Um eine europäische Öffentlichkeit zu erreichen, müssen zuerst einige fundamentale Makel der jetzigen Union korrigiert werden, die im demokratietheoretischen Sinne einfach nicht vertretbar sind.
Liebe Kirsti Methi,
haben Sie herzlichen Dank für Ihren Brief. Über Ihre Überlegungen zur europäischen Zukunft freue ich mich sehr. Schließlich ist meine Utopie kein starres Gebilde und kann nur gemeinsam, als etwas Relationales, Prozessuales und Transitives, Ideen und ganzheitliche Lösungsansätze entwickeln, die Europa zu einem demokratischen Gemeinwesen machen, zu einer res publica. Was eine englische Übersetzung meines Buches betrifft, so muss ich Sie leider auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten. Unsere Nachbar*innen aus der polnischen Rzeczpospolita werden die ersten sein, die mein Buch im neuen Jahr in ihrer Sprache lesen können.
Doch lassen Sie uns vorab auf diesem Wege Europa politisch denken und Ihre Fragen nach den Bedingungen für unser Gedankenexperiment – und das nicht nur vielleicht, sondern sogar in Form einer europäischen Republik – nachgehen.
In welchem Europa wollen wir in Zukunft leben – in einem Europa, das die Interessen seiner Bürger*innen oder die seiner Nationalstaaten vertritt? Im momentanen EU-Gefüge aus Parlament, Rat und Kommission erleben wir einen ständigen Interessenskonflikt zwischen nationalem und europäischem Gemeinwohl. So sitzen im Rat die jeweiligen Vertreter der Nationalstaaten, die oft anhand einer Nullsummenrechnung ihre respektiven nationalen Interessen durchzusetzen versuchen. Dabei ist nationales Interesse oft ungleich Bürgerinteresse wie die kürzlich verabschiedete Roaming-Verordnung exemplarisch verdeutlicht. So verzögerte der Rat absichtlich diese Verordnung, die den europäischen Bürger*innen zugute kommt.
So war sich schon Jean Monnet bewusst: „Die sogenannten nationalen Interessen sind einzig die Interessen der nationalstaatlichen Politik- und Wirtschaftseliten, in deren Bilanzen die Interessen der Bürger nur Abschreibungsmasse sind.“
Um eine europäische Öffentlichkeit zu erreichen, müssen zuerst einige fundamentale Makel der jetzigen Union korrigiert werden, die im demokratietheoretischen Sinne einfach nicht vertretbar sind. Das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit für alle europäischen Bürger*innen, also one person, one vote, gehört zu solchen demokratischen Grundprinzipien und muss unbedingt im Vorfeld der Europäischen Parlamentswahlen 2019 in den Fokus gerückt werden.
Ich finde, Ihren Ansatz, die Arbeit des Europaparlamentes durch die Einbindung nationaler Parlamentarier greifbarer zu gestalten, durchaus interessant. Auch der in diesem Kontext geforderte Austausch der scheidenden britischen Repräsentanten durch europäische Parlamentarier, die über unionsweit aufgestellte Listen Einzug in das Parlament erhalten, ist begrüßenswert und wird in der „Brüsseler“ Öffentlichkeit bereits rege diskutiert.
Vielleicht kann man dem Brexit so zumindest eine positive Sache abgewinnen, nämlich dass Debatten, die leider in der Versenkung verschwunden waren, nun wieder diskutiert werden. Haben Sie schon von der britischen Initiative #StillEU gehört, die gewillten Briten durch die Entkopplung der Unions- von der nationalen Staatsbürgerschaft den Erhalt ihrer Unionsprivilegien ermöglichen will?
Ich freue mich auf Ihre Antwort und verbleibe
Mit den besten Grüßen nach Oslo
Ulrike