Zuvor muss es der EU gelingen, ein echtes Gefühl europäischer Gemeinschaft zu erzeugen – eine europäische Öffentlichkeit, eine europäische Demokratie und schließlich eine europäische Kultur.
Und in der Tat - das sechzigjährige Jubiläum der Römischen Verträge gibt uns allen die Möglichkeit, über die EU nachzudenken, über ihre Bedeutung während dieser Jahrzehnte und über den zukünftig einzuschlagenden Weg. Hier in Oslo haben sich am 25. März mehrere hundert Menschen vor dem Parlament versammelt, um die EU und ihren Einsatz für Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand in Europa zu würdigen.
Zehn Jahre mit gewaltigen ökonomischen und politischen Heraus-forderungen, mit dem Höhepunkt des Brexit-Referendums vor knapp einem Jahr, erfordern eine fundamentale Selbstreflexion in der Union. Die Dringlichkeit, die Ziele und die Handlungsweisen der EU neu zu diskutieren, war nie größer. Es ist ermutigend, dass spontane Graswurzelinitiativen ein Bekenntnis zu Europa kommunizieren und damit die EU aus der Mitte der Bevölkerung Anerkennung erhält. Ähnliches gilt für den neugewählten französischen Präsidenten, der die Europäische Union kristallklar verteidigt und gleichzeitig Reformen anmahnt.
Was nun diskutieren wir, wenn wir uns eine reformierte EU wünschen? Als Bewohnerin eines Landes mit einer tief verwurzelten EU-Skepsis frage ich mich inzwischen, ob es nicht eine Sackgasse ist, eine Fragestellung wie „mehr oder weniger EU?“ – oder auch „EU-Mitgliedschaft oder nicht?“ – an den Anfang der Debatte zu stellen.
Solche Diskussionen werden gerne von polarisierenden Standpunkten dominiert, die um „Brüssel“ als Symbol der zentralisierten und zum Teil bürokratisierten Macht des EU-Systems kreisen. Für viele ist „Brüssel“ entweder undemokratisch oder ein Ausdruck von Ohnmacht. Daraus entwickeln sich bestenfalls Debatten für speziell Interessierte – für Menschen, die der Brüsseler Blase oder der akademischen Welt angehören und bereits starke Meinungen zur EU vertreten, seien es positive oder negative.
Sollte eine Prämisse für die EU-Debatte sein, dass der Nationalstaat für überholt erklärt wird, wird dies – auch wenn ich mir es nicht wünschen würde –, den Widerspruch und die Polarisierung weiter forcieren. Der Nationalstaat ist nicht nur eine politische Einheit, sondern schafft auch Identität und das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Sicherheit. Es wird vermutlich noch einige Generationen dauern, bis die Völker Europas in der Lage sind, auf den Nationalstaat zu verzichten. Zuvor muss es der EU gelingen, ein echtes Gefühl europäischer Gemeinschaft zu erzeugen – eine europäische Öffentlichkeit, eine europäische Demokratie und schließlich eine europäische Kultur.
Die Bürger müssen zu Gesprächen darüber bewegt werden, worüber und wie wir in Europa zusammenarbeiten wollen. Denn ein zentraler Punkt der EU-Debatte sollte wohl eine eindringliche, organisierte und auch verpflichtende Zusammenarbeit sein, die eine politische Integration nach sich zieht?
Mit einem solchen Ausgangspunkt wäre die Debatte demokratischer, inkludierender, informativer – und am Ende hoffentlich auch konstruktiver. Dieser Prozess hätte vielleicht genau das zur Folge, worauf Sie hinweisen: ein Verständnis darüber, dass der Nationalstaat im 21. Jahrhundert politisch und rechtlich ein unzureichendes Instrument in der globalisierten Welt darstellt.
Wenn die Bevölkerungsmehrheit ein Engagement für die EU verweigert, ist dies ein demokratisches Problem per se, denn wir müssen dann Grund zu der Annahme haben, dass zu vielen Bürgern entweder das Interesse oder die Einsicht fehlt, substantielle Wahlentscheidungen zu treffen. In den letzten zehn bis zwölf Jahren haben wir bereits erleben müssen, dass immer mehr EU-Länder Volksabstimmungen über Teile ihrer EU-Kooperation und nun sogar über ihren Austritt abhalten.
Sie haben vollkommen recht, wenn Sie fragen, ob wir die Visionen der EU- Wegbereiter vergessen haben. Sie hatten nicht nur radikale Ziele, sondern waren auch überaus mutig. Sie ersannen nicht nur kühne Konzepte zur Vereinigung Europas, sondern nahmen auch persönliche Opfer auf sich. Woher nahmen diese Politiker ihre Unerschrockenheit?
Gespeist wurde sie nicht zuletzt von ihrer politischen Basis, mehreren Generationen von Europäern, die einen oder zwei Kriege erlebt hatten. Deren kollektiver Wunsch war es, Frieden, Vertrauen und Wohlstand unter den europäischen Völkern zu schaffen. Über welche Gemeinsamkeiten verfügen die Generationen im heutigen Europa; was kann als kleinstes gemeinsames Vielfaches ein neues politisches Solidaritätsprojekt entfachen?
Sollte die politische Klasse die Notwendigkeit der Diskussionsteilnahme von so vielen Bürgern wie möglich nicht erkennen, so fürchte ich, wird dies der Anfang vom Ende der EU sein, wie wir sie heute kennen. Deshalb ist es auch so wichtig, back to basics zu gehen, wie Sie festhalten. Nur dann kann die EU das werden, was sie immer sein sollte: eine ständig nachdrücklichere politische Gemeinschaft.
Prinzipiell handelt es sich um eine Wertedebatte darüber, welche Gesellschaft, Gemeinschaft und Demokratie die EU sein soll. Eine Diskussion über Strukturen sollten wir vermeiden. Mit einem wertebasierten Ausgangspunkt öffnen wir das poltische Gespräch; „alle“ sind betroffen und können sich engagieren, nicht nur die sogenannte Elite.
Mit der Hoffnung auf einen politisch blühenden Frühling in Europa und den besten Grüßen
Kirsti