsums.
 
In Lateinamerika verläuft die Debatte über das Anthropozän nicht so wie in Europa oder den Vereinigten Staaten. Das lässt sich zum Teil damit erklären, dass der Begriff Anthropozän auf globale Probleme ausgerichtet ist, die globale Antworten erfordern – ohne Rücksicht auf lokale Vorgänge wie die Enteignung von Land oder die Zerstörung der natürlichen Umgebung. Tatsächlich könnten mit dem Begriff Anthropozän die Machtbeziehungen und der spezifische Charakter der sozialen Ungleichheiten und Umweltveränderungen in Lateinamerika unberücksichtigt bleiben. Außerdem berücksichtigt das Narrativ des Anthropozäns oft keine anderen kulturellen Perspektiven oder Wissenssysteme. Diese anderen Systeme und Perspektiven beruhen auf den vielfältigen Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen in bestimmten geschichtlichen Zusammenhängen. In Lateinamerika muss die Analyse der Ressourcenausbeutung von der Kolonialzeit bis ins 21. Jahrhundert als Ursache der sozioökologischen Ungleichheiten mit herangezogen werden. Denn solcherlei Vorgänge folgen einer besonderen Wirtschaftsdynamik, der Logik des Kapitalismus nämlich, die globale und lokale Veränderungen verursacht hat.

Kapitalozän oder Anthropozän?

Es muss daher über die Bedeutung von Kapitalozän und Anthropozän debattiert werden. „Kapitalozän“ ist eine kritische Reaktion auf „Anthropozän“ in der Erwägung, dass menschliches Handeln immer von politischen und wirtschaftlichen Machtbeziehungen sowie Ungleichheiten vor dem Hintergrund des globalen Kapitalismus beeinflusst ist. Deshalb stellt der Begriff Kapitalozän heraus, dass nicht allein unmittelbares menschliches Handeln, sondern auch die ökonomisch-kapitalistische Bewertung der Aneignung von Natur und Land Ursache der Umweltveränderungen ist.
 
Allerdings wird das Konzept des Anthropozäns auch in Lateinamerika unterschiedlich ausgelegt. Manche sind der Ansicht, dass damit die Auswirkungen von Entwicklung und Kapitalismus kritisch diagnostiziert werden können. Andere sehen es als politische Gelegenheit, die sozialen Beziehungen zu überdenken, um neue Beziehungen mit der Umwelt aufzubauen. Insbesondere das Manifest Antropoceno en Chile. Hacia un nuevo pacto de convivencia (wörtlich: „Anthropozän in Chile. Hin zu einem neuen Pakt des Zusammenlebens“), das Akademikerinnen und Aktivisten aus Chile und anderen Teilen der Welt 2018 unterzeichneten, unterbreitet kritische Vorschläge, die gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Zusammenhänge mit dem Ziel einer neuen Verfassung für den Planeten zu überdenken. Diese beinhaltet einen „Pakt des Zusammenlebens“, der auf verschiedenen Prinzipien beruht. Es ist ein Vorschlag, im Zusammenleben die Existenz aller Arten und ihre Vielfalt anzuerkennen, ihre Lebens-, Denk- und Verhaltensweisen in einer bestimmten, lokalisierten Umgebung. Außerdem ist es ein Aufruf, durch die Neuorganisation des gemeinschaftlichen Lebens, der Gemeingüter und öffentlichen Politiken neue Seins- und Zukunftsmöglichkeiten zu schaffen. Grundlage sind sozial-ökologische, transdisziplinäre Gerechtigkeit, Bildung, Kunst und Spiritualität. Das Manifest möchte die sozial-ökologischen Konflikte überwinden und eine andere Welt schaffen.
 
Die Debatten sowohl um das Anthropozän als auch um das Kapitalozän bieten die politische Gelegenheit, die Beziehung Mensch-Natur zu überdenken. Sie bieten auch die Möglichkeit, Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Kulturen und Perspektiven zusammenzurufen, um an der Schaffung neuer Begriffe und Praktiken in Bezug auf die Natur, den Staat, die Rechte der Menschen und Nicht-Menschen mitzuwirken. Außerdem schaffen sie Raum für Vorschläge, Land, Umwelt und Kultur so umzugestalten, dass zur Ressourcenausbeutung mit ihren Auswirkungen auf globale und lokale Territorien Alternativen entstehen, die die Natur-Kultur-Beziehungen erneuern und einen grundlegenden Wandel in den bestehenden Mensch-Natur-Beziehungen einleiten.
 
Nun machen Debatten wie die erwähnten sowohl individuelle als auch kollektive Optionen erforderlich, um den Kapitalismus zu überdenken und auch die philosophischen Prinzipien des Umgebungsbezugs wieder aufzugreifen, wie sie zum Beispiel indigene Völker und Gesellschaften vertreten: Beziehungen, die nicht darauf beruhen, sich die Natur nach ökonomischer Manier anzueignen.
 
Was Anthropozän und Kapitalozän betrifft, ist es aus einer lateinamerikanischen Perspektive notwendig zu untersuchen, wie sich beide Modelle auf territoriale, ökologische, kulturelle und Geschlechterfragen auswirken sowie auf die Art und Weise, wie Wissen produziert wird, das auf globale Politik Einfluss nimmt. Das bedeutet, die Kategorie „Natur“ und die Art und Weise der Wissensproduktion ebenso wie die Machtbeziehungen, die die Beziehung zwischen Menschen und Nicht-Menschen beeinflussen, zu überdenken und zu dekolonisieren, um Ökologie aus einer vielfältigen Perspektive zu betrachten.
 

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