Was wird aus Europa?2
Liebe Ulrike!

Kirsti og Ulrike
Foto: ©privat/D. Butzmann

Sie stellen eine sehr zentrale Frage: Soll ein politisch vereintes Europa die Interessen der Bürger vertreten oder die seiner Nationalstaaten?
 

Liebe Ulrike Guérot!

Besten Dank für Ihren Brief. Sie stellen eine sehr zentrale Frage: Soll ein politisch vereintes Europa die Interessen der Bürger vertreten oder die seiner Nationalstaaten?

Doch zuerst wünsche ich Ihnen alles Gute zum neuen Jahr! Außerdem möchte ich Ihnen angesichts des tragischen Anschlags auf den Weihnachtsmarkt in Berlin kurz vor Weihnachten mein tiefes Mitgefühl ausdrücken.
 
Zunehmende Angst gehört zu den Symptomen, die darauf hindeuten, dass sich auch 2017 zu einem sehr herausfordernden Jahr für Europa entwickeln wird. Angst wird nicht nur das politische Gespräch über die Zukunft der Europäischen Union beeinflussen, sondern darüber hinaus auch das demokratische Klima verändern. In mehreren europäischen Ländern wie in Frankreich und auch in Ihrem Heimatland Deutschland finden Wahlen statt, und die Wahrscheinlich­keit ist hoch, dass sich eine steigende Zahl von Wählern dem Nationalismus zuwendet.
 
Die Frage, die Sie stellen, berührt grundlegende Aspekte unseres Verständnisses von Demokratie. Dass die Bürger, also die Bevölkerung, das Fundament einer Demokratie ausmachen, dürfte unstrittig sein. Diskutiert werden sollte jedoch, in welcher Weise die Repräsentation der Bürger ausgestaltet und verwaltet werden soll. Europäische Demokratien inklusive der EU funktionieren heutzutage so, dass Repräsentation primär über geografische und demografische Kriterien definiert wird, wobei die Nationalität der entscheidende Faktor ist. Wenn selbst die Wahl zum Europäischen Parlament (EP) praktisch im Rahmen des Nationalstaates vonstattengeht, versteht es sich von selbst, dass die europäische Demokratie schlechte Lebensbedingungen hat.
 
Falls die Initiative #StillEU, die darauf abzielt, den Briten eine Art individuelle, assoziierte Mitgliedschaft in der EU einzuräumen, Erfolg hat, wird dies eine radikale Änderung sowohl der EU als Institution als auch der europäischen Demokratie nach sich ziehen. Der Vorschlag sieht vor, dass die Bürger selbst und nicht die Zugehörigkeit zu einem Mitgliedsstaat das Kriterium für Bürgerrechte in der EU sind. Sollte die Unionszugehörigkeit von nationaler Staatsbürgerschaft entkoppelt werden, wäre eine Schluss-folgerung wohl auch, dass Bürger der EFTA-Staaten, die dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) angehören, Wahlrecht in der EU beanspruchen können? Das hört sich für uns norwegische Europäer himmlisch an, doch die Idee einer individuellen Mitgliedschaft in der EU lässt sich mit dem derzeit gültigen EU-Grundlagenvertrag nicht vereinbaren, denn die EU ist ein Verbund von Mitgliedsstaaten, nicht von Individuen.
 
Die Idee einer politischen europäischen Gemeinschaft ist nach und nach von verschiedenen Interessen und Machtspielen der Nationalstaaten untergraben worden. #StillEU ist ein interessanter Beitrag zur Diskussion von Unionsbürgerschaft und Repräsentation der Europäer. Ein eher  realistischer erster Schritt, um die Interessen der Bürger zu wahren und damit die demokratische Legitimation der EU zu stärken, wäre möglicher-weise, den Unionsbürgern die Wahl der Kandidaten des Europäischen Parlaments unabhängig von der Nationalität zu gestatten? Mit anderen Worten: aus der Europäischen Union einen einzigen Wahlkreis zu machen. Das wäre ein signifikanter Beitrag zur Stärkung der europäischen Demokratie.
 
Ich freue mich, von Ihnen zu hören!

Mit den besten Grüßen
Kirsti